Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 5. Die ritterliche Kulturgemeinschaft im Zeitalter der Grundherrschaft


Auf dem Hügel eine Burg und rings um sie das Land des Burgherrn. Abseits ein Bauerndorf. Die Bauern verpflichtet, auf dem Herrenlande ohne Entgelt Arbeit zu verrichten, die Fron oder Robot, und dem Grundherrn in regelmäßigen Zeiträumen, bei Todesfällen und Heiraten Abgaben zu leisten; der Grundherr richtet über die Bauern im Hofgericht; er selbst oder sein Vertreter, der Meier, regelt die Nutzung der gemeinen Mark, des Waldes und der Weide; er bietet die Landgemeinde auf, wenn der Feind in das Land einfällt. Das etwa ist das Bild der Grundherrschaft, auf der die Gesellschaftsverfassung der Deutschen während des Mittelalters ruhte.

Die Grundherrschaft ruht auf der ungezählten Arbeit, auf der Ausbeutung der Bauern. Freilich auf einer Ausbeutung, der enge Grenzen gesetzt sind. Denn das Getreide, das der Bauer für den Grundherrn auf dem Herrnlande erntet, das Vieh, das der Bauer als Abgabe leisten muss, wird in der Regel nicht verkauft: noch gibt es keinen Markt für landwirtschaftliche Produkte, noch baut sich jedermann sein Getreide selbst. So brauchen auch die Bauern dem Grundherrn nicht mehr erarbeiten, als dieser mit seiner Familie und seinem Gesinde verzehren kann. „Die Magenwände des Grundherrn waren die Grenzen der Ausbeutung des Bauern.“

Die Grundherrenklasse aber nimmt als Gegenleistung für die Arbeit der Bauern auch eine gesellschaftliche Aufgabe auf sich, nämlich die Verteidigung des Landes nach außen. Dies ist eng verknüpft mit jener Umwälzung im Heerwesen, die die wachsende engere Verknüpfung des Bauern mit dem Boden, auf dem er sitzt, seit dem Übergange zum sesshaften Ackerbau bewirkte. Schon in dem Zusammenschluss der Völkerschaften zum Stamme fanden wir diese Umwälzung als eine treibende Kraft. Je intensiver die Kultur wurde, desto unmöglicher ward es, die Bauern aufzubieten zu weiter Heerfahrt. So zieht der Bauer nicht mehr in den Krieg, sondern ernährt statt dessen durch seine Arbeit den Grundherrn und dessen Gesinde; sie ziehen dann statt seiner ins Feld. Die alte Heeresverfassung ward durch die neue Wirtschaftsverfassung gesprengt. Nur wenn der Feind in das Land einbricht, ergreift noch der Bauer selbst die Waffen. Das Angriffsheer aber ist kein Fußvolk mehr, wie es das germanische Heer im Zeitalter des Tacitus überwiegend gewesen. Wie wäre es auch möglich gewesen, dass etwa in dem weiten, über Frankreich, Deutschland, Italien sich ausdehnenden Reiche der Karolinger in jener verkehrsarmen Zeit die Grundherren und ihr Gesinde zu Fuß zusammenstoßen. um gegen die gemeinsamen Feinde zu kämpfen! Wie diese Feinde zu Pferde kamen – Araber, Avaren, Magyaren – so wurde auch das aus den Grundherren und ihren Gefolgschaften sich zusammensetzende Heer ein Reiterheer. So scheidet das Merkmal der Lebensweise das Volk in zwei Teile: auf der einen Seite die Bauern, langst sesshaft geworden auf ihrer Scholle; auf der anderen die ritterlich lebenden Grundherren und ihre Gefolgschaften, deren einzige gesellschaftliche Bestimmung die Verteidigung des Landes gegen den Feind ist. Die ritterliche Klasse aber ist natürlich die herrschende: der Bauer, der ihr die Führung der Waffen anvertraut, hat ihr damit auch das Werkzeug der Macht in die Hand gegeben, hat sich ihrer Herrschaft unterworfen.

Uns interessiert hier der lange historische Prozess nicht, in dem aus der alten Gesellschaftsverfassung der Germanen die Grundherrschaft und mit ihr die Differenzierung der Ritter und der Bauern entstanden ist. Uns kümmern auch die Veränderungen nicht, die die Grundherrschaft selbst während des Mittelalters erfahren. Die Frage, die uns hier beschäftigt, ist nur die: Wo ist im Zeitalter der Grundherrschaft die Nation?

Da müssen wir uns nun zunächst hüten, noch immer. in der gemeinsamen Abstammung das zu suchen, was die Nation allerwärts zusammenhielt. Denn längst hat einerseits die territoriale Sonderung der Stämme, andererseits die Aufsaugung fremder Elemente die alte Naturgemeinschaft, auf der auch die germanische Kulturgemeinschaft noch ruhte, zerstört.

