MIA > Deutsch > Marxisten > Max Adler > Kausalität u. Teleologie
Aus zwei scheinbar ganz entgegengesetzt abfliessenden Quellen nimmt der Strom seinen Ursprung, der mit immer grösserer Gewalt das gesamte Gebiet menschlicher Betätigung und Schicksale losreisst von dem Traumlande gänzlich regellos freien Eigenwirkens oder mächtiger Eingriffe unerforschlicher Uebermächte und es zuführt dem weiten, nur an den Grenzen oft unbestimmt scheinenden Reiche des Gesetzes und der übersehbaren Ordnung. Diese zwei Quellen sind der Materialismus und der Deismus des 17. und 18. Jahrhunderts, letzterer in seinen verschiedenen Gestaltungen verstanden, vom dogmengläubigen Katholizismus angefangen bis zur Auflösung des Begriffes von Gott in einen reinen Vernunftbegriff, in welchem die Gottheit überhaupt nur mehr die Vorstellung einer persönlichen, das heisst vernünftigen Gesetzgebung der Welt im Gegensatze zu der blinden Notwendigkeit des Naturmechanismus bedeutet Dabei ist die deistische Richtung in der Ausbildung des Gesetzesbegriffes auch für das geistig-soziale Leben sogar konsequenter gewesen wie der französische Materialismus und seine barocke deutsche Fortsetzung. Letzterer hat zwar in radikalster Weise das Vorurteil zu brechen gewusst, als ob die Vorgänge im Seelenleben des Menschen mitsamt den davon abhängigen Wirkungen auf ihre Umgebung von der Sphäre des Naturgesetzes ausgenommen wären, indem er schlankweg aus den seelischen Phänomenen Wirkungen materieller, physischer Prozesse machte. „Der Mensch eine Maschine“ – ja eigentlich, wie dies vor ihm Descartes schon von den Tieren sagte, denen er unbehelligt von der Inquisition die Seele absprechen konnte – der Mensch ein Automat, in welchem das blinde Zusammenspiel mechanischer und chemischer Kräfte die allerdings höchst grossartige, aber fast ebenso seltsame, weil zuletzt eigentlich überflüssige Wirkung eines bewussten Seelenlebens hervorbrachte – das war immerhin doch ein Standpunkt, der mit einem Male eine Wissenschaft auch vom geistigen Menschen möglich zu machen schien, deren Exaktheit ja heute noch ein Lieblingstraum unverbesserlich physiologisch desorientierter Psychologen ist. [1] Aber die Inkonsequenz war, dass der Materialismus über seinen Einzelmenschen gar nicht hinaus zu schreiten gedachte. Zwar schien seine Lehre dahin zu drängen, da sie ja so richtig den geschichtlichen Menschen als Produkt derjenigen Verhältnisse und Institutionen auffasste, unter denen er sein Leben entwickeln musste, und damit den theoretischen Grund legte, von dem aus sie dann ihren so gefürchteten Relativismus gegen alle „ewigen“ Wahrheiten des Rechtes, der Moral, der Religion u. s. w. mit treffsicherer Kritik spielen lassen konnte. Aber so glücklich die Materialisten waren, in allen diesen sozialen Ideen und Einrichtungen die Veränderlichkeit ihres Inhaltes und den innigen Bezug der Jeweiligen historischen Gestaltung desselben zu den äusseren Umständen des Raumes und der Zeit, darinnen sie emporgekommen waren, darzustellen, so waren sie doch unvermögend, sich eine klare Anschauung davon zu bilden, woher diese sozialen Formen selbst ihren Ursprung genommen und die Fähigkeit erhalten hätten, den wechselnden geschichtlichen Inhalt zu erfassen und ihrer Eigenart gemäss zu gestalten. Hier trat ein uralter Widerspruch des Materialismus schroff zutage: die Spontaneität des menschlichen Geistes, die zweckbewusste Vernunft des menschlichen Willens war seltsamerweise schon von so strengen Materialisten wie einem Epikur und Lucretius Carus unangetastet geblieben [2], ja ausdrücklich eingeräumt worden; an diesem festesten Fels des menschlichen Wesens, der überhaupt durch die Abstraktionen des wissenschaftlichen Denkens nicht erschüttert, sondern mit seinen Denkmitteln nur gangbar gemacht werden kann, so dass er fernerhin der Wissenschaft keine Hindernisse bereite, brach sich auch fast jählings die vorstürmende Wucht des französischen Materialismus. Um die Existenz der sozialen Formen selbst zu begreifen, die überall auf diese Spontaneität zurückführten, wurde zuletzt dasselbe Einzelwesen, das eben noch als blosses Naturprodukt gegolten hatte, doch wieder als souveräner Schöpfer eingesetzt, indem die französischen Materialisten Gesetz und Rechte Moral und Religion, Herrschaft, Ordnung und Knechtschaft als Resultat ebensovieler Grosstaten der menschlichen Vernunft entweder bewunderten oder, wenn diese Ideen und Einrichtungen ihnen verzerrt vorkamen, sei es durch Uebermacht, Leidenschaft, Unvernunft und dergleichen, darin nur Verirrungen des menschlichen Verstandes beklagten. Sie