Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Die Ausdehnung des Wahlrechtes


Will man sich eine deutliche Vorstellung von der Ausdehnung des Wahlrechtes in Österreich machen, so gibt es dazu zwei Wege. Man kann das Verhältnis der Zahl der Wahlberechtigten zur Einwohnerzahl vergleichen mit diesem Verhältnis in jenen Ländern, welche das allgemeine Wahlrecht oder ein diesem nahekommendes Wahlsystem besitzen. Dieses Verhältnis, die relative Wahlberechtigung, zeigt folgende Tabelle:

Relative Wahlberechtigung

Staaten

Bevölkerung

Wähler

Auf 1000 Bewohner
entiallen Wähler

Frankreich

38.343.192 (1891)

  10.387.330 (1889)

271

Schweiz (Kanton Zürich) [1]

       337.183(1888)

  83.586 (1893)

248

Griechenland

  1.979.433 (1879)

       460.163 (1881)

232

Deutschland

49.428.470 (1890)

  10.145.877 (1890)

217

Belgien bisher

  6.147.041 (1890)

       135.236 (1891)

  22

Belgien nach dem neuen Gesetz

   6.147.041 (1890)

Zirka 1.300.000

zirka 210           

Großbritannien und Irland

37.888.153 (1891)

    6.173.668 (1891)

163

Dänemark

  2.185.335 (1890)

       304.585 (1880)

139

Italien

30.158.408 (1891)

    2.826.055 (1890)

  97

Norwegen

  1.526.871 (1891)

       139.690 (1891)

  91

Österreich

23.608.062(1890)

   1,732.057 (1892)

  72

Ungarn

17.349.398 (1890)

zirka [2] 840.000 (1890)            

zirka 48         

Dieser Vergleich wird natürlich dadurch erschwert, daß die Bedingungen der Wahlfähigkeit in verschiedenen Ländern verschieden sind, wobei am meisten ins Gewicht fällt, daß das Lebensalter, mit welchem die Wahlfähigkeit beginnt, ein verschiedenes ist. Während in Österreich das 24. Lebensjahr der Beginn der Wahlberechtigung ist, ist es in Deutschland das 25., in Frankreich das 21., in der Schweiz das 20. Auf 100 Einwohner entfallen in Frankreich 27,1 Wahlberechtigte, in Deutschland 21,7, in England mit seinem noch immer beschränkten Wahlsystem 16,3, in Österreich aber nur 7,2 Wahlberechtigte. Das wahlfähige Alter kommt in Deutschland dem Österreichs am nächsten, und wenn man annimmt, daß der Aufbau der Altersklassen in Österreich und Deutschland annähernd derselbe ist, so kommt man zum Schluß, daß sich die Ausdehnung des Wahlrechtes in Österreich zu der in Deutschland verhält wie 7,2 : 21,7, also ungefähr wie 1 : 3, daß somit bei Einführung derselben Wahlgesetzgebung wie in Deutschland sich die Zahl der Wähler in Österreich verdreifachen würde.

Aber es gibt einen viel direkteren Weg. Aus den bisher veröffentlichten vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung des Jahres 1890 läßt sich die Zahl der Männer über 24 Jahren mit annähernder Genauigkeit auf 5.716.000 berechnen. Die Zahl der Wahlberechtigten bei den letzten Wahlen, im Frühjahr 1891, war 1.732.057. Hieraus ergibt sich, daß von je 1.000 Männern über 24 Jahren das Wahlrecht in Österreich nur 303 hatten, also erheblich weniger als ein Drittel.

Es ist somit Ziffer mäßig erwiesen, daß mehr als zwei Drittel der Bevölkerung. 697 Männer von je 1.000, in Österreich politisch rechtlos sind.

Aber dieses an und für sich schon im höchsten Grade ungerechte Verhältnis wird von Jahr zu Jahr ungünstiger, und zwar nach zwei Richtungen. Erstens wird die Zahl der Rechtlosen größer mit der fortschreitenden Volksvermehrung, weil die besitzlosen Volksklassen erfahrungsgemäß sich schneller vermehren als die Besitzenden. Zweitens aber, und dieser Umstand gibt erst die rechte Beleuchtung für unser Wahlsystem, das Wahlrecht ist ein Monopol und die Zahl der Monopolisten wird immer geringer, weil das Monopol an den Besitz geknüpft ist, der Besitz sich aber immer mehr in den Händen von immer weniger Leuten konzentriert. Der Kreis der Bevorrechteten im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung wird ein immer kleinerer, die Zahl der Rechtlosen eine immer größere. Wir haben seit dem Jahre 1873 in Österreich direkte Wahlen; bis zu jener Zeit wurden die Reichsratsabgeordneten aus den Landtagen gewählt, und die Ziffern sind schwer zu erheben. Im Jahre 1873 und 1879 fanden Wahlen nach den alten Bestimmungen des Zehngulden- beziehungsweise Zwanzigguldenzensus statt. Bei den Wahlen im Jahre 1885 und 1891 wählten die Fünfguldenmänner mit. Vergleicht man die ersten beiden Wahlen miteinander, so findet man, daß auf 1.000 Einwohner entfielen im Jahre 1873 63 Wahlberechtigte, im Jahre 1879 nur mehr 59. Vier früher Wahlberechtigte auf je 1.000 Einwohner waren verschwunden. Im Jahre 1885 entfielen auf 1.000 Einwohner noch 73 Wahlberechtigte, im Jahre 1891 nur mehr 72, wieder ist in sechs Jahren ein Wahlberechtigter auf je 1.000 Einwohner verschwunden, und wir werden diese Ziffern noch genauer würdigen können, wenn wir sie nach den Wahlkörpern unterscheiden. Wir erfahren dann (auch diese Ziffern beruhen durchweg auf offiziellen Angaben), daß in den Städtewahlbezirken auf 1.000 Einwohner im Jahre 1885 70 Wahlberechtigte kamen, im Jahre 1891 nur mehr 61; also 9 Wähler, nicht weniger als 12,8 Prozent sind verschwunden; in den Landgemeinden ist das Verhältnis ein weniger ausgeprägtes, aber noch immer deutliches. Die Wählerzahl auf 1.000 Einwohner fällt von 77 im Jahre 1885 auf 75 im Jahre 1891, mehr als 2,5 Prozent der Wähler sind verschwunden.