Zunächst die territoriale Isolierung! Sie wirkt am stärksten auf den Bauern ein. Kein Band des Verkehrs verknüpft mehr die Bauern verschiedener Gebiete, verschiedener Stämme. Keine Wechselheiraten vermengen mehr ihr Blut. Die natürliche Auslese wirkt anders in jedem Land, in dem die Lage, das Schicksal, der Daseinskampf der Bauern ein verschiedenartiger ist; und kerne Vermischung gleicht die so entstandenen Unterschiede aus. So werden die Bauern fast jeden Tales eine eigene Rasse, in der der Daseinskampf einen eigenen Typus hervorgebracht hat, den keine Vermischung mit dem Nachbarvolk vermengt. Viel stärker als die gemeinsame Abstammung von einem Urvolk her wirkt seit Jahrhunderten die Verschiedenheit der Abstammung von verschiedenen Stämmen, von verschiedenen Stammesteilen, die längst, abgesondert von den Bauern anderer Landesteile, ihr selbständiges Leben führen. Was hat der Oberfranke etwa, nicht nur mit dem Sachsen, sondern auch nur mit dem Niederfranken gemein?

Aber zur territorialen Isolierung, die die Volksstämme immer mehr und mehr differenziert, aus dem einheitlichen Volke eine Unzahl auch der Abstammung, der Naturanlage nach verschiedener Völklein entstehen lässt, kommt noch die Vermischung mit fremden Völkern, die den Charakter der alten Naturgemeinschaft um so mehr verwischen musste, als die Vermischung in den verschiedenen Teilen Deutschlands ganz verschiedenartig gewesen ist.

Das erste Volk, das außer dem germanischen, dem heutigen deutschen Volke Blut zugeführt hat, sind, soweit unsere geschichtliche Überlieferung reicht, die Kelten. Im Dunkel der Geschichte verlieren sich die Nachforschungen über die ältesten Verkehrsbeziehungen zwischen Kelten und Germanen; Gräberfunde beweisen, dass die Germanen von den Kelten Waffen und Hausgerät aller Art eingetauscht und von ihnen mancherlei in der Kunst der Stoffverarbeitung, besonders der Metallverarbeitung, gelernt haben. Selbst weit im Norden standen die Germanen unter dem Einflüsse jener keltischen Kulturkreise, die wir aus den Funden von Hallstatt und La Tène kennen. Auch die Sprachvergleichung lehrt, dass manches keltische Wort frühzeitig in den germanischen Sprachschatz eingegangen sein muss. Viel enger wurden aber die Beziehungen der beiden Völker, als die Germanen in keltisches Gebiet einzudringen begannen. Zwischen Oder und Weichsel waren höchstwahrscheinlich die ältesten Sitze der Germanen. Von hier aus drängen sie langsam in das Land zwischen Rhein und Oder vor und bald selbst über den Rhein. Dieses Land aber war kein herrenloses Land; dort saßen lange vor ihnen die Kelten. Wie sich das Verhältnis der beiden Nationen zueinander ursprünglich gestaltete, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass schließlich die Germanen der Kelten Herren geworden. Vielleicht hängt dies mit den großen Wanderungen der Kelten zusammen, die im 4. Jahrhundert v. Chr. in Italien, im 3. Jahrhundert in Thrakien, Makedonien, Griechenland und Kleinasien einfallen. Durch den Auszug eines großen Teiles des Volkes auf dem Boden des heutigen Westdeutschland geschwächt, sind die zurückgebliebenen keltischen Völkerschaften wahrscheinlich von den Germanen unterworfen worden. Auch Cäsar weiß davon zu berichten, dass der germanischen Herrschaft in Deutschland eine Zeit vorausgegangen war, wo die Kelten militärisch und politisch stärker waren als die Germanen. [1]

Wie geschah nun das Einrücken der Germanen in keltisches Land? Kein Zweifel, häufig rückten die Germanen in Gebiete ein, die die keltischen Völkerschaften vorher verlassen hatten. So fanden die Germanen im heutigen Württemberg und Baden das Land leer, das einst den Helvetiern gehört hatte; ebenso wanderten die Belger aus, als die Germanen das Land besetzten. Aber gewiss ist auch, dass die Germanen auch keltische Gebiete erobert haben, in denen wenigstens Teile des keltischen Volkes zurückgeblieben waren, und dass sie diese Kelten in verschiedenartige Abhängigkeitsverhältnisse gebracht haben. Keltische Orts- und Flussnamen lassen uns heute noch erraten, dass das Land nicht leer und wüst, sondern von Kelten bewohnt war, das die Germanen besetzten. Auch in der Art der Siedelung und Flurteilung hat man keltischen Ursprung erkannt.

Was war nun das Schicksal der Kelten, wenn die Germanen in ihr Land einrückten? Darf man annehmen, dass die germanischen Sippschaften sich mit den Kelten vermengt haben? In den späteren Zeiten, insbesondere in den Zeiten der großen Wanderung ist dies gewiss oft geschehen. Im Heere der Zimbern fanden sich auch zahlreiche keltische Heerhaufen. Die ostgermanischen Völkerschaften, die das Römerreich vernichteten, führten durchwegs fremde, sehr häufig auch keltische Elemente mit sich. Wo die Kelten in den germanischen Sippschaften nicht aufgegangen sind, dort lebten sie zunächst abgesondert als Unfreie und Halbfreie. Angesiedelt auf dem Lande, zahlten sie den Germanen Tribut und standen unter der Gewalt der germanischen Gemeinwesen. Kein Zweifel, dass sich unter den Halbfreien und Unfreien, von denen uns Tacitus berichtet, sehr zahlreiche keltische Elemente befunden haben. Für die Erkenntnis der Abstammung der Germanen ist dies darum wichtig, weil diese Halb- und Unfreien später durchaus aufgegangen sind im deutschen Volke. Wo die vollständige Aufsaugung der keltischen Elemente in der germanischen Periode oder im Zeitalter der großen Wanderung noch nicht erfolgt ist, dort hat der große Prozess der Klassenbildung im Mittelalter mit seinem Aufgehen der Unfreien in den beiden Gesellschaftsklassen – in den Rittern und Bauern – die vollständige Assimilierung der keltischen Elemente vollendet. Und zwar ist das unfreie und mit diesem das keltische Element eingedrungen in beiden Klassen: sowohl in die der Bauern, als auch in die der Ritter.