konnten aber das eigentliche Wesen dieser sozialen Mächte nicht erfassen, weil ihre „metaphysische Borniertheit“, die Friedrich Engels besonders anschaulich gemacht hat, sie völlig in die Welt des Zähl-, Wäg- und Messbaren und damit in die Kategorien der formalen Logik eingeengt hatte, so dass sie nicht nur übersahen, was draussen, wenn auch nicht handgreiflich, so doch in fühlbarster Realität sich entfaltete: die Beziehung der Menschen aufeinander im sozialen Leben, sondern noch weniger sich einen Begriff machen konnten von dem eigenartigen Kausalverhältnisse, das durch die dialektische Natur des nur im sozialen Verbande sich behauptenden Menschen zwischen ihm und seiner Umgebung gestiftet ist. Schon 1845 hatte Marx diesen bloss „anschauenden“ Materialismus – so genannt im Gegensatz zu seinem eigenen, später von Engels als dialektischen bezeichneten, weil bei ersterem „der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird, nicht aber als menschliche, sinnliche Tätigkeit, Praxis“ [3] – als mangelhaft aufgewiesen und gerade sein charakteristisches Unvermögen betont, die Aenderung der Menschen durch ihre Umgebung und dieser durch die Menschen in einem einheitlichen Gedanken zu durchdringen. „Das Zusammenfallen des Aenderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ [4] Die Verkennung dieser tiefen Wahrheit, die freilich erst die Entwicklung des dialektischen Denkens immer mehr erschliessen konnte, musste die französischen Materialisten in jenem verderblichen Zirkel festhalten, den G. Plechanow in seinen Beiträgen zur Geschichte des Materialismus so klar aus den Schriften zweier der bedeutendsten von ihnen dargelegt hat, in welchem wir sie fortwährend die Meinungen, Ideen und Einrichtungen der Menschen aus ihren realen Lebensverhältnissen und Bedürfnissen ableiten, diese letzteren aber wieder durch die Anschauungen, Einsichten und, sei es frei vereinbarter, sei es aufgezwungener Gesetze der Mächtigen bestimmen sehen. Und so ist es auch kein Wunder, dass der hier so unsicher schreitende Materialismus seinen inneren Widerspruch zuletzt auch deutlich, wiewohl sich selbst dessen kaum bewusst, zum Ausdruck bringen musste, indem der Relativismus seiner historisch-sozialen Kritik in eine Verherrlichung des Rechtes aus blosser Vernunft ausmündete, welch letztere es seiner Meinung nach nur zu entwickeln galt, um endlich den Lastern und Irrtümern des bisherigen Geschichtsverlaufes zu entrinnen. An die Stelle des historisch-sozialen Determinismus, von dem er ausgegangen war, setzte so der französische Materialismus einen fast naiven Pragmatismus der Geschichte, und an die Stelle einer wissenschaftlichen Einsicht in die Gesetzmässigkeit der sozialen Entwicklung das philosophisch verbrämte Programm seiner politischen Forderungen.
So hat also der Materialismus ausser einer materialistischen Psychologie, die eigentlich Metaphysik war und heute gänzlich von Physiologie abgelöst ist, und einigen Ansätzen zur Ausbildung fiines historischen Determinismus, die er aber, wie wir sahen, selbst wieder gründlich fallen liess, zur Entwicklung der Geisteswissenschaften wohl kaum einen in ihrer systematischen Ausführung bleibend verwerteten Beitrag geleistet Aber seine eigentliche und ganz unschätzbare Bedeutung liegt darin, dass er durch die Kühnheit seines metaphysischen Standpunktes, durch die Vehemenz der aus ihm entwickelten Folgerungen, vor allem aber durch die Einfachheit und scheinbare Selbstverständlichkeit seiner Lehre, die in der Abstreifung aller kritischen Skrupel und tieferen Untersuchung eine grosse Klarheit ihres Vortrages gewinnen konnte, zur mächtigsten Waffe wurde, den Wunderglauben zu zerstören, die Isolierung und Sublimierung des menschlichen Wesens gegenüber der Natur lächerlich zu machen und mit alledem eine solche geistige Verfassung der Köpfe zu bewirken, die von vornherein geeignet war, der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf dem Gebiete des Geisteslebens äusserst entgegenzukommen.
Man wird vielleicht meinen, dass diese Anknüpfung der Disposition für eine naturwissenschaftliche Behandlung der Geisteswissenschaften an den Materialismus des 18. Jahrhunderts voreilig, weil unhistorisch, geschehen sei. Denn diese ganze blendende Epoche der französischen Philosophie ist ja erstens ein Resultat der durch die naturwissenschaftlichen Grosstaten des 17. Jahrhunderts ausgebildeten exakten Denkrichtung, und zweitens fällt ihre Blütezeit ja schon mit den ersten Systemen der Geschichtsphilosophie zusammen, an deren Arbeit ja die modernen Geisteswissenschaften bewusst anknüpfen.
