Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 4. Die nationale Kulturgemeinschaft der Germanen im Zeitalter des Sippschaftskommunismus


Die Grundlage der Gesellschaftsverfassung der Germanen war die Sippschaft oder Magschaft. In der Zeit, in der die römischen Schriftsteller, denen wir die ältesten ausführlichen Nachrichten über die Germanen verdanken, das Leben der Germanen gesehen, bestand die Sippschaft aus einer größeren Zahl blutsverwandter Personen, die von einem Manne durch Männer abstammten.

Die Sippschaft war vor allem die Grundlage der Organisation der germanischen Wirtschaft. Um die Zeit, als Cäsar mit den Germanen kämpfte, hatten sie die Wirtschaftsstufe des nomadisierenden Ackerbaues erreicht. Noch bebauten sie nicht jahraus, jahrein denselben Boden, sondern alljährlich nahmen sie neues Wildland in Anbau; denn herrenloses, unbebautes Land war im Überflusse vorhanden. Alljährlich teilten die Häuptlinge, die an der Spitze der Völkerschaften standen, den einzelnen Sippschaften Land zu, die es dann gemeinsam bebauten. Die Sippschaft also ist es, die alljährlich neues Land zu eigen erhält; die Sippschaftsgenossen bebauen in der ersten Zeit des Ackerbaues gemeinsam das Land.

Auf der Sippschaft beruhte auch die Heeresverfassung der Germanen. Die Männer einer Sippschaft kämpften in der Schlachtreihe nebeneinander.

Die Sippschaft war es auch, die dem einzelnen den Frieden wahrte. Hatte ein Germane den anderen verletzt oder getötet, so verfolgte die ganze Sippschaft des Verletzten den Täter. Die Sippschaft des Täters aber gewährte dem Verfolgten Schutz. So war die Folge jedes Friedensbruches die Fehde der beiden Sippschaften. Mit einem Sühnvertrag der beiden Sippschaften endete die Fehde. Die Sippe des Täters zahlte den Magen des Verletzten die Busse. Und als später an Stelle des freien Sühnevertrages der Sippschaften der Sühnevertrag vor Gericht trat, erschienen doch mit dem Kläger und Beklagten noch seine Magen als Eideshelfer vor Gericht.

Aus solchen Sippschaften bestanden die kleinen Gemeinwesen, in die die Germanen zerfielen, die Völkerschaften. Die Völkerschaft hat keinerlei feste Beziehung zum Grund und Boden; sie ist nicht eine territoriale Körperschaft, das heißt ein Verband aller, die auf einem bestimmten Stück Boden sesshaft sind – wie hätten sie das auch sein können in einer Zeit, in der die Germanen die Kulturstufe des Nomadentums noch nicht völlig überwunden hatten? – sondern ein Verband zusammengehöriger Sippschaften. Auch die Verbände, die wir innerhalb der Völkerschaft finden, die Hundertschaften und Tausendschaften, in die sich das Heer gliederte und die zur Grundlage der allmählich aus den Fehden der Sippschaften erwachsenden Gerichtsverfassung wurden, sind nicht territorial begrenzt, nicht Gerichtsbezirke oder Heeresergänzungsbezirke, sondern sie sind Personenverbände, engere Verbände von Sippschaften innerhalb der Völkerschaft.

Die Völkerschaften hatten untereinander keinen Verband. Sie sind selbständige politische Gemeinwesen, die selbständig Kriege führen, sich miteinander verbünden oder einander befehden wie selbständige Staaten.

Wo besteht nun in jener Zeit die Nation? Nach einem Nationalstaat dürfen wir natürlich nicht suchen; denn die Völkerschaften eint keine gemeinsame politische Gewalt. Wo finden wir die Nation?