Die Klassenbildung des Mittelalters hat den Prozess vollendet, der schon mit der Ansiedlung der Germanen im Keltenlande und mit der Vermischung mit fremden Völkerschaften auf den grossen Wanderungen begonnen hatte: die vollständige Assimilierung des keltischen Elements. Übrigens gab es unter den Unfreien neben germanischen und keltischen zweifellos noch andere Elemente, wenn auch deren Zahl gewiss viel geringer war. Auch die römischen Kriegsgefangenen waren von den Germanen verknechtet worden; auch über die in den Grenzgebieten Germaniens angesiedelten römischen Veteranen erhob sich allmählich germanische Herrschaft. Was für verschiedenartige Elemente mögen da, von den Germanen geknechtet, allmählich ihr Blut mit dem germanischen vermischt haben; denn die Legionen Roms setzten sich ja in der Kaiserzeit aus allen Völkern des Mittelmeerbeckens zusammen! Alle diese Elemente wurden, wenn nicht schon früher, so gewiss durch den Prozess der Klassenbildung im Mittelalter dem deutschen Volke einverleibt.

Aber zu diesen fremden Elementen kam im Mittelalter noch ein weiterer fremder Bestandteil, der gleichfalls im Blute der Deutschen aufgegangen ist, nämlich der slavische. Es hängt dies zusammen mit der Besiedlung Ostdeutschlands durch deutsche Ritter und Bauern. Es ist der große Prozess der Kolonisation des Ostens und Südens, durch den das deutsche Volk große Menschenmassen slavischer Abstammung seinem Körper einverleibt hat.

Die ganze Geschichte des deutschen Volkes von der Zeit an, da, wie Tacitus uns berichtet, Land noch im Überfluss vorhanden war, bis in die letzten Jahrhunderte des Mittelalters ist erfüllt von dem langsamen, zähen Ausbau zunächst des eigenen Landes. Der langsame Fortschritt landwirtschaftlicher Technik erlaubt nur innerhalb enger Grenzen die Teilung der Hufe, wenn der Bauer mit seiner Familie auf seinem Stückchen Land sein Auskommen finden soll. Der erblose Bauernsohn aber schafft sich selbst einen neuen Bauernhof, indem er zunächst in der waldreichen Heimat herrenloses oder grundherrliches Wildland urbar macht. Aber allmählich versiegt in der alten Heimat das Land: seither beginnt jener unermessliche Zug der Bauernsöhne nach dem Nordosten und Südosten, der nicht weniger als drei Fünftel des heute deutschen Landes dem deutschen Volke erobert hat. Die Führung dieser Kolonisation hatte zumeist der ritterliche Adel. Er unterwarf zunächst militärisch die slavischen Völkerschaften, machte die Slaven zinspflichtig und unterwarf sie der deutschen Grafschaftsverfassung. Unter seinem Schutze rückten dann allmählich die deutschen Bauernsöhne (später auch die deutschen Bürger) in das Land ein. Die ausgedehnten Gemeindewälder wurden den Slaven abgenommen und urbar gemacht. Allmählich überfluteten die deutschen Kolonisten die slavischen Bewohner. Und nun begann jener Prozess der Vermischung, in dem das slavische Wesen in dem deutschen schließlich aufgegangen ist. Das wichtigste Werkzeug der Übertragung germanischer Kultur auf die Slaven war hierbei die Kirche. Die Bekehrung der Slaven zum Christentum bedeutete damals ihre Eroberung für die deutsche Gesittung; die Pfarrhöfe wurden zu den Angriffspunkten allmählicher Germanisation. Die Bekehrung der heidnischen Slaven zum Christentum, ihre Unterwerfung unter den deutsch-christlichen Einfluss passte sie allmählich den deutschen Kolonisten an. Wechselheiraten verbanden die beiden Völker. So ging allmählich in den Thüringer Marken, in der Markgrafschaft Meissen, im ganzen heutigen Königreiche Sachsen, in den einst windischen Gebieten am Main das Slaventum im Deutschtum auf. Nicht viel anders war der Weg der Kolonisation in Mecklenburg, in Pommern, in Schlesien, in den Randgebieten Böhmens gewesen, nur dass dort schon die einheimischen Slavenfürsten den deutschen Kolonisten gerufen hatten. Und selbst dort, wo der Deutsche nicht unbebautes Land in Besitz genommen, sondern die Slaven von ihren Ackerfluren verjagt und das erbeutete Ackerland sich angeeignet hat, wie in Brandenburg, wo der Deutsche den Wenden, kaum dass sie neues Ackerland in Besitz genommen, auch dieses wieder abnahm und die harte Unterdrückung gewiss einen beträchtlichen Teil der slavischen Landbewohner ausgerottet hat, selbst dort ist keineswegs das slavische Element völlig vernichtet worden, selbst dort ist es, wenn auch in geringerer Zahl, allmählich von den deutschen Eroberern des Landes aufgesaugt worden. So ist im Nordosten wie im Südosten Deutschlands das deutsche Element überall mit slavischem Blut vermischt. So hat die deutsche Kolonisation des Mittelalters noch einmal das Bild wiederholt, das die Eroberung des keltischen Landes durch die Germanen schon einmal gezeigt hatte: Die alten Besiedler des Landes, von den germanischen Eroberern nur teilweise vertrieben, werden erst unterworfen, dann von den neuen Nachkömmlingen allmählich an Zahl übertroffen und gehen schließlich in ihnen auf, vermengen sich mit ihnen, so dass heute kein Besonnener mehr den Versuch wagen wird, den germanischen und den fremden Bluteinschlag zu unterscheiden. Alle späteren Mischungen, die noch die bürgerliche Epoche dem deutschen Volke gebracht, sind geringfügig im Vergleich mit jenen beiden großen historischen Prozessen, die den keltischen und slavischen Einschlag in das Gewebe des deutschen Organismus verflochten haben. Der heutige Deutsche aber trägt deutlich die Spuren dieser Ereignisse. Nach einer Statistik, die an vier Millionen preußischen und bayrischen Volksschulkindern erhoben wurde, hatten den rein germanischen Typus – weiße Haut, blonde Haare, blaue Augen – in Preußen 35,47 Prozent, in Bayern 20,36 Prozent der Schulkinder! Was aber uns hier vor allem interessiert, ist dies, dass dieser große Prozess der Aufsaugung fremder Elemente notwendig differenzierend wirken musste, die alte, einheitliche Abstammungsgemeinschaft der Deutschen zerstören musste: denn der fremde Einschlag war in den verschiedenen Teilen Deutschlands ein verschiedener, und wo es der gleiche war, trat er in verschiedener Stärke auf.