Nun ist gewiss kein Zweifel, dass die buchstäblich die Welt umstürzende Auffassung eines Kopernikus auch die Bedeutung des Menschen und seines Lebens in einem anderen Lichte erscheinen lassen musste, sobald die Erde nicht mehr jenes Gestirn im Mittelpunkt der Welt war, um das sich alles übrige drehte. Und wenn Cartesius in der so umgeschaffenen, veränderten Weltlage zum erstenmal in grossen Zügen die Idee einer mechanischen Weltordnung entwirft, Kepler die ersten Grandzüge dieser Ordnung aufdeckt, indem er dem Irrgang der Planeten seine feste Bahn nachweist; wenn Galilei dann dem tastenden Denken auf die Spur hilft, im eigenen konstruktiven Schaffen, im vorbedachten Experiment sich einen immer grösseren Ausschnitt aus dieser mechanischen Weltordnung zu sichern, endlich Newton himmelweite Fernen durch das erdbekannte Gefühl der Schwere in eins verbindet und mit dem, was uns hier so darniederdrückt, die Gesetze erkennt, die den Himmel regieren – war das nicht eigentlich der Quell, aus dem auch notwendig der Gedanke entspringen musste, dass also auch der Menschen Lust und Leid, ihr Denken, Fühlen und Wollen seine festen Schranken im Gesetz haben müsse?
Es wäre vielleicht logisch gewesen. Aber – die Logik ist kein Gesetz der geschichtlichen Entwicklung, ja nicht einmal des wirklichen Gedankenverlaufes selbst. Sonst müssten wir aller Wege schon weiter sein, als wir uns heute befinden. Gerade Descartes hat trotz seiner Naturauffassung und methodischen Einsicht in das Wesen der Wissenschaft, durch welch beides er direkt an den Anfang des modernen Denkens zu setzen ist, doch auch die andere Richtung initiiert, welche das Geistesleben und damit auch den geschichtlichen Prozess in besonderer Bedeutung prinzipiell aus dem Reiche der Kausalität ausschaltete. Der Mann, in dessen Werken wir den folgenden Satz lesen, der bis heute immer mehr das Programm der Naturwissenschaft wurde: „Das Wesen dieser ganzen Welt ist viel leichter zu verstehen, wenn man sie in ihrer allmählichen Entwicklung betrachtet, als wenn man sie als schlechthin gegeben und fertig ansieht [5], der demzufolge es als fundamentale Aufgabe der Wissenschaft erklärt, überall die Wirkungen aus den Ursachen herzuleiten und dabei sich auf zahlreiche spezielle Erfahrungstatsachen zu stützen [6], derselbe Mann will doch dies alles ausdrücklich nur auf die materielle Welt beschränkt wissen, wozu er allerdings auch diejenigen Funktionen des menschlichen Körpers rechnet, welche, wie er sagt, sich ohne Mitwirkung der Seele vollziehen. Ausgeschlossen bleiben daher von dieser mechanischen Auffassung der Welt sämtliche Funktionen, die vom Denken abhängig sind und dem Menschen spezifisch zukommen. Hier beginne das Reich der Freiheit des Geistes, in welchem wir mit der Gottheit zusammenhängen. [7]
So ist also gerade Descartes der Urheber seines Dualismus von Seele und Leib geworden, der es vielen Denkern, und nicht zuletzt gerade den hervorragendsten Naturforschern, ermöglichte, das, was sie als Anforderungen des Gemütes, der Religion, des Gewissen, empfanden, sich gegenüber ihrer sonst so geschlossenen mechanischen Weltanschauung zu retten. Ja, die ganze imponierende Ordnung der Naturwissenschaft schien Jetzt geradezu diesen Dualismus zu bekräftigen. Denn wie anders als aus einem umfassenden, allmächtigen und vollkommenen Geiste konnte eine solche Staunens würdige Gesetzgebung der Natur entsprungen sein? [8] Gleichwohl war uns ihre Göttlichkeit nicht offenbart, sondern selbst im Denken gefunden worden. Also dokumentierte sich im Denken eine Kraft, die fähig war, auf die Unendlichkeit des schaffenden Geistes einzugehen, die daher, wenn auch im unendlichen Abstand, ihm verwandt sein musste. Es war derselbe Geist, der das Weltall durchströmt, der auch im Menschenhirn den Funken zündete und es in diesem himmlischen Licht seine Wunder schauen liess. Je geordneter sich daher die Welt auseinanderlegte, um so mehr das verwirrende Vielerlei ihrer Erscheinungen eine ungeahnte Harmonie erkennen liess, desto mehr stand über dieser Welt, der alles dieses begriff – der menschliche Geist.