Die gemeinsame Abstammung ist es vor allem, die die Germanen jener Zeit zu einer Nation macht. Noch beruht ja aller soziale Verband auf gemeinsamer Abkunft: die Sippschaft ist die feste Grundlage jedes gesellschaftlichen Verbandes. Eine Reihe von stammesverwandten Sippschaften bildet die Völkerschaft und alle Völkerschaften bilden die Nation; die Nation erscheint gleichsam als die Sippschaft der Völkerschaften, der Verband aller Völkerschaften gemeinsamer Abstammung von einem germanischen Urvolk. Das war auch die Vorstellung der alten Germanen. „In altehrwürdigen Liedern,“ erzählt uns Tacitus, „der einzigen Form ihrer geschichtlichen Überlieferung, feiern sie den Gott Tuisto, den Sohn der Erde, und seinen Sohn Mannus als die Begründer ihres Volkes.“

Freilich verknüpft die Germanen auch mit anderen indogermanischen Völkern gemeinsame Abstammung. Ihre nächsten Verwandten sind wohl die Kelten und Slaven. Aber tief in geschichtliches Dunkel uralter Zeit gehüllt ist die Lostrennung zunächst der Kelten von dem gemeinsamen Stammvolke. Viel später scheinen sich die Germanen von den Slaven geschieden und zunächst in dem Lande zwischen Oder und Weichsel, an den Gestaden der Ostsee, ein gemeinsames Leben geführt zu haben. Viele, viele Jahrhunderte müssen vergangen sein, ehe aus dem gemeinsamen germanischen Urvolke jene Völkerschaften entstanden sind, die Cäsar und Tacitus beschrieben haben.

Gemeinsame Abstammung aber erzeugte gemeinsame Kultur. All den verschiedenen germanischen Völkerschaften, die allmählich aus dem ursprünglichen Stammvolke entstanden sein dürften, ist gemeinsam die von den Ahnen überlieferte Sprache, gemeinsam sind ihnen die Vorstellungen vom Sittlichen und Unsittlichen, gemeinsam ist ihnen das Recht, gemeinsam sind ihnen die religiösen Vorstellungen, gemeinsam die überlieferten Formen der Produktion. Das Schicksal des Stammvolkes an der Ostseeküste hat eine bestimmte Kultur erzeugt, die zum Erbe aller dieser Völkerschaften geworden ist. Denn das Leben aller dieser Völkerschaften ist eng eingeschlossen m die Überlieferung. Nur langsam wandelt sich das Recht bei Völkern, die keine Gesetzgebung kennen, sondern denen das überlieferte Recht als ein Geschenk der Götter erscheint, das nicht von Menschen zu schaffen, sondern nur von den Volksgenossen in der Versammlung der wehrhaften Männer zu finden ist; nur langsam verändert sich die Kunst des Landbaues und der Güterverarbeitung bei Völkern, welche keine planmäßig forschende Wissenschaft kennen, die nach zweckmäßiger Beherrschung der Naturkräfte für die Zwecke des Menschen sucht, sondern wo der Sohn vom Vater oder Mutterbruder die einfache Technik lernt. So wird die ganze Kultur jener Menschen fortgepflanzt von Geschlecht zu Geschlecht und in den überlieferten Kulturelementen all dieser Völkerschaften, die schon völlig getrennt voneinander, in verschiedenen Gebieten verschiedenes Schicksal erleben, überwiegen noch immer jene allen gemeinsamen Kulturbestandteile, die ererbt, überliefert sind aus den Zeiten des gemeinsamen Stammvolkes.

