Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Liberale Einwände


Aber, heißt es, die heute vom Wahlrecht ausgeschlossenen Klassen, das ländliche und das städtische Proletariat, sind nicht „reif“. Eigentlich muß man zugeben, daß dieses Schlagwort ziemlich verschwunden ist. So unverschämt unsere Gegner sind, sie haben doch nicht Lust, sich lächerlich zu machen, und angesichts der rettungslosen Versumpfung unserer bürgerlichen Parteien, angesichts der unverkennbaren und allgemein anerkannten Klarheit der proletarischen Bewegung wagt man nicht mehr von Unreife zu sprechen. Übrigens wäre es gar nicht übel, sich darüber zu erkundigen, was eigentlich politische Reife bedeute. Unreif werden diejenigen Parteibestrebungen genannt und diejenigen Strömungen im Volke, die den Herren unangenehm sind. Legt man aber einen anderen Maßstab an, versteht man unter politischer Reife das klare Erkennen des Zieles, das unverbrüchliche Festhalten an ihm und seine energische Verfolgung, dann wird man zugeben müssen, daß die Unreife in den besitzlosen Klassen verschwunden ist, daß aber die Besitzenden sich in einem Stadium der Überreife, der Fäulnis, befinden.

Wenn man das Wahlrecht austeilen sollte nach dein Maße der politischen Reife einer Klasse, dann würden gewiß die Arbeiter nicht zu kurz dabei kommen, wohl aber würde ein sehr beträchtlicher Teil des Bürgertums das Wahlrecht verlieren müssen.

Übrigens ist es selbstverständlich eine Heuchelei, wenn dieses Argument angeführt wird, denn nicht nach der Reife, sondern nach der Dicke des Geldsackes ist das Wahlrecht verteilt.

Als sich Herr v. Plener zuletzt im Parlament über den jungtschechischen Antrag äußerte, hat er auch von der politischen Reife nicht mehr offen gesprochen, hat die industrielle Arbeiterschaft außer Spiel gelassen und nur der Besorgnis Ausdruck gegeben, daß durch das allgemeine Wahlrecht ein Überwiegen der Vertreter des „ländlichen Taglöhners“ zustande käme. Man muß sich bei Herrn v. Plener immer hüten, vorauszusetzen, daß hinter seinen Worten konkrete Vorstellungen zu suchen seien. Wir sind überzeugt, daß es sich ihm auch diesmal rein um ein Schematisieren handelt, daß er sich die Tatsachen, von denen er spricht, absolut nicht klargemacht hat. Vor allem könnte Herr v. Plener von Deutschland lernen, daß das Überwiegen des ländlichen Arbeiters leider durchaus nicht Wahlen zuwege bringt, welche ihm eine Vertretung sichern. Die Wahlbezirke östlich der Elbe schicken nicht etwa Taglöhner in den Deutschen Reichstag, sondern Krautjunker, dieselben Krautjunker, die wir in unserem Reichsrat sitzen haben ohne allgemeines Wahlrecht. Es ist vielmehr zu befürchten, daß in jenen Bezirken, wo der Großgrundbesitz überwiegt, auch nach Einführung des allgemeinen Wahlrechtes noch nach geraumer Zeit das Resultat der Wahl ganz dasselbe sein werde wie heute. In Galizien wird der Schlachziz, welcher den Ehrgeiz hat, Abgeordneter zu sein, möglicherweise anstatt wie jetzt zehntausend Gulden deren zwanzigtausend aufwenden müssen, aber er wird einen großen Teil seiner Wahlbezirke behaupten. Das wirtschaftliche Übergewicht ist der Macht des Stimmzettels gewachsen. Wie man also sieht, hat PI euer leider unrecht. Uns wäre der ländliche Taglöhner im Reichsrat entschieden lieber als die Schwarzenberge und die polnischen Edelleute, deren ebenso bornierter wie brutaler Kastenegoismus das größte Hindernis für jeden Fortschritt in Österreich ist. Aus dem ländlichen Taglöhner kann ein tüchtiger Vertreter der Interessen des Proletariats werden durch Aufklärung und Aneignung von Wissen; aus dem Fürsten Schwarzenberg aber und aus allen den Herren auf ski wird niemals mehr etwas Vernünftiges.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020