Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Konservative Einwände


Hauptsächlich von konservativer Seite wird das Wahlrecht, wie wir es wünschen, bekämpft, nicht sowohl weil es ein allgemeines, sondern weil es ein gleiches Wahlrecht sein soll. Die konservativen und reaktionären Parteien schelten die Zersetzung der feudalen Stände in moderne Klassen als „Atomisierung“ der Gesellschaft, und sie wollen den einzelnen „Atomen“, den Individuen, nicht das Recht einräumen, ihren Willen politisch zur Geltung zu bringen. Hinter dieser Anschauung verbirgt sich aber nichts anderes als der Ärger darüber, daß die Atome eben nicht vereinzelt bleiben, sondern, vom Klassengefühl ergriffen, als Klassen politisch handeln. Jene Theorie will den einzelnen Gruppen der Gesellschaft, dem Großgrundbesitz, der Industrie, der Bauernschaft, den Handwerkern, einen abgezirkelten politischen Einfluß geben, das Proletariat wird natürlich ignoriert. Es wird aber weiters die Voraussetzung gemacht, daß jede dieser Interessengruppen als solche ein gleiches Maß politischen Einflusses verdiene. Nicht das Individuum, sondern das „Interesse“ soll vertreten sein. Auf diese Weise wird die Brutalität und Ungerechtigkeit eines Zustandes verschleiert und aufgeschminkt, in welchem der Mensch als solcher, das Individuum, nichts gilt – er ist ein verächtliches „Atom“ –, dagegen alles der Besitz, welchen er hat. ein politischer Zustand, welcher seine ausschweifendsten Orgien im österreichischen Wahlsystem feiert, wo eine Handvoll Großgrundbesitzer mehr politischen Einfluß hat als Zehntausende von Bauern und als Millionen von Arbeitern. Es wird von konservativer Seite die entsetzliche Befürchtung ausgesprochen, die große Masse der Individuen würde die kleine aber edle Gruppe der Großgrundbesitzer majorisieren, und es wird dabei vorausgesetzt, daß der Großgrundbesitz als solcher, daß das Großkapital als solches das Recht einer politischen Vertretung hat. Dem ist entgegenzuhalten, daß das Individuum als solches, abgesehen von seinem Besitz, ein Interesse hat und darum auch ein Recht haben muß, es geltend zu machen. Und wenn man dem Standpunkt der Gerechtigkeit überhaupt Rücksicht gewähren will, dann müßte das Wahlsystem das geradezu umgekehrte sein, als es heute in Österreich ist. Dem Proletarier und dem Kleinbauer müßte ein mehrfaches Stimmrecht eingeräumt werden gegenüber dem Großgrundbesitz und Kapitalisten; denn Großgrundbesitz und Kapital repräsentieren auch ohne Stimmzettel eine ganz gewaltige politische Macht, und es bedarf sehr vieler Stimmzettel auf Seiten der wirtschaftlich Ohnmächtigen, um dieser Übermacht irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Wenn Herr Rothschild oder Schwarzenberg von ihrem Stimmrecht niemals Gebrauch machten, ja wenn die Verfassung sie ausdrücklich des aktiven und passiven Wahlrechtes entkleidete, würden sie immer noch durch ihr ökonomisches Übergewicht mehr politische Macht haben als Zehntausende von Proletariern. Also vom Standpunkt der Gerechtigkeit ist zum allerwenigsten zu verlangen: Jeder Mann eine Stimme.

Mitunter tritt der feudale Junkeregoismus auch in moderner Maske auf und versteckt sich hinter das Schlagwort des „Schutzes der Minoritäten“. Gewiß, wir haben allen Respekt vor der Gerechtigkeit, welche hindern will, daß die Minderheit von der Mehrheit vergewaltigt werde, welche ein Wahlsystem verlangt, welches der Minorität gestattet, im Parlament den ihrer Zahl entsprechenden Ausdruck zu finden. Ein vernünftiges Proportionalwahlsystem gehört mit zu den Forderungen unserer Partei.

Aber man darf darüber nicht vergessen, daß wir in Österreich leben, wo es sich zunächst nicht um diese Feinheiten handeln kann. Vor dem Schutze des Rechtes der Minorität kommt noch der Schutz des Rechtes der Majorität, und die Majorität, die überwiegende Majorität, ist rechtlos in Österreich. Den zarten Seelen, welche in den konservativen Zeitungen über die „rohe Macht der Zahl“ Krokodilstränen vergießen, sind wir gebunden zu erklären, daß, wenn schon die Vergewaltigung einer Minderheit durch die Mehrheit ein Unrecht ist, ein dreifach ärgeres Unrecht die Vergewaltigung der Majorität durch eine kleine Minorität ist, jenes System, auf welchem die österreichische Verfassung sich auf baut.

Alle jene Vorschläge, die Erneuerung. einer ständischen Verfassung auf „Berufsgenossenschaften“ zu gründen, sind nichts als Flausen, welche den eigentlichen Zweck, die Konservierung der Privilegien der Krautjunker und Schlotbarone, hinter „sozialpolitischer“ Wichtigtuerei verbergen sollen.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020