So tragen alle Germanen gleichartigen Charakter. Wie sie nach Tacitus alle körperlich einander gleichen mit den starken Körpern und dem rotblonden Haar und den blauen Augen, so waren sie auch in ihrer Art vorzustellen und zu denken, zu fühlen und zu wollen einander ähnlich. Wir dürfen wohl von einem germanischen Nationalcharakter in jener Zeit sprechen: er war erzeugt durch das gern einsame Schicksal derer, die ihrer aller Ahnen waren. Das gemeinsame Schicksal des Stammvolkes hatte gemeinsamen Charakter erzeugt und dieser Charakter war vererbt worden auf alle germanischen Magschatten und Völkerschaften: vererbt einmal auf dem natürlichen Wege, wie die Kinder immer Vater und Mutter gleichen; vererbt aber auch auf dem Wege der Überlieferung der Kultur des Stammvolkes, auf der die Kultur aller seiner Nachkommen beruhte. Wie die Germanen jener Zeit eine Naturgemeinschaft sind, in deren Charakter sich das Schicksal des Stammvolkes in allen Völkerschaften spiegelt kraft der erhaltenen Macht des Keimes, der von Vater und Mutter übergeht auf die Kinder, so sind sie auch eine Kulturgemeinschaft, da in der Kultur aller dieser Völkerschaften die Kultur des Stammvolkes noch lebendig war und darum alle diese Völker eingeschlossen waren in gleichartige Arbeit, gleichartige soziale Verhältnisse, gleichartiges Recht, gleichartige religiöse Vorstellungen, gleichartige Sprache, gleichartige Lebenssitten. Gemeinsame Abstammung und von gleichem Stamm überlieferte und darum gemeinsame Kultur erzeugte in ihnen alle jene Gemeinschaft des Charakters, die sie zu einer Nation machte. So ruht hier die Charaktergemeinschaft der Germanen fest auf der gemeinsamen Abstammung, die auf jeden einzelnen von ihnen einwirkt, in jedem von ihnen gleichartige Naturanlage hervorbringt, jedes einzelnen Charakter durch gleichartige Kulturüberlieferung formt.

Und diese Kulturüberlieferung ist in der Tat allen Germanen gemeinsam. Gemeinsam zunächst in dem Sinne, dass innerhalb der Völkerschaft keiner von ihr ausgeschlossen ist, alle an ihr gleichen Teil haben. Denn die auf dem Gemeineigentum der Sippschaft beruhende Völkerschaft kennt keine sozialen Unterschiede, die zu Kulturunterschieden würden: jeder Germane hat teil am Thing, an der Volksversammlung, die über Krieg und Frieden, über Wanderung und Besiedlung entscheidet; jeder hat teil an der Gerichtsversammlung, die nach uralten überkommenen Grundsätzen, deren Ursprung sich im Dunkel längstvergangener Zeiten verliert und die darum als göttlich gelten können, die Fehden der Sippschaften schlichtet; jeder Germane hat gleichen Teil an der Kunst des Feldbaues, lernt in gleicher Weise von den Eltern die Regeln der Viehzucht, der Stoffverarbeitung, der Jagd. Mag von altersher eine und dieselbe Sippschaft der Völkerschaft den König schenken, mag bald aus der, bald aus jener Sippschaft der Kühnste zum Herzog gewählt werden: an der primitiven Kultur der Nation haben alle ihren Anteil, auf jeden wirken die überlieferten Bestandteile der Kultur mit gleicher Macht, in jedem sind sie gleich stark wirksam, jedem erzeugen sie mit gleicher Kraft sein ganzes bleibendes Sein, seinen Charakter.

Und noch in einem anderen Sinne gibt es damals eine nationale germanische Kultur. Denn noch trennt keine feste Grenze die Stämme, die später zu Ahnen des deutschen Volkes wurden, von den anderen germanischen Stämmen. Es hieße die Ergebnisse weit späterer Entwicklung in das Zeitalter des Sippschaftskommunismus hineintragen, wollten wir in jener Zeit von einem deutschen Volke sprechen. Die auf gemeinsamer Abstammung festruhende Kulturgemeinschaft macht noch alle Germanen zu einer Nation.

Aber freilich, jede solche Nation, deren einigendes Band gemeinsame Abstammung und die auf der gemeinsamen Überlieferung von einem Stammvolke beruhende Kultur ist, trägt in sich den Keim des Zerfalles, die Neigung zur Absonderung verschiedener Nationen aus dem einen, ursprünglich gemeinsamen Volke. Das ist ein allgemeines Gesetz: Jede Nation, deren Kulturgemeinschaft auf nichts anderem als auf gemeinsamer Abstammung beruht, wird durch die Gefahr der nationalen Differenzierung bedroht.