Es kann daher nicht genug betont werden, dass es eine unhistorische Rückdatierung erst viel später aufgetretener Reflexionen ist, wenn man öfters ausgesprochen hört, wie die Umgestaltung des Naturerkennens in diesem Zeitalter mit der Erde auch den Menschen aus dem Zentrum der Welt herausgerissen hätte. Im Gegenteil: in diesem grandiosen Aufstieg der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert, der theoretisch bedeutsamer war als der Triumph der naturwissenschaftlichen Technik im 19. Jahrhundert [9] und der dem Denken plötzlich nach Raum und Zeit ein unendliches Weltall im ewigen Kräftespiel eröffnete, verlor der Mensch darin sich nicht nur nichts sondern fand sich selbst erhöht als den geistigen Herrscher in diesem Reiche, ihm durch seine erkennende Vernunft untertan. Diese trat so immer mehr in den Mittelpunkt der Welt, ein Gottesgeschenk vielleicht, für uns Menschen aber doch der eigentliche Vermittler des göttlichen Wesens, sofern dieses steh in der Schöpfung offenbart hatte, ein echter Sohn Gottes und heiliger Geist zugleich. Ob und wie es ihr möglich sei, „göttliche Wahrheit“, die verité éternelles Leibnizens, die synthetischen Urteile a priori Kants zu verkünden, das wurde nun zum Gegenstand heissester Denkarbeit, da ja mit der Lösung dieses Problems auch der ganze Wert der apodiktischen Gewissheit der kausalen Naturbetrachtung in Frage kam. Das direkte philosophische Produkt der sich in Newton erstmals vollendenden Naturwissenschaft ist daher gar nicht der Materialismus, der in seiner unkritischen Selbstverständlichkeit, mit der er die Kategorie der Naturgesetzlichkeit handhabte, das Problem gar nicht sah, das aus dem eigenen Boden der Naturwissenschaft hervorgegangen war, sondern die Philosophie Immanuel Kants, die in bewusster Erfassung dieses kritischen Problems, ohne in den metaphysischen Dualismus Descartes’ zu verfallen, wohl für immer das Reich des Geistes in den eigenartigen Formen der Gesetzlichkeit seiner Aktion gegenüber dem der Natur abgegrenzt hat.
Aber diese Ueberwindung des Dualismus von Körper und Seele, Materie und Geist ist heute noch vielfach unbegriffen. Und da war es im 18. Jahrhundert allerdings erst der Materialismus, der zwar nicht die Konsequenz des philosophischen Denkens, aber jedenfalls die der naturwissenschaftlichen Methode zog, als er eben diesen Dualismus angriff. Von seinem Standpunkt aus erscheint nun das naturwissenschaftliche Weltbild nicht mehr in dem Lichte in welchem es der Geist von seinem eigenen Feuer erstrahlen sah, sondern als ein ungeheures Getriebe, darinnen der Mensch selbst nur eine kleine Schraube ist. Für den Geist aber, der vielleicht sehr zur Ueberraschung des Materialisten auch jetzt noch da ist, bleibt in dem Gefüge der Maschine selbst nirgends Raum, so dass er wohl oder übel, da er doch an ihr untergebracht werden muss, als Abfallsprodukt herauskommen muss. War der Geist erst derart vollständig zum Objekt degradiert worden, so war er auch hierdurch in seinen historischen Leistungen gleich allen anderen Naturobjekten zum Gegenstand der Wissenschaft geworden. Diese Objektivierung des geistigen Lebens, diese Loslösung seiner Erscheinungen aus ihrer warm pulsierenden Wirklichkeit und Ueberführung in die Form blosser, dem Kausalzusammenhang zugänglicher, weil nur als Wirkung von Ursachen gedachter Vorgänge, das war, wie bereits betont, die Tat des Materialismus, die nach Abstreifung ihres abstrusen metaphysischen Aufmutzes als allerdings bleibendes Akquisit ein Element zum Aufbau der Geisteswissenschaften bildete.