Und wie die Abstammung der Deutschen in den verschiedenen Teilen Deutschlands immer verschiedener wurde, so musste auch ihre Gesittung immer verschiedenartiger werden. Freilich entdeckt der Kulturhistoriker auch noch in der mittelalterlichen Kultur der Deutschen allerwärts jene Elemente, die den gemeinsamen Ursprung ihrer Kultur von einem Stammvolk bezeugen. Aber wie viele Generationen trennten die deutschen Bauern der Hohenstaufenzeit von jener gemeinsamen Wurzel! Immer mehr und mehr wurden die gemeinsam überlieferten von den allmählich entstandenen neueren, in den verschiedenen Landesteilen verschiedenen Kulturelementen überwuchert. Ein radikaler Zug der Differenzierung, des kulturellen Partikularismus charakterisiert das Mittelalter. Unsere Rechtsquellen zeigen uns, wie aus dem einheitlichen germanischen Recht immer mehr und mehr eine Fülle lokal verschiedenartiger Rechte erwuchs; die Sprache hatte längst sich in eine Unzahl von verschiedenen Mundarten geschieden; die Lebensgewohnheiten und Sitten waren beinahe von Grundherrschaft zu Grundherrschaft, von Tal zu Tal verschieden. Und doch, gerade in jener Zeit der Differenzierung ist die einheitliche deutsche Nation entstanden! Das einigende Moment, das sie zusammenschloss, war aber nicht mehr die von dem gemeinsamen Stammvolk überlieferte gemeinsame Kultur, sondern es war eine neuentstandene Kulturgemeinschaft; aber freilich eine Kulturgemeinschaft, die zunächst nicht alle Deutschen einte, wohl aber die herrschende Klasse aller Deutschen: Eine Kulturgemeinschaft aller ritterlich Lebenden war es, die zunächst die herrschenden Klassen aller Deutschen verband; sie ist es, die zuerst die Deutschen zur Nation zusammengeschweißt hat.

Während der Bauer seit dem Übergang zum sesshaften Ackerbau lest an die Scholle gebunden war und, so enges Band ihn auch mit den Nachbarn im Dorfe, mit den Mark- oder Hofgenossen verknüpfte, durch keine Gemeinschaft mehr mit dem weiteren Kreis der Volksgenossen verbunden war, entstand zwischen der gesamten Ritterschaft der Stämme, die das deutsche Volk zusammensetzen, eine enge Verkehrsgemeinschaft.