Machen wir uns dies an dem uns geläufigen Beispiel der Familie klar. Die Kinder desselben Vaters, derselben Mutter kennen einander als Geschwister. Sie ähneln körperlich einander. Ihr Charakter ward bestimmt durch dieselben Erlebnisse im Elternhause, denselben Einfluss der Eltern, durch ähnliche Schicksale. In der nächsten Generation mag die Gemeinschaft noch erhalten bleiben: auch zwischen den Geschwisterkindern mag durch Blutsgemeinschaft und gleichartigen Einfluss noch manche Ähnlichkeit bestehen. Mit jeder Generation verschwindet mehr und mehr die Ähnlichkeit. Die lebende deutsche Sprache hat für die Enkel der Geschwister nicht einmal einen Namen mehr, mit dem sie ihre Zusammengehörigkeit bezeichnen würde, und wer von uns erkennt noch in dem oder jenem, dem er im Leben begegnet, die Blutsgemeinschaft, die ihn darum mit dem Fremden verbindet, weil in der 6. oder 8. oder 10. Generation die Stammbäume beider auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführen?

Ganz ähnlich ist es nun bei den Nationen auch, sofern sie wirklich nichts anderes eint als die gemeinsame Abstammung, mag diese auch nicht nur durch die Gemeinsamkeit des Keimes, sondern auch durch die Gemeinsamkeit der überlieferten Kulturelemente wirksam sein.

Zunächst wird allmählich selbst die Naturgemeinschaft locker! Gewiss, in dem gemeinsamen Stammvolke der Germanen hatte gleiches Schicksal gleiche Charaktere erzeugt: im Kampfe um das Dasein waren die untergegangen, die den Lebensbedingungen jenes Volkes nicht angepasst waren, und so hatten die gleichartigen Lebensbedingungen das Überleben gleichartiger Individuen begünstigt, Gleichartigkeit der Nachkommen erzeugt. Und der gleichartige Typus, der da entstanden war, vererbte sich weiter: in dem Germanen an der Nordseeküste lebte er so gut wie in dem am Oberrhein. Aber nun begannen verschiedene Kräfte auf die örtlich geschiedenen Völkerschaften einzuwirken. Die äußeren Daseinsbedingungen der Völkerschaften waren ganz verschieden geworden; der Kampf ums Dasein blieb weiter wirksam, aber er wirkte ganz anders bei den Friesen, die an der Meeresküste wohnten, als bei den Chatten oder Cheruskern, anders im Westen als im Osten, anders bei den Germanen, die Kampf um Kampf mit den Römern zu bestehen hatten, als bei den Völkerschaften, die unermesslicher Urwald vor den römischen Legionen schützte. So differenziert sich selbst die Naturanlage der Völkerschaften: von Jahrhundert zu Jahrhundert werden schon ihre Kinder voneinander verschiedener. Und diese Verschiedenheit wurde durch keine Wechselheiraten mehr überwunden, denn, weite Ländergebiete trennten schon die germanischen Stämme und kein Verkehr konnte sie alle fürderhin verbinden.

Was aber selbst von der Vererbung natürlicher Anlagen gilt, das gilt von der Kulturüberlieferung noch ungleich mehr. Wie unendlich verschiedenartig waren im Laufe der Jahrhunderte die Einflüsse geworden, die die Kultur der Völkerschaften bestimmten! Diese Tatsachen mussten im Laufe der Jahrhunderte auch die Kultur der Völkerschaften differenzieren. Ein gemeinsamer Kern, durch Jahrhunderte überliefert, musste ja bleiben; aber immer mehr und mehr mussten die Jahrhunderte ihr Zerstörungswerk an ihm verrichten und den einzelnen Völkerschaften, fast unbemerkt, im Wege einer unaufhörlichen Entwicklung Stück für Stück neue Kulturelemente schenken, die nicht mehr gleichartig, sondern differenziert, verschieden waren. Zwischen Chatten und Friesen gab es keinen Verkehr; die Erlebnisse beider, die Schicksale beider waren völlig verschieden. Musste nicht allmählich die Sprache des Chatten von der des Friesen immer verschiedener werden? Mussten nicht die Arbeitsweise beider, ihre Rechtsverfassung, ihre Anschauungen, Sitten, ihre religiösen Vorstellungen mehr und mehr verschieden werden? So droht wirklicher Zerfall der einheitlichen Nation der Germanen: Je weiter sie ihr Gebiet ausdehnen und je mehr sie zu sesshaftem Ackerbau übergehen, mit dem Boden verwachsen, desto mehr hört Gemeinschaft, Verkehr, Wechselheirat zwischen ihnen auf; je mehr ihre Schicksale sich verschieden gestalten, desto mehr ändert sich ihr Charakter. Je größer die Verschiedenheiten der auf sie wirkenden äußeren Einflüsse, je größer die Landstrecken sind, die sie trennen, desto mehr differenziert wird auch ihre Sprache, so dass sie selbst das Werkzeug gemeinsamen Verkehres allmählich verlieren. So droht der germanischen Nation Zerfall in eine Reihe selbständiger Nationen.