Dass nun aber zur Zeit der Blüte des französischen Materialismus bereits, wie wir vorhin erwähnten, Systeme der Geschichtsphilosophie vorlagen, ist ein Ergebnis des zweiten Ursprungselements der Geisteswissenschaften, dessen wir vorhin gedachten. Gleichzeitig dokumentiert sich auch in dem Gegen übertreten solcher Systeme, welche bereits das ganze geschichtliche-soziale Leben des Menschen zu umfassen streben, die grössere Konsequenz dieses zweiten Standpunktes, des Deismus. In seiner Schrift Die Soziologie im 19. Jahrhundert hat schon Herr Dr. Keiles-Krausz aufmerksam gemacht, „wie nicht das 18. Jahrhundert des Rationalismus, der Enzyklopädie und Revolution, sondern das mehr im Schatten stehende 18. Jahrhundert, dem das Erbe des nach Jahrhunderten zählenden gesellschaftlichen Gedankens des Katholizismus zufiel“, den Keim der Soziologie zur ersten Entwicklung brachte. [10] Er zeigt, wie gerade aus den geistigen Lebensinteressen des Katholizismus, der die unbedingte Unterordnung des Individuums unter die Allgemeinheit der Kirche verlangt, im Lager seiner Vertreter durch die Opposition gegen die immer mehr das Individuum vorschiebende theoretische Philosophie sowie Naturrechtslehre notwendig eben jene Eigenschaften sich entwickeln mussten, deren Fehlen bei den französischen Materialisten so eigenartig auffällt: der historische Sinn und die Richtung des Denkens über den Menschen auf dessen allgemeine Verbundenheit in einem grösseren Zusammenhange. Er sieht daher schon in Bossuet und besonders in Vico mit Recht die Initiatoren der Soziologie und nennt August Comte geradezu den Vollstrecker des kontrerevolutionären Testaments des Katholizismus. [11]
So scharfsinnig nun auch im geistigen Erhaltungsbedürfnis und damit zugleich im ökonomisch-politischen Machtbehauptungsinteresse des Katholizismus das Motiv aufgedeckt ist, welches diesen in Gegensatz brachte zu dem vom Cartesianismus durchtränkten Individualismus der neueren Philosophie, obwohl deren dualistischer Charakter sonst seinen Anforderungen doch vollauf zu entsprechen schien, so darf doch nicht verkannt werden, dass die theoretische Leistung des Katholizismus, auf die es hier ankommt, nämlich der Gedanke eines grossen gesellschaftlichen Determinismus, von ihm gar nicht aus seinen spezifischen Mitteln erbracht werden konnte. Er wurde gewonnen durch Ableitung aus dem Gottesbegriff, der freilich von vornherein einen allgemeinen Zusammenhang der Welt präsumierte, aber für den Katholizismus als solchen gar nicht charakteristisch ist. [12] Begegnete er sich doch in jenem Begriff mit anderen Geistesrichtungen, die zum Katholizismus in heftigster Gegnerschaft standen, nicht nur mit dem Protestantismus, sondern vor allem mit dem Humanismus und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Nicht eigentlich August Comte, sondern der im Todesjahre Vicos geborene Johann Gottfried Herder ist sein Vollstrecker. Bei beiden zeigt sich deutlich der Deismus als der Springquell des sozialen Determinismus: beide sprechen es aus, dass sie den Gott, der in der Natur ist, nun auch in der Geschichte suchen wollen, und sie zeigen damit den Weg, auf dem allein das Naturgesetz schliesslich auch im Reiche des Menschen herrschend werden konnte. Denn nicht nur, dass es keine Selbstdegradierung der menschlichen Vernunft war, wenn sie sich anstatt dem toten Naturmechanismus der ewigen Ordnung Gottes fügte, so war ein göttliches Gesetz, durch das nun mit einem Male auch alles geschichtliche Werden gefesselt schien, auch keine stumpfe, blinde Notwendigkeit mehr. Es-musste ein vernünftiges Gesetz sein, das die mit Vernunft begabten Menschen regierte, es musste Sinn und Zweck in der sozialen Gesetzmässigkeit sein: kurz, es war eben Gott in der Geschichte. Aber indem dieser Gott nichts mehr von ohngefähr erstehen liess, indem alle Zwecke, die er der Geschichte einpflanzte, doch nur mehr durch den Mechanismus des realen Geschehens selber sich vollziehen mussten, zog unter diesem Gottesbegriff die Kategorie der Kausalität und mit ihr das Naturgesetz in die historische Betrachtung ein, um schliesslich sich so mächtig zu entfalten, dass auch im Gebiete des sozialen Lebens immer mehr jener Punkt erreicht wurde, an dem für seine wissenschaftliche Erfassung der Gottesbegriff als eine überflüssige Hypothese erscheinen durfte. [13]
Diesen Entwicklungsprozess hier auch nur im grössten Ueberblick zu verfolgen, ist weder Raum noch Anlass. Es genügt für die Festhaltung unseres Leitfadens, sich die ganze Fülle seines Resultats zu vergegenwärtigen und zu diesem Zwecke sich nur rasch der Komponenten eingedenk zu werden, welche den Zug der modernen Geisteswissenschaften dahin bestimmten.