Auf 1.000 Einwohner kommen Wähler:

 

In den Städte-
wahlbezirken

Land-
gemeinden

1873

48   

71   

1879

46,1

61,3

1885

70   

77   

1891

61   

75   

Auf 1.000 Einwohner kamen Wähler überhaupt:

1873

63

1879

59

1885

73

1891

72

In dem kurzen Zeitraum von nur sechs Jahren haben von hundert Wählern in den Landbezirken mehr als zwei, in den Stadtbezirken mehr als zwölf aufgehört, Wähler zu sein, sie sind ins Proletariat hinabgesunken.

Es gibt wohl nicht leicht eine Ziffer, die gleich klar und handgreiflich zeigt, wie die Mittelstände im Zugrundegehen begriffen sind. Der Abfall in den Wählerzahlen vom Jahre 1873 bis 1879 wird von den offiziellen Statistiken auf die Folgen des Krachs zurückgeführt. Aber der weitere Verlauf zeigt sehr klar, daß es sich nicht um die Folgen eines einmaligen, einschneidenden Ereignisses, sondern um einen chronischen, andauernden Prozeß handelt, und dieser Prozeß ist kein anderer als der der zunehmenden Proletarisierung, der Expropriation der Mittelklassen. Das ist jedoch ein Gegenstand, der uns hier nicht beschäftigt, wohl aber haben wir hervorzuheben, daß mit der Enteignung durch die ökonomische Entwicklung auch die Entrechtung durch unsere politische Gesetzgebung erfolgt. Der Kreis derer, die noch soweit ihre wirtschaftliche Selbständigkeit haben, daß sie auch nur 5 Gulden direkte Abgaben zahlen, wird ein immer kleinerer und mit der wirtschaftlichen Selbständigkeit geht das politische Recht verloren. Wie sich dieser Prozeß in den einzelnen Kronländern äußert, zeigt folgende Tabelle:

Auf 1.000 Einwohner entfielen Wähler:

in

Stadtbezirke

Landbezirke

1873

1879

1885

1891

1873

1879

1885

1891

Niederösterreich

48

46

69

      60 [3]

78

  77

78

      84 [3]

Oberösterreich

44

44

63

62

48

  42

101

  99

Salzburg

56

55

70

68

87

  80

  90

  89

Steiermark

40

44

65

52

59

  56

  80

  82

Kärnten

31

34

68

45

48

  40

  63

  64

Krain

44

39

63

53

64

  58

 92

  88

Triester Gebiet

50

58

50

47

Görz und Gradiska

44

53

45

52

40

  38

  66

  65

Istrien

53

55

68

76

54

  55

  78

  77

Tirol

46

48

55

59

69

  65

  68

  67

Vorarlberg

105

109

102

85

80

  79

  97

106

Böhmen

47

49

74

68

42

  38

  57

  59

Mähren

42

44

74

72

64

  63

  63

  60

Schlesien

47

49

64

63

38

  43

  54

  51

Galizien

67

68

70

68

89

  92

  92

  85

Bukowina

65

76

79

72

95

103

109

  86

Dalmatien

119

101

91

  97

110

104

In ganz Österreich

48

46

70

61

71

  61

  77

  75

Das Wahlrecht ist also in Österreich das Monopol eines immer kleiner werdenden, ein Drittel nicht erreichenden Bruchteiles der Bevölkerung.