Diese Nationen, in die die germanische Nation zu zerfallen beginnt, sind aber nicht etwa die zahllosen Gemeinwesen der Germanen, die Völkerschaften, sondern die Stämme. Völkerschaften – überwiegend von gemeinsamer Abkunft, die nebeneinander wohnen, nicht durch große Ströme oder Gebirgszüge voneinander getrennt sind, unter gleichen Kultureinflüssen stehen, manches Schicksal gemeinsam erleiden, vielfach im Verkehr miteinander bleiben, insbesondere auch durch Wechselheiraten verbunden sind, werden einander immer gleichartiger, bilden einen gleichartigen Stammescharakter aus. Im fortwährenden Verkehr erhält sich die gemeinsame Sprache; fortwährende Wechselheiraten schaffen Gemeinschaft des Blutes; die Besiedlung desselben Landes, der Kampf mit denselben Feinden, das gleiche Schicksal schafft gleichartige Charaktere; der fortwährende Verkehr überträgt die Erfahrungen der verwandten und nahe beieinander wohnenden Völkerschaften aufeinander und prägt so immer mehr eine einheitliche Stammeskultur aus. Während das Band, das alle Germanen verbindet, immer lockerer wird, ersteht der Stamm, immer deutlicher von den Nachbarstämmen geschieden, als die Gemeinschaft der Völkerschaften gleicher Abstammung und Gesittung. Der Germane wird zum Alemannen und Franken, zum Sachsen und Bayern, zum Goten und Vandalen.

Die Differenzierung der Stämme war zunächst eine Wirkung der durch den Übergang zum sesshaften Ackerbau, durch die territoriale Isolierung der Völkerschaften geförderten, von Geschlecht zu Geschlecht wachsenden Verschiedenheit innerhalb des germanischen Gesamtvolkes. Sie wird gefördert durch eine bedeutsame Veränderung in der politischen Organisation, die gleichfalls in wirtschaftlichen Umwälzungen ihre letzte Ursache hatte. Zwei große historische Erscheinungen sind es, die die alte politische Organisation der Germanen veränderten: einerseits wiederum der Übergang zum sesshaften Ackerbau, andererseits der Landhunger der Germanen unter dem drängenden Druck der Völker des Ostens wie unter dem Druck der eigenen wachsenden Volkszahl.