Die Ritterschaft war zunächst das Heer des Reiches. Kaiser und Reich boten die Reichsfürsten, die Reichs-Lehensmannen und Reichs-Dienstmannen zum Kriege auf. Reichsfürsten und Reichs-Lehensmannen geboten dann ihrerseits ihre Vasallen und Ministerialen zur Heerfahrt. So sammelte sich im Heere die Ritterschaft aus allen Teilen des Reichs. Ebenso versammelt in alter Zeit die Heeresversammlung auf dem Maifeld, in späterer Zeit der Reichstag einen größeren Teil der Ritterschaft. Aber auch abgesehen von den Gelegenheiten, die das staatliche Leben des Feudalstaates dem Verkehre der Ritterschaft bot, vereinigte auch freiwilliger Verkehr die ritterlich Lebenden. Die Fehden und Parteiungen schlossen bald da, bald dort die Ritterschaft zu einer Einung, zu einem Ritterbunde zusammen. Die Lehenstage großer Lehensherren vereinigten die ritterlich Lebenden großer Gebiete meist zur Zeit der hohen Kirchenfeste an einem Hof. Geselliger Verkehr verband Burg mit Burg, Nachbar mit Nachbar, etwa wie heute noch der auf dem Lande lebende Hochadel von Schloss zu Schloss durch geselligen Verkehr verbunden ist, während der Bauer nur seinen Nachbar im Dorfe kennt. So bot das Leben der Ritterschaft unvergleichlich mehr Gelegenheit zu verschiedenartigem Verkehr über enge Gebietsgrenzen hinweg: neue Vorstellungen und Sitten pflanzten sich schnell fort von Burg zu Burg, während die in die engen Grenzen einer kleinen örtlichen Gemeinschaft eingeschlossenen Bauern völlig im Banne der Überlieferung standen.

Aber nicht nur der Verkehr von Mann zu Mann, die körperliche Berührung bei verschiedenartigen Anlässen stellten innerhalb der gesamten Ritterschaft der zum deutschen Volke werdenden Stämme eine enge Gemeinschaft her; auch die höhere geistige Kultur erwies sich bereits als ein einigendes Band.

Die Geschichte der höheren geistigen Kultur, der Wissenschaft, der Kunst, der Dichtung ist eine Geschichte der Muße. Der Bauer, eng gefesselt an die schwere Arbeit des Landbaues, konnte keine höhere geistige Kultur haben. Daher ist die gesamte geistige Kultur zu jener Zeit, da das Volk bereits zum sesshaften Ackerbau übergegangen war, aber die Entwicklung der Grundherrschaft noch nicht eine zahlreiche Klasse Müßiger erzeugt hatte, die des Sängers sich hätten freuen können, ganz in den Händen einer fremden Macht, der Kirche. Die Klöster und Bistümer waren frühzeitig reiche Grundherrschaften, denen Hunderte von Bauern zins- und fronpflichtig waren. So waren sie denn von schwerer körperlicher Arbeit befreit. Das Studium der lateinischen Sprache übermittelte ihnen das Werkzeug zum – wenn auch rohen – Verständnis der überlieferten Geistesschätze des Altertums. So bewahrte die Kirche diese Schätze und rettete sie hinüber in eine bessere Zeit, in der dann das Volk selbst – oder vielmehr die herrschenden Klassen des deutschen Volkes – diese Schätze in Besitz nehmen konnten. In den Klöstern und an den Höfen der Bischöfe haben wir die Anfänge deutscher Dichtung zu suchen. Klosterschulen sind die ältesten Schulen auf deutschem Boden. In einem Benediktinerkloster ist das Wessobrunner Gebet entstanden. Ein Mönch des Klosters Weißenburg war der Verfasser des ältesten deutschen Evangelienbuches. Der Mönch eines flandrischen Klosters sang das Ludwigslied. St. Gallen brachte Ekkehards Waltharilied hervor; in St. Gallen verdeutschte Notker Labeo die Psalmen. Eine Nonne von Gandersheim scheint die erste deutsche Dichterin gewesen zu sein. Aber das alles waren doch nur spärliche Anfänge einer höheren deutschen Geistesentwicklung. Sollte eine deutsche Dichtung, eine deutsche Kunst entstehen, so musste erst eine zahlreiche Klasse da sein, die sich ihrer erfreuen, die aus sich heraus die Dichter erzeugen konnte, eine Klasse, die ihr eigenes geistiges Leben führen konnte, die nicht wie die Kirche allzustark unter fremdem, insbesondere italienischem Einfluss stand. An die Entwicklung der Grundherrschaft, an die Entwicklung einer zahlreichen Klasse ritterlich Lebender auf der Grundlage der Grundherrschaft war darum die Entwicklung deutschen Geisteslebens gebunden. Die erste deutsche Dichtung war ritterliche Dichtung. Die Heldenlieder, in die die Zeit der großen Wanderungen die uralten germanischen Göttersagen umgegossen hatte, waren auch vorher schon von den „varnden liuten“, die von Dorf zu Dorf zogen, aufbewahrt worden; aber zum Epos, wie es uns überliefert ist, wurden sie erst, als der ritterliche Sänger von Burg zu Burg zog, überall von der „milte“ des Herrn gehegt, Rittern und Frauen mit seinem Liede müßige Stunden verschönte. Und bald schuf der ritterliche Sänger seinen Zuhörern eine neue Kunst, die nicht mehr anknüpft an die Zeit, da noch das gesamte Volk ohne Unterschied des Standes eine Kulturgemeinschaft gebildet hatte, sondern die völlig herausgewachsen war aus der Sondersitte, den Sonderfreuden und Sonderleiden der Ritterschaft: das ritterliche Lied und das höfische Epos. Die neue Kunst aber war nicht irgendwie örtlich gebunden: von Burg zu Burg pflanzte sie sich fort durch alle deutschen Lande.