Das Reichsratswahlrecht schließt sich an das Wahlrecht zum Landtag beziehungsweise das Gemeindewahlrecht an und seine Ausdehnung zeigt deshalb in den verschiedenen Kronländern gewisse nicht unbedeutende Verschiedenheiten, die durch den einheitlichen Zensus von 5 Gulden keineswegs gänzlich aufgehoben werden, auf welche einzugehen aber hier ganz unmöglich ist. [4]

Seit dem Bestehen des gegenwärtigen Wahlsystems, seit 1862, hat nur eine einzige und höchst bescheidene Erweiterung des Wählerkreises stattgefunden. Die Einbeziehung der Fünfguldenmänner 1882 hat die Zahl der Wähler auf je 1.000 Einwohner nur von 63 auf 76 vermehrt. Die absoluten Zahlen sind folgende:

Zahl der Wähler bei den Wahlen

 

1873 [5]

1879

1885

1891

Großgrundbesitzer

       4.931

       4.768

       5.119

       5.402

Handelskammern

          499

          515

          593

          583

Städte, Märkte usw.

   186.323

   196.993

   298.793

   338.500

Landgemeinden

1.062.259

1.088.457

1.369.536

1.387.572

Zusammen

1.254.012

1.290.733

1.674.041

1.732.057

Vergleichen wir mit diesem Schneckengang die Entwicklung des Wahlrechtes in zwei Ländern, die auch ihrerseits noch heute nicht beim allgemeinen Wahlrecht angelangt sind. In England verdoppelte die Reformbill von 1867 die Zahl der Wähler: aber schon 15 Jahre später führte die Wahlreform von 1884 (People Act) eine abermalige Verdoppelung der Wählerzahl herbei. Bis zur Reformbill kamen nur etwa 40 Wähler auf 1.000 Einwohner, heute 162; das Wahlrecht hat in 25 Jahren den vierfachen Umfang gewonnen.

Wahlberechtigte in Großbritannien und Irland

Jahr

England

Schottland

Irland

Vereinigtes
Königreich

Auf 1.000 Einw.
Wähler

1846

845.000

93.000

129.000

1.067.000

  38

1871

2.066.000

260.000

227.000

2.553.000

  78

1881

2.538.000

310.000

229.000

3.077.000

  87

1889

4.502.000

572.000

763.000

5.837.000

157

1891

4.838.080

593.877

741.711

6.173.668

162

Und in Italien, das noch immer ein sehr beschränktes Wahlrecht hat, ist die Wählerzahl seit 1870 beinahe verfünffacht worden. Die Wahlreform von 1882 allein hat sie verdreifacht. So engherzig der italienische Zensus ist, wenigstens hat das Wahlrecht dort jeder Mann, der zwei Jahre unter der Fahne gestanden ist. Man empfindet es dort als schreiendes Unrecht, dem Manne, dessen Blut man fordert, sein Bürgerrecht zu versagen.

Italien

Jahr

Zahl der Wähler
auf 1.000 Einwohner

Wähler

1870

   530.018

19,8

1874

   571.939

21,3

1876

   605.007

20,9

1879

   621.896

21,5

Gesetz vom 24. September 1882

Jahr

Zahl der Wähler
auf 1.000 Einwohner

Wähler

1882

2.144.159

74,1

1883

2.428.980

83,9

1885

2.480.897

87,5

1889

2.756.347

95,2

1890

2.826.055

97,6

Nur in Österreich rührt sich nichts. Aber das Beispiel Belgiens hat jüngst gezeigt, daß die Völker mitunter in einer Woche nachzuholen wissen, was die Herrschenden durch Jahrzehnte versäumten.

*

Fußnote

1. Die Ziffern für die Gesamtschweiz konnten wir leider nicht erlangen: die Ausdehnung des Wahlrechtes ist aber wesentlich dieselbe in allen Kantonen und die für Zürich geltende Verhältniszahl darum auch für die Eidgenossenschaft anzunehmen. (v. a.)

2. Wir konnten die genaue Ziffer nicht in Erfahrung bringen. (v. a.)

3. Bei der Wahl 1885 wählten die beiden Bezirke Sechshaus und Hernals noch mit den Landgemeinden, 1891 aber bereits mit den Städten. Da in Sechshaus auf 1.000 Einwohner nur 42, im Bezirk Hernals gar nur 40 Wähler kommen, mußte diese Änderung die Verhältniszahl der Einwohner zu den Wählern für die Städte Niederösterreichs stark herabdrücken, für die Landgemeinden stark hinaufschnellen, (v. a.) Inzwischen war nämlich die Eingemeindung der Vororte erfolgt.

4. Es sei nur angeführt, daß beispielsweise in Galizien die Wahlkörper sowohl in den Städten als in den Landgemeinden auf folgende Art gebildet werden: die zur Wahl des Gemeinderates Berechtigten werden nach der Höhe der von ihnen gezahlten direkten Steuern, angefangen vom Höchstbesteuerten, aneinandergereiht; die ersten zwei Dritteile dieser Liste haben dann das Wahlrecht für Landtag und Reichsrat, gleichgültig, ob sie das Minimum von fünf Gulden zahlen oder weniger. Die Erteilung des Wahlrechtes an die Fünfguldenmänner bewirkt darum in den galizischen Landgemeinden keine Vermehrung der Wähler: im Jahre 1885 entfielen wie 1879 auf 1.000 Einwohner 92 Wähler. (v. a.)

5. Ohne Dalmatien, wofür die Angaben fehlen. (v. a.)


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020