Da ist es vor allem der durch das Denken von Saint-Simon hindurchgegangene August Comte, dessen grossartiger methodologischer Arbeit die völlige Loslösung der sozialen Doktrinen aus dem Bereich von Jeder Art Theologie zu danken ist, und der mit vollem Bewusstsein die von ihm selbst logisch bearbeiteten Forschungsmethoden der Naturwissenschaft zum Lebensprinzip auch jeder Geisteswissenschaft gemacht hat. Wenn er die Soziologie in seiner Hierarchie der Wissenschaften auf der Gesamtheit alles übrigen Wissens als dessen höchste Blüte erstehen lässt, so stellt er damit nur jenen grossen Zusammenhang der Wissenschaft überhaupt her, der in dem Naturgesetz das ganze Weltall von der kleinsten Elementarbewegung bis zum kompliziertesten Phänomen menschlichen Zusammenlebens als ein einzigartiges Objekt menschlicher Erkenntnis darstellt. Inwieferne dabei sein System ein System des Positivismus ist, weil es von allem, was sich der Kategorie des Gesetzes nicht fügt, einfach absehen will, insoferne ist heute noch alle Wissenschaft, also auch jede Geisteswissenschaft positivistisch. Denn nur für eine Philosophie war es eine nicht zu entschuldigende Willkür, über die Schranken des gesetzmässig Erfassbaren nicht hinaus denken zu wollen, ja sogar zu meinen, in einer blossen, noch dazu ungeprüft verwendeten Form des Geschehens die eigentliche Realität der Welt, das Positive, an ihr aufzugreifen. Der Wissenschaft aber ist ein solcher Standpunkt der Beschränkung ganz notwendig eigen, da sie, wie wir noch sehen werden, überhaupt gar nie die volle Realität des Geschehens in sich aufnehmen kann, so wenig wie der Mensch nichts weiter ist als Erkennen.
Comtes Werk ist heute überall in dankbarer Wertschätzung. Die Wirksamkeit Im. Kants im gleichen Sinn fängt erst unsere Zeit an zu begreifen. Wie dieser gewaltige Geist auch auf diesem Gebiete den brennendsten Fragen später Zukunftszeiten lösende Antworten vorbereitet hat, beweist ja der Umstand augenfällig, dass der Marxismus, der gewiss die vorgeschrittenste und konsequenteste Richtung der Geisteswissenschaften in der Neuzeit darstellt, in Kants Werken immer mehr der glücklichsten Anknüpfungspunkte für seine eigenen Lehren und mächtig fördernde neue Anregungen findet. Aber noch ein anderer klassischer Zeuge bestätigt es, wie sehr gerade die Gedanken dieses Philosophen, die er in seinen Schriften zur praktischen Philosophie, Anthropologie, Geschichts- und Rechtsphilosophie entwickelte, die Betrachtung sozialer und geschichtlicher Probleme auf die Bahn hinlenkten, in welcher eine exakte Auffassung von ihrem Gegenstande möglich wurde. Es ist niemand anderer als August Comte selbst, der in einem Briefe vom 10. Dezember 1828, noch ganz erfüllt von dem Eindruck, den die Lektüre von Kants Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger- licher Absicht nach der Mitteilung Rob. Zimmermanns [14] auf ihn ausübt, schreibt, „wenn er dieselbe 6 bis 7 Jahre früher gekannt hätte, so würde sie ihm viel Mühe erspart haben ... Und“, wie Zimmermann weiter berichtet, „mit einer den Franzosen ehrenden Aufwallung setzt er hinzu, er fühle einige Dankbarkeit gegen seinen Mangel an Erudition; denn wäre seiner Arbeit, so wie sie jetzt sei, die Kenntnis der Schrift Kants bei ihm vorausgegangen, so hätte jene sicher viel von ihrem Verdienste verloren.“ In der Tat ist auch die Einwirkung Kants durchaus eine solche im Sinne positivistischer Befreiung der Objekte der Geisteswissenschaft aus den Unklarheiten metaphysischer Anschauungen und Gewinnung derselben für die Methoden der Naturwissenschaft, da sein immer wiederkehrender Hauptgedanke ist, die in der Geschichte hervortretende Teleologie (den Fortschritt des Menschengeschlechtes) als die Wirkung eines Mechanismus zu betrachten, welche aus dem Widerstreit seiner elementaren Kräfte (der geselligen Ungeselligkeit des Menschen) als ein durchaus ungewolltes, vom Intellekt des Menschen aber erkanntes und deshalb festgehaltenes Gut hervorgeht. [15]
Was nun vollends das 19. Jahrhundert an Bereicherung des wissenschaftlichen Denkens auf sozialem Gebiete geleistet hat, so dass sich in stets schärferen Umrissen ein System der Geisteswissenschaften gleichartig neben das der Naturwissenschaften stellen durfte, kann nur mit wenigen Schlagworten angedeutet werden. Hatte die konsequente Erweiterung des Naturbegriffes durch die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Methoden den theoretischen Zusammenhang geschaffen, in welchem das menschliche Leben als Glied des Naturganzen gedacht werden konnte, so vermittelte die moderne Deszendenztheorie mit einem Male auch den physischen Zusammenhang. Dazu schuf die Geologie, Prähistorie und Ethnologie den genügend weiten zeitlichen und räumlichen Rahmen, um die wirkliche Entwicklung dieses Weltganzen überhaupt vorstellig zu machen. Und war so das geistig-soziale Geschehen vom Naturgesetz gleichsam in einen grossen Rahmen gefasst, so stürmten nun die schon von Süssmilch angewendeten, von Quetelet aber neu begründeten Methoden der Sozialstatistik im Verein mit der Entwicklung der Bevölkerungslehre vor, um selbst die Mannigfaltigkeit der einzelnen Handlungen und das Durcheinander der zufälligen Ereignisse, zum Beispiel der Gestaltungen des menschlichen Körpers, der Unglücksfälle, der Selbstmorde, der Verbrechen, der Vergesslichkeit und dergleichen mehr, in einer strengen, zahlenmässig bestimmbaren Regelmässigkeit gebunden aufzuweisen. Am inneren Verständnis aber arbeitete eine sich immer mehr vervollkommnende Psychologie, bestrebt, das Geistesleben des Einzelnen ähnlich aus einfachen Elementen aufzubauen, wie die Mechanik die Körperwelt aus Atomen. So entstand die Vorstellung von der Psychologie als der Grundwissenschaft aller Geisteswissenschaften, als einer Art Geistesmechanik.