So verknüpfte enger Verkehr die gesamte Ritterschaft. Heerfahrt und Reichstag, Lehenshof und Einung, geselliger Verkehr brachte die Ritterschaft ganz unmittelbar, körperlich einander näher; die gleiche Freude an desselben Sängers Liedern, der von Burg zu Burg, von Hof zu Hof zog, knüpfte zwischen ihr ein unsichtbares Band. Aber kein enger Verkehr ist möglich ohne gemeinsame Sprache. So beginnt – freilich zunächst für die herrschende Ritterklasse allein – eine starke Gegentendenz gegen die seit Jahrhunderten wirkende Tendenz immer schärferer Differenzierung örtlicher Mundarten. Wohl hat es die deutsche Ritterschaft nie zu einer wirklich völlig einheitlichen Hofsprache, einem Kuriale, gebracht, das an allen Ritterburgen aller deutschen Länder gesprochen worden wäre; aber der enge Verkehr musste die Sprachen der Ritter allerwärts einander doch viel näher bringen als die Mundarten der Bauern, die in völliger örtlicher Abgeschiedenheit, durch keine Verkehrsgemeinschaft mehr verknüpft, überall völlig mit dem Boden verwachsen, ihr abgesondertes Leben führten. So unterscheiden sich die Sprachen der höfischen Dichtungen viel weniger voneinander als die der überlieferten Volkslieder. Und da ritterliches Wesen im Zeitalter der Hohenstaufen, als die Führung der deutschen Stämme an die Schwaben gefallen war, seine vollste Blüte sah, so erwuchs auf oberdeutschem Boden aus schwäbischer Wurzel – wenn auch mit fränkischem Einschlag – jene höfische Sprache, in der die Dichter der ritterlichen Zeit sagen und singen, in der die ältesten deutschen Urkunden abgefasst sind, die zu sprechen bald selbst niederdeutsche Sänger versucht haben und deren Überwiegen sich deutlich darin zeigt, dass die niederdeutschen Mundarten ihr manches Wort entnommen und ihrem Sprachschatz einverleibt haben. Die Sprache spiegelt hier deutlich die Geschicke des Volkes wieder. Während seit der Zeit, da der germanische Urstamm in Völkerschaften zerfallen war, von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr und mehr die einst gemeinsame Sprache in eine Unzahl voneinander völlig abweichender, immer deutlicher sich scheidender Mundarten sich gespalten hatte, war nun die Verkehrs- und Kulturgemeinschaft der ritterlich Lebenden zum erstenmal daran, dieser Differenzierung entgegenzuarbeiten und allen deutschen Stämmen eine gemeinsame Sprache zu schenken.

Und wie die Entstehung einer ritterlichen Kulturgemeinschaft die Tendenz zur Bildung einer gemeindeutschen Sprache geschaffen hatte, so bahnte sie auch die Entwicklung eines gemeinen deutschen Rechtes an. Das Mittelalter ist im allgemeinen eine Zeit durchaus partikularistischer Rechtsentwicklung. Das Recht der einzelnen Landschaften wurde immer verschiedener und nicht ohne Mühe erkennt der Forscher in der Mannigfaltigkeit der einzelnen Landrechte noch das gemeinsame germanische Recht. Insbesondere aber zeigt das spezifische Sonderrecht der Bauernklasse eine partikularistische Entwicklung. Von Landschaft zu Landschaft, von Tal zu Tal, ja von Grundherrschaft zu Grundherrschaft zeigen uns die überlieferten Weistümer immer zunehmende Abweichungen des Rechtes. Um so bedeutsamer ist es nun, dass über alle örtliche Scheidung hinweg die Ritterschaft sich allmählich ein Sonderrecht schafft, das, wenn auch mit gewissen Abweichungen in den einzelnen Gebieten, doch im ganzen und großen nationales deutsches Recht geworden ist; während das Mittelalter ein gemeines germanisches Recht nicht mehr und ein deutsches einheitliches Recht noch nicht kennt auf dem Gebiete des Landrechtes, des Stadtrechtes, des Dienstrechtes, des Hofrechtes, so kennt es eine wirklich einheitliche Entwicklung auf dem eigensten Gebiete ritterschaftlicher Rechtsbildung, im Lehensrecht: es gibt ein einheitliches deutsches Lehensrecht.

Aber viel bedeutsamer noch als diese zentralistische Tendenz des ritterlichen Rechtswesens ist die Entstehung einer einheitlichen deutschen ritterlichen Sitte. Freilich, gerade hier könnte uns oberflächliche Betrachtung widersprechen. Es ist ja gewiss richtig, dass im Mittelalter feste Lebensgewohnheiten, Lebenssitten, eine konventionelle Etikette, der sich niemand entziehen konnte, geherrscht haben, so weit es deutsches ritterliches Leben gab. Aber der nationale Charakter dieser ritterlichen „zuht“ ließe sich wohl bestreiten. Denn das deutsche Rittertum hat diese Sitte vielfach übernommen von den fremden Ritterschaften, ganz besonders von der französischen, die im Zeitalter der Kreuzzüge zweifellos das deutsche ritterliche Leben sehr wirksam beeinflusst hat. Aber dieser fremde Ursprung der deutschen ritterlichen Sitten ändert nichts an ihrer Bedeutung für die Entstehung einer einheitlichen deutschen Nation.

