Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


III. Der Nationalitätenstaat


§ 19. Der Staat und die nationalen Kämpfe


Im Jahre 1848 sahen sich die österreichischen Nationen zum ersten Mal vor die Aufgabe gestellt, ihre nationalen Forderungen zu einem politischen Programm zu verdichten. Aber in den ersten Monaten der Revolution war die nationale Frage in Österreich wesentlich anders gestellt als heute.

Österreich umfasste damals vier große historische Nationen: die Deutschen, die Italiener, die Polen und die Magyaren. Das staatsrechtliche Programm dieser Nationen war die Verwirklichung ihres Nationalstaates. Die Deutschen Österreichs kämpften gemeinsam mit ihren Volksgenossen in den anderen Staaten des Deutschen Bundes für den deutschen Einheitsstaat. Ebenso kämpften Italiener. Polen und Magyaren für ihren Nationalstaat. Diese Politik erweckte aber notwendig den Widerstand der bisher geschichtslosen Nationen, die nicht hoffen konnten, sich auch ihrerseits einen freien und selbständigen Nationalstaat zu erkämpfen. Sie fürchteten, unter die Fremdherrschaft der großen historischen Nationen zu fallen. In den Erbländern wird zunächst nicht die Frage aufgeworfen, wie Deutsche, Tschechen und Slovenen ihr Verhältnis zueinander im Staate regeln sollen, sondern der Streit geht darum, ob Tschechen und Slovenen unter die Herrschaft eines großen deutschen Nationalstaates fallen sollen. Ebenso fürchten die Ruthenen die polnische. Kroaten und Serben, Slovaken und Rumänen die magyarische Fremdherrschaft. Während die Deutschen Österreich in einem großen deutschen Reich aufgehen lassen, die anderen historischen Nationen das alte Österreich zerreißen wollen, setzen die eben erst zu historischem Dasein erwachten geschichtslosen Nationen ihre Hoffnung auf Österreichs Bestand. Österreich soll sie vor nationaler Fremdherrschaft retten. Sie wollen Österreich nicht zerreißen, sondern innerhalb des Staates darum kämpfen, dass ihrer Nation ihr Recht werde. Daraus aber ergibt sich eine zwiespältige Stellung den historischen Nationen gegenüber. Einerseits sind ja auch die geschichtslosen Nationen revolutionär, auch sie kämpfen für Verfassung und Freiheitsrechte, für die Bauernbefreiung; die Revolution von 1848 ist auch ihre Revolution, die Unfähigkeit des Absolutismus, die Bedürfnisse dieser zu neuem Leben erwachten Nationen zu erfüllen, gerade eine der Ursachen der großen Umwälzung. Andererseits aber wollen sie nicht, wie das revolutionäre Bürgertum und der revolutionäre Adel der alten historischen Nationen, Österreich zerstören und fürchten die Fremdherrschaft dieser Nationen in den neuen Nationalstaaten, die die Revolutionäre auf dem Boden des erschütterten alten Staates errichten wollen. Führt sie ihre revolutionäre Gesinnung an die Seite des revolutionären Bürgertums in Deutschland und Italien, des revolutionären Adels in Polen und Ungarn, so führt die Sorge für den Bestand und die Freiheit ihrer Nation sie auf die Seite der Reaktion. Vergebens suchen auch innerhalb der kleinen slavischen Nationen revolutionäre Parteien zu verhindern, dass die Kraft der Nation in die Dienste der Gegenrevolution gestellt werde: Je dringender die nationale Gefahr erscheint, desto mehr verblasst das Gefühl der Solidarität mit der Revolution der historischen Nationen, desto mehr nähern sich die geschichtslosen Nationen (und mit ihnen auch die Kroaten) der Reaktion. Den Kämpfern der Revolution aber musste dies als Verrat an der Sache der Freiheit erscheinen. In jenen Monaten hasste die Demokratie ganz Europas die kleinen slavischen Nationen, die durch ihr Bündnis mit der Reaktion nicht am wenigsten zur Niederlage der Demokratie beigetragen haben.

In jener Zeit schrieb auch Friedrich Engels seine Artikel über die österreichische Nationalitätenfrage in der Neuen Rheinischen Zeitung. Man kann diese Artikel nicht etwa als bloße journalistische Arbeiten ohne bleibenden Wert abtun. Denn auch sie verraten den genialen historischen Blick ihres Verfassers. Die Geschichte der Entstehung Österreichs, die geschichtlichen Grundlagen der Machtverhältnisse der Nationen hat er, wenn auch nicht in allen Einzelheiten richtig, so doch klarer als irgend ein anderer Schriftsteller jener Zeit gesehen; er hat auch den Begriff der geschichtslosen Nationen geprägt, den wir jenen Artikeln entnommen haben. Aber darum dürfen wir doch nicht vergessen, dass jene Artikel in den Stürmen der Revolution geboren wurden, dass sie entstanden sind in einer Augenblickssituation, die die geschichtslosen Nationen in das Lager der Reaktion trieb, geschrieben in der Erwartung, dass in wenigen Wochen ein deutsch-russischer Krieg ausbrechen und den Sieg der Demokratie über den Absolutismus, aber auch die Unterwerfung der geschichtslosen Nationen unter die Nationalstaaten der alten historischen Nationen entscheiden werde. Daraus erklärt sich mancher Irrtum Engels’, erklärt sich vor allem der grundlegende Irrtum jener Artikel, die Meinung, dass die Nationen, die keine Geschichte haben, auch keine Zukunft erhoffen dürfen. Diese Ansicht ist heute endgültig widerlegt. Wenn die Geschichte der österreichischen Nationen noch nicht überzeugt hat, den musste die Geschichte der russischen Revolution überzeugen, die geschichtslose Nationen, wie Letten, Esthen, Kleinrussen in das erste Treffen des revolutionären Kampfes geführt hat. Und heute können wir auch, gerade auf Grund der Methode historischer Forschung, die Karl Marx und Friedrich Engels uns gelehrt haben, das Erwachen der geschichtslosen Nationen zu historischem Leben unter der Einwirkung des Kapitalismus, der Revolution, der Demokratie ursächlich verstehen.

Erst als die Hoffnung, geschwunden war, dass es den alten historischen Nationen gelingen werde, auf den Trümmern des alten Österreich ihre Nationalstaaten zu errichten, wurde jene österreichische Nationalitätenfrage aufgerollt, um deren Beantwortung sich die Nationen auch heute