Aber noch von einer anderen Seite her trat ein mächtiger Bundesgenosse auf, um behilflich zu sein, eine exakte Erforschung des Geisteslebens möglich zu machen. Die klassische Nationalökonomie versuchte, in bewusster Zerlegung des komplexen sozialen Geschehens die Gesetze einer Seite desselben, des wirtschaftlichen Lebens, zu erfassen. Sie war dabei in grössere Einseitigkeit verfallen, als einer Wissenschaft gut tut, indem sie bei ihren Abstraktionen auch zugleich von dem historischen Charakter des sozialen Geschehens und damit von einem seiner wesentlichen Elemente abstrahierte. Aber trotzdem wurde gerade sie eine gewaltige Förderin des naturwissenschaftlichen Charakters der Geisteswissenschaften, da sie zuerst in einem der verworrensten Gebiete sozialen Geschehens doch die methodische Möglichkeit wirklicher Gesetze aufzeigte. Es galt nur ihren Widerspruch zu überwinden, der sie aus historisch begrenztem Stoff ewige Gesetze konstruieren liess. Es galt, den Jeder Fesselung durch das Gesetz scheinbar hohnsprechenden Wechsel der komplexen sozialen Phänomene selbst durch eine ihnen adäquate Form zu erfassen. Das war die Tat des historischen Materialismus von Karl Marx. In der materialistischen Geschichtsauffassung allem sozialen Determinismus seine Grunddeterminanten zu geben, in der immer noch zu wenig gewürdigten Dialektik die eigenartige Grundbeziehung aufzuzeigen, welche den ewigen Wechsel des geschichtlichen Stoffes selbst aus einer unveränderlichen Beziehung der Elemente sozialen Lebens in seiner festen Richtung begreift, in der Analyse des Wertes und der ökonomischen Erscheinungen überhaupt schliesslich die zweckbewusst nach ihren Interessen handelnden Menschen zu finden, in deren spezifisch menschliche Verhältnisse sich nun alle sonst so fremd und geheimnisvoll ihnen gegenüber gestandenen sozialen Mächte auflösen – diese grossen, stets noch fortwirkenden Gedanken des Marxismus sind es, die in ihrem Zusammenwirken mit den Ergebnissen der natur- wissenschaftlichen Arbeit überhaupt, der Individual- und Sozialpsycho- logie im besonderen, wirklich ein Gebäude der Geisteswissenschaften zu fundieren geeignet scheinen, das weder an Festigkeit seiner Aus- führung noch Weite des Ausblickes hinter dem der Naturwissenschaft zurückzustehen braucht. Ja – recht eigentlich ist es, ganz wie Comte es wollte, ein Bau auf ihrem Bau und sind die unangetasteten Fundamente der Naturwissenschaften daher auch die der Geisteswissenschaften.
So hat denn unser Leitfaden wirklich zu einem erfreulicheren Bilde von dem Stande der Geisteswissenschaften geführt, als uns der erste Anblick der Menge sich hier bekämpfender Philosopheme und Theorien glauben machen wollte. Nicht nur die Existenz, sondern auch die kraftvolle, sichere und hoffnungsreiche Entwicklung der Geisteswissenschaften in dem Sinn, in welchem wir sie vorläufig verstanden wissen wollten, hat sich über allem Zweifel erhaben als Realität ergeben.
1. Vergl. über den methodologischen und erkenntnistheoretischen Fehler der so verbreiteten Meinung von der Möglichkeit einer restlosen Reduktion der Psychologie auf Physiologie neuestens Harald Höffding, a. a. O., Seite 16 ff.
2. Bekannt ist die Lehre von der willkürlichen Abweichungen der Atome von der geraden Linie, auf welche die Schule Epikurs ihre Ueberzeugung von der Willensfreiheit gründete. Vergl. Lucretius Carus, Von der Natur der Dinge, II., Seite 245–250 (übersetzt von Knebel, Leipzig, Reclam):
Wenn nicht läge der Grund, der auf Abweichungen hinzielt, |
3. Marx über Feuerbach, Anhang zu F. Engels, Ludwig Feuerbach, 2. Auflage, I. These, Seite 59.
4. Ebd., 3. These, Seite 60.
5. Vergl. René Descartes, Ueber die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs (übersetzt von Dr. L. Fischer), Leipzig, Reclam, Seite 62–63.