Vielleicht können wir uns dies am besten am Beispiel des einzelnen Individuums klar machen. Nehmen wir zwei völlig verschiedene Individuen, verschieden nach Abstammung, nach Erziehung, nach Gefühlsweise und Wissen, und lassen wir sie nun gemeinsam eine Reise unternehmen, gleiche Einflüsse auf sie wirken. Kein Zweifel, auf der gemeinsamen Reise werden sie dieselben Dinge, dieselben Landschaften und Kulturdenkmäler sehen. Der Inhalt ihres Bewusstseins, die Vorstellungen, die sie aufnehmen werden, werden dieselben sein. Aber sind sie darum dieselben Menschen geworden? Keineswegs. Denn so wie der menschliche Organismus körperliche Nahrung nicht einfach aufnimmt, sondern verarbeitet, verdaut, so geht auch keine neue Vorstellung in menschliches Bewusstsein unverändert von außen ein, sondern sie wird von ihm einverleibt, verarbeitet, verdaut, sie wird apperzipiert. So werden die beiden, die gemeinsam reisen, zwar dieselben Dinge sehen, dieselben Vorstellungen in sich aufnehmen. Aber da das aufnehmende, verarbeitende Bewusstsein jedes der beiden ein ganz verschiedenartiges ist, so werden sie die aufgenommenen Vorstellungen ganz verschieden verarbeiten: Jeder wird auf dieser Reise etwas anderes lernen, jeder von den gesehenen Dingen sich anderes merken, auf jeden werden dieselben Vorstellungen anders wirken. Rein seinem Inhalt nach betrachtet, mag ja das Wachstum des Vorstellungsreichtums der beiden fast identisch sein. Aber in seiner Wirkung auf das Gesamtbewusstsein, auf Denken und Fühlen und Wollen, wird es ganz verschieden sein.

Ganz Ähnliches gilt nun, wenn derselbe Kulturinhalt von verschiedenen Nationen aufgenommen wird. Der Inhalt ritterlicher Sitte mochte bei Deutschen und Franzosen nicht allzu verschieden sein: aber der deutsche Ritter, der vom französischen dessen Lebensgewohnheiten, dessen Konvention übernahm, war seiner Abstammung und seiner Kulturüberlieferung nach ein anderer Mensch als der Franzose. Er hat nun die französische Sitte nicht einfach übernommen, sondern er hat sie seinem Wesen einverleibt, sie musste sich in seinem Bewusstsein mit dessen bisherigem Inhalt vermählen. So ist aus der französischen Sitte in Deutschland doch etwas anderes, von der französischen Sitte Verschiedenes geworden. Die kulturelle Einwirkung derselben Etikette musste bei den deutschen Rittern eine andere sein als bei den französischen. Aus der Vermählung deutschen Wesens mit französischer Sitte musste ein neues ritterliches Wesen entstehen, das sich sehr bald deutlich von dem französischen schied. Dieses neue deutsch-ritterliche Wesen war aber allen Deutschen annähernd gemein: in allen deutschen Burgen herrschend, überall in gleicher Weise auf die ganze Daseinsweise, den ganzen Charakter der Männer und Frauen einwirkend. So ist gerade die Übernahme dieses fremden Elements in den deutschen Nationalcharakter und seine Verarbeitung durch das deutsche Wiesen zu einem starken Bindemittel der Nation geworden, zu einer einheitlichen deutschen Lebenssitte, die einheitliche Wirkung auf den Charakter der damals herrschenden Klasse des deutschen Volkes übte und diese einte über alle bisherige Differenzierung hinweg.

Dieser nationalen Zusammengehörigkeit musste sich die deutsche Ritterschaft auch bewusst werden, sobald sie Gelegenheit hatte, ihre Kulturgemeinschaft mit fremder zu vergleichen. Deutlich spricht dies aus Walters von der Vogelweide berühmtem Gedicht:

Lande habe ich viel gesehen,
Nach den besten blickt ich allerwärts,
Übel möge mir geschehen,
Wenn sich je bereden ließ mein Herz,
Dass ihm wohlgefalle fremder Länder Brauch:
Wenn ich lügen wollte, lohnte mir es auch?
Deutsche Zucht geht über alles.

Lamprecht hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es „nicht ein allgemeines, sondern ein ritterlich konventionelles, berufsmäßig gebundenes Nationalbewusstsein ist, dass durch Walters Mund im Liede spricht“ – ein Bewusstsein der Verschiedenheit deutscher höfischer Zucht vor „fremeden siten“. [2]