Noch Tacitus’ Zeit hatte keinen Mangel an Boden gesehen; „et superest ager“, sagt Tacitus, Land ist im Überfluss vorhanden! Aber mit der wachsenden Volkszahl versiegte allmählich das Ackerland, die extensive Kultur erlaubte es noch nicht, auf dem alten Roden der Germanen die wachsende Menschenmenge zu ernähren. Kein Wunder, dass der Landhunger in den krieggewohnten Stämmen erwachte. Wo aber wäre es leichter gewesen, Land zu erobern, als in den weiten, von alter Kultur getränkten Gebieten des altersschwachen Römerreiches, dessen morsche Grenzmauern dem Ansturm der Barbaren nicht zu widerstehen vermochten? Aber zum Kampfe mit den Römern waren die einzelnen Völkerschaften zu schwach. So einten sich die durch Blutsgemeinschaft und gleichartige Kultur einander nahestehenden Völkerschaften zunächst zu militärischem Bündnis, aus dem immer mehr und mehr ein dauerndes Gemeinwesen wurde. Es entsteht der Stamm unter einem Stammeskönig als germanisches Gemeinwesen. Auch bei Jenen Germanen, die nicht der Kampf mit den Römern zur politischen Einigung des Stammes trieb, machte die Sesshaftigkeit die Verbindung der Völkerschaften zum Stamme notwendig. Denn nun konnte nicht mehr die Gesamtheit der wehrhaften Männer in den Krieg ziehen wie in den Zeiten des Nomadentums. So war die Völkerschaft militärisch zu schwach, da einen Teil ihrer wehrhaften Mannschaft immer die Feldarbeit in der Heimat zurückhielt; wollte sie im Kampfe gegen ihre Feinde sich behaupten, so bedurfte sie des Zusammenschlusses mit den Nachbarvölkerschaften zum politisch geeinten Stamme. Die durch die Sesshaftigkeit militärisch geschwächten Völkerschaften schlössen sich zusammen zum Völkerschaftsbunde, aus dem der Stamm als politisches Gemeinwesen erwuchs. Um das Jahr 350 standen die Alemannen unter mindestens zehn Königen; ein Jahrhundert später bilden sie ein geeinigtes Gemeinwesen. Wenig später beseitigt der Franke Chlodwig mit List und Gewalt die kleinen Teilkönige der Völkerschaften und begründet das Stammeskönigtum seines Hauses. [1]

Die Stürme der Völkerwanderung haben diese Stämme immer fester gefügt. Das gleiche Geschick in jenen kriegerischen Zeiten verwischte allmählich die Völkerschaftsgrenzen innerhalb des Stammes, machte den Stamm zu einer einheitlichen Nation. Gleichzeitig aber ging auch sehr schnell die alte kulturelle Gemeinsamkeit der Germanen verloren. Die Stämme, denen die Eroberung der auseinanderfallenden Teile des alten Römerreiches geglückt, mitten hineingestellt in die alte überlegene Kultur, entfremden sich bald völlig den in der Heimat zurückgebliebenen Stämmen. Aber auch diese trennt, seit sie sesshaft geworden, eine immer breiter werdende Kluft. Es ist die Zeit, da die Lautverschiebung Ober- und Niederdeutsche zu trennen begann und eine sprachliche Kluft zwischen den beiden Teilen der in der alten Heimat zurückgebliebenen Nation aufriss, die heute noch nicht überbrückt ist. Was könnte die wachsende Entfremdung der Stämme, das völlige Fehlen jeder Gemeinschaft des Verkehrs deutlicher kennzeichnen als die sprachliche Zerrissenheit? In den Zeiten, da die Sesshaftigkeit die Germanen voneinander immer mehr und mehr getrennt und noch nicht auf der Grundlage der Grundherrschaft die gemeinsame Kultur einer herrschenden Klasse erwachsen war, gibt es keine germanische Nation mehr und noch keine deutsche: Die alte Nation war zerrissen in eine Anzahl einander immer fremder gewordenen Stämme. Stämme, deren Kinder bald als Niederschlag verschiedenen Schicksals ihrer Väter verschiedene Anlagen mit auf die Welt brachten, deren Jünglingen eine verschiedenartige Kultur von den Eltern überliefert wurde, die nur noch selten Wechselheiraten miteinander schlössen, die keine Gemeinschaft des Verkehrs mehr verknüpfte und von denen darum bald jeder seine eigene, vom Nachbarstamme verschiedene Sprache sich schuf. Sollten die Stämme, die uns heute als Vorfahren der deutschen Nation gelten, wieder zu einer nationalen Einheit gelangen, so genügte die alte, auf der gemeinsamen Abstammung vom germanischen Stammvolk beruhende Kulturgemeinschaft nicht mehr, so musste sie erst wieder eine neue Kulturgemeinschaft verknüpfen. Diese neue Kulturgemeinschaft ist zunächst auf dem Boden der Grundherrschaft entstanden.


Fußnote

1. Lamprecht, Deutsche Geschichte, I. Band. S.276f.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008