6. Ebd., Seite 83,
7. Ebd., Seite 63–64, Vergl. auch Descartes, Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie (übersetzt von Dr. L. Fischer), Leipzig, Reclam, Seite 72: „Aus diesem einzigen Grunde glaube ich auch, dass jene ganze Gattung von Ursachen, die man aus dem Zweck entnimmt, für die Physik von gar keiner Bedeutung sind.“
8. Vergl. Christoph Sigwart, Kleine Schriften, Freiburg i. Br. 1889, II., Seite 13–14, über die Gottgläubigkeit Galileis und Keplers.
9. Vergl Wilhelm Wundt, Logik, 2. Auflage, II. Band, Seite 7.
10. A. a. O., Seite 4 (Berlin 1902), Verlag „Aufklärung“.
11. Ebd., Seite 21.
12. Vergl. Christoph Sigwart, a. a. O., Seite 13: „Der Monotheismus der jüdischen und christlichen Religion (hat) den fruchtbaren Boden für die Idee einer allumfassenden, die einheitlichen Gesetze des Universums erforschenden Wissenschaft gegeben. Oder in welcher anderen Form konnte zuerst der Gedanke aufgehen, dass Himmel und Erde von einem Gedanken umfasst und dass der Mensch berufen ist, diesen Gedanken zu verstehen, als in dem Glauben an einen Schöpfer, der Himmel und Erde gemacht und den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat? In welcher Form konnte wirksamer ausgesprochen werden, dass nichts zufällig ist und die Dinge nicht nach blindem Ungefähr in verworrenen Bahnen sich kreuzen, als in dem Gedanken einer Vorsehung, ohne deren Wille kein Sperling zu Boden fallt? Teils die allzu menschlichen Bilder, ... teils die Erinnerungen an die Kämpfe gegen die Dogmen der Kirche, unter denen die Wissenschaft gross gewachsen ist, lassen leicht die durchschlagende Bedeutung jener Grundanschauungen des christlichen Glaubens für die Entwicklung der wissenschaftlichen Ideen unterschätzen.“ Desgleichen W. Dilthey, a. a. O., Seite 123 ff.
13. Betreffs G. Vico vergl. Dr. J. Goldfriedrich, Die historische Ideenlehre in Deutschland, Berlin 1902, Abschnitt Vico, Seite 16: „Die Geschichte wird (bei Vico) geleitet von der göttlichen Vorsehung: aber nur vermittelst der und in der von Bedürfnis und Vorteil getriebenen immanenten Entwicklung des menschlichen Geistes von Sinnenschärfe und Phantasie zu immer höherer Entfaltung der Vernunft. Wir dürfen nicht von der Vorsehung ausgehen; die Vorsehung ist nicht inmitten, nicht am Anfang, sondern erst am Ende der Geschichte offenbar.“ Dazu Herder: „Die Philosophie der Endzwecke hat der Naturgeschichte keinen Vorteil gebracht, sondern ihre Liebhaber vielmehr statt der Untersuchung mit scheinbarem Wahn befriedigt; wieviel mehr die tausendzweckige, ineinandergreifende Menschengeschichte ... Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muss derselbe sein, wie er in der Natur ist, denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und seine Geschichte ist wie die Geschichte des Wurms mit dem Gewebe, das er bewohnt, innig verwebet. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben mag, da sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit offenbart.“ Ideen zur Philosophie der Geschichte in Herders Werken, herausgegeben von Hr. Kurz, Leipzig, Bibl. Inst., III., Seite 493 und 526.
14. Rob. Zimmermann, Kant und die positive Philosophie, in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. KL, Wien, Band 77 (1874), Seite 34.
15. Dieser grundlegende Gedanke, der eine Geschichte als Wissenschaft möglich erscheinen lässt und in der Tat, wie hier nicht näher dargelegt werden kann, in dem dialektischen Charakter der materialistischen Geschichtsauffassung Karl Marx’ wiederkehrt, ist wohl zu unterscheiden von den Gedankenausführungen Kants, in denen er, im Anschluss an seine praktische Philosophie, einzelne Züge einer von ihm niemals systematisch zur Darstellung gebrachten Geschichtsphilosophie liefert. Fritz Medicus in seiner vorzüglichen Monographie Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1902, welcher selbst diesen Unterschied von Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie klar präzisiert (a. a. O., Seite 10), scheint mir doch Kants Bedeutung für die Theorie der Geschichte zu sehr zurücktreten zu lassen. Vielleicht würde sich aus der stärkeren Betonung dieses Gesichtspunktes manches in der dadurch abgegrenzten Sphäre einwandfrei herausstellen, was jetzt von Medicus als Widersprach und Inkonsequenz im geschichtsphilosophischen Vorgange Kants aufgezeigt werden musste.
Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020