Aber bei Lamprecht könnte es scheinen, als wäre die Nation sich ihres nationalen Sonderseins zu jener Zeit eben nur in beschränktem Masse bewusst geworden. Die falsche Fragestellung lässt Lamprecht nicht immer die volle Folgerung aus dem reichen Material ziehen, das gerade er für die Geschichte des Werdens der deutschen Nation gesammelt hat: Nicht wie die Nation allmählich sich ihres Sonderseins bewusst geworden ist, sondern wie die Nation überhaupt erst als solche entstanden ist, ist die Frage. Das nationale Bewusstsein kann nur aus dem nationalen Sein verstanden werden und nicht umgekehrt. Wenn Lamprecht darauf verweist, dass das Nationalbewusstsein der Zeit der Hohenstaufen ein ritterlich-konventionelles gewesen ist, so hat er gewiss recht; aber der Fortschritt des Nationalbewusstseins über diese Stufe hinaus kann nicht begriffen werden aus einer immanenten Entwicklung des Nationalbewusstseins, das nach dem allem Volksbewusstsein innewohnenden Gesetze von niedrigen zu höheren Stufen notwendig und überall fortschreitet, sondern er kann nur begriffen werden als die Widerspiegelung geänderten nationalen Seins. Im Zeitalter der Staufen bestand die Nation in gar keiner anderen Weise als in der Kulturgemeinschaft der Ritter, die die – freie und unfreie – Ritterschaft aller deutschen Stämme einte und sie zugleich von allen fremden Völkern unterschied; sollte eine andere Form deutschen Nationalbewusstseins entstehen, so konnte dies nur geschehen, wenn die deutsche Nation als Nation in einem anderen Sinne entstand. Nicht in irgend einem allgemeinen Entwicklungsgesetze alles psychischen Seins, sondern in der Entwicklung der Warenproduktion liegt die Erklärung für die spätere Entwicklung des Nationalbewusstseins des deutschen Volkes über die von Walter von der Vogelweide erreichte Stufe hinaus.

Jetzt also glauben wir zu verstehen, wie die deutsche Nation entstanden ist. Nicht in der gemeinsamen Abstammung vom germanischen Urvolk und nicht in der gemeinsamen Überlieferung der von diesem Urvolk ererbten Kultur liegt ihre Wurzel. Denn Vermengung mit anderen Völkern und territoriale Isolierung hatten längst die alte Gemeinschaft zerstört; das ganz verschiedenartige Schicksal der einzelnen Volksteile hatte körperlich und geistig verändernd auf die ererbten Eigenschaften gewirkt. Ebenso hatte die überlieferte Kultur in Technik und Sprache, Sitte und Recht sich immer mehr differenziert. Über der gemeinsamen germanischen Überlieferung lag längst eine dichte Schichte späterer Neubildung, die bei jedem Teile des germanischen Volkes verschieden geartet war. Nicht die gemeinsame Abstammung, sondern eine ganz neu entstandene gemeinsame Kultur setzte der Differenzierungstendenz der deutschen Stämme, die diese schließlich notwendig zu ganz verschiedenen Völkern gemacht hätte, eine Schranke und einte die Deutschen zu einer Nation. Diese Kultur war aber zunächst nur die Kultur einer herrschenden Klasse, die Kultur des Rittertums. Der einheitliche Nationalcharakter, den die Gleichartigkeit dieses Kultureinflusses erzeugte, war nur der Charakter einer nationalen Klasse.

Diese Kultur der Ritterklasse ruhte freilich auf der Ausbeutung der Bauern. Die Bauern hatten aber keinen Anteil an der ritterlichen Kultur. Längst schied man höfisches und dörfisches Wesen; der Bauer, der an der ritterlichen Sitte keinen Teil hatte, erschien der herrschenden Klasse roh, unwissend, ward ihr zum Gegenstand des Spottes. Höfische Dichter verspotteten die Bauern und machten sich über die „Dörper“ lustig, die sich dessen nicht freuen wollen, dass der Junker den Dorfschönen nachstellt. So trennt eine breite kulturelle Kluft schon Ritter und Bauern. An all dem aber, was die Nation einte, hatte der Bauer keinen Teil. Während die höfische Sprache die Ritter eint, differenzieren sich immer mehr die bäuerlichen Mundarten; während die höfische Sitte ein einigendes Band um die deutsche Ritterschaft schlingt, ist die bäuerische Landessitte von Landschaft zu Landschaft verschieden; während die Ritterschaft sich ein einheitliches Lehensrecht erzeugt, wird das bäuerliche Hofrecht immer mehr und mehr partikularistisch entwickelt. So bilden die deutschen Bauern damals gar nicht die Nation, sondern sie sind nur die Hintersassen der Nation. Die Nation besteht nur kraft der Gemeinschaft der Kultur; diese ist aber auf die herrschende Klasse beschränkt; die breiten Massen, deren Arbeit diese herrschende Klasse ernährt, sind von ihr ausgeschlossen. Es ist ein Begriff der nationalen Kulturgemeinschaft, den es festzuhalten gilt. Denn wenn auch der Kreis, der an der national einheitlichen, die Stämme und Landschaften untereinander einigenden, von den anderen Völkern trennenden nationalen Kultur Anteil hat, seither viel breiter geworden ist, als er im Zeitalter der Staufer war: im Grunde ist es auch heute noch so, dass die nationale Kultur die Kultur der herrschenden Klassen ist, dass die großen Massen zur Nation, die nur noch als Kulturgemeinschaft begriffen werden kann, nicht gehören, sondern nur die Hintersassen der Nation sind, auf deren Ausbeutung freilich das stolze Gebäude nationaler Kultur beruht, von der sie selbst noch immer ausgeschlossen sind.


Fußnoten

1. Bremer, Ethnographie der germanischen Stämme, Pauls Grundriss der germanischen Philologie, III., S.787f.

2. Lamprecht, a.a.O., I., S.16.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008