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Während das Wahlrecht zu den Landtagen annähernd ähnlich gestaltet ist, wie das zum Reichsrat, zeigt das Gemeindewahlrecht mit seinen drei Wahlkörpern ein ganz besonderes Bild, welches wohl einer eingehenden Schilderung wert wäre, zu dessen liebevoller Ausführung aber an dieser Stelle Zeit und Raum fehlen. Nur einige Ziffern von den Wiener Verhältnissen wollen wir beibringen, um zu zeigen, wie hier das mit dem Besitz wachsende Wahlprivilegium der Besitzenden unverhüllt von allen „historischen“ Flausen, die das Reichsratswahlrecht umgeben, nackt und brutal auftritt.
Bei den Gemeinderatswahlen im Jahre 1890 [1] besaßen von den in Wien anwesenden 209.666 Männern über 24 Jahre das Wahlrecht – 53.948, also 25,84 Prozent. Genau ein Viertel der Männer im wahlfähigen Alter hatten das Wahlrecht; drei Viertel sind rechtlos in der Gemeinde, wie sie rechtlos im Lande, wie sie rechtlos im Reiche sind.
Das Wahlrecht ist an die direkte Steuer gebunden oder – was in Wien in Betracht kommt – an die „Intelligenz“; Geistliche, Beamte, Lehrer, Advokaten, Ärzte usw. haben ohne Rücksicht auf Steuerleistung das Wahlrecht. In der allergrößten Zahl der Fälle ist aber mit der „Intelligenz“ ein Einkommen verknüpft, welches größer ist als jenes Minimum, welches zur Zahlung direkter Steuern verpflichtet und zum Wählen berechtigt.
Die Zahl der Wähler, die ihr Privilegium nur ihrer Bildung oder Stellung verdanken, ist eine verschwindend geringe. Man kann also auch in Wien sagen, daß der Besitz respektive das Einkommen, das Wahlrecht bedinge.
Nun sehe man sich die letzte Rubrik der folgenden Tabelle an. Man wird finden, daß die Zahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Bezirken in geradem Verhältnis zur Wohlhabenheit seiner Bewohner steht. Während im ganzen 25,8 Prozent der Volljährigen Wähler sind, also ein Viertel derselben, finden wir im I. Bezirk, dem Sitz des Reichtums, daß die Wählerschaft 48,39 Prozent, also fast die Hälfte der Volljährigen, ausmacht. Im X. Bezirk hingegen gibt es unter 100 Volljährigen nur 10,85 Wähler, also nur ein Zehntel!
Die Wiener Gemeinderatswahlen im Jahre 1890 |
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|
Gesamtzahl der bei der |
Zahl der Wahlberechtigten im Wahlkörper |
Auf 100 volljährige |
|||
|
||||||
I |
II |
III |
I–III |
|||
I |
16.606 |
1.318 |
2.799 |
3.831 |
7.948 |
48,39 |
II |
40.805 |
408 |
1.320 |
6.341 |
8.069 |
19,72 |
III |
28.673 |
423 |
2.318 |
4.194 |
6.935 |
29,90 |
IV |
14.980 |
418 |
1.266 |
3.273 |
4.957 |
32,47 |
V |
21.566 |
193 |
794 |
3.115 |
4.102 |
19,28 |
VI |
16.076 |
383 |
830 |
3.781 |
4.994 |
31,57 |
VII |
17.634 |
515 |
1.139 |
4.418 |
6.072 |
34,13 |
VIII |
12.686 |
277 |
1.196 |
2.504 |
3.977 |
30,80 |
IX |
20.844 |
323 |
1.236 |
3.292 |
4.851 |
24,22 |
X |
19.606 |
92 |
414 |
1.537 |
2.043 |
10,85 |
I bis X |
209.666 |
4.350 |
13.312 |
36.186 |
53.948 |
25,84 |
Noch ärger erscheint die Sache, wenn man die Zahl der Wähler in den Wahlkörpern ins Auge faßt. Bekanntlich sind die Gemeindewähler nach ihrer Steuerleistung in drei Wahlkörper gruppiert, deren jeder nach der 1890 geltenden Wahlordnung zusammen 40 Gemeinderäte zu wählen hatte. Die 4.350 Hausherren und sonstigen Standespersonen des I. Wahlkörpers verfügen über ebensoviel Stimmen im Gemeinderat wie die 36.286 Kleingewerbe treibenden des III. Wahlkörpers; der reiche Mann hat also einen neunmal so großen Einfluß auf die Stadtverwaltung als der vielumworbene „kleine Mann“, der ja seinerseits auch schon zu dem privilegierten obersten Viertel gehört. Die folgenden Tabellen zeigen das im einzelnen, und aus der letzten ist zu ersehen, daß, während die Gemeinderatsmandate innerhalb jedes Wahlkörpers auf die zehn Bezirke nicht allzu ungleichmäßig verteilt sind, die Abstufung in der Intensität des Wahlrechtes nach den Wahlkörpern in allen Bezirken hervortritt. Überall und für ganz Wien ergibt sich das Verhältnis 1 : 3 : 9, das heißt, der Wähler des I. Wahlkörpers hat dreimal so viel Wahlrecht als der des II. Wahlkörpers und neunmal so viel als der des III. Wahlkörpers.
Die Zahl der Gemeinderäte Wiens 1890 |
|||||||||||
Wahlkörper |
im Bezirk |
||||||||||
I |
II |
III |
IV |
V |
VI |
VII |
VIII |
IX |
X |
Zusammen |
|
I |
11 |
4 |
5 |
4 |
2 |
3 |
5 |
2 |
3 |
1 |
40 |
II |
5 |
5 |
4 |
4 |
3 |
3 |
4 |
4 |
4 |
4 |
40 |
III |
5 |
6 |
5 |
3 |
4 |
4 |
4 |
3 |
4 |
2 |
40 |
I bis III |
21 |
15 |
14 |
11 |
9 |
10 |
13 |
9 |
11 |
7 |
120 |
Es entfielen auf einen Gemeinderat: |
||||
Wahlberechtigte (1890) |
in allen drei |
|||
im Bezirke |
im Wahlkörper |
|||
I |
II |
III |
||
I |
119 |
559 |
766 |
378 |
II |
102 |
264 |
1.056 |
537 |
III |
84 |
579 |
838 |
495 |
IV |
104 |
316 |
1.091 |
450 |
V |
96 |
264 |
778 |
455 |
VI |
127 |
276 |
945 |
499 |
VII |
103 |
286 |
1.104 |
467 |
VIII |
138 |
299 |
834 |
441 |
IX |
107 |
309 |
823 |
441 |
X |
92 |
103 |
768 |
291 |
I bis X |
108 |
332 |
907 |
449 |
Wien – und das gilt von allen anderen Gemeinden Österreichs ebenso – hat keine Gemeindevertretung, sowenig Österreich eine Volksvertretung hat.
Dort wie hier läßt sich eine kleine, privilegierte Minorität das Joch einer noch kleineren Zahl von Protzen gefallen, nur um ihr Privilegium nicht aufgeben zu müssen.
Die Folgen sind in der Gemeindeverwaltung dieselben wie im Staate: gänzliche Ohnmacht, rettungslose Versumpftheit, borniertestes Cliquenwesen, brutalster Egoismus.
1. Diese Ziffern beziehen sich also noch auf die alten zehn Bezirke Wiens. Ohne Zweifel sind die Gegensätze im vergrößerten Stadtgebiet noch krasser. Aber das im Jahre 1893 erschienene Statistische Jahrbuch der Stadt Wien behandelt das Jahr 1890, und da wir prinzipiell nur offizielles Material benützen, mußten wir uns mit den Daten von 1890 begnügen. (v. a.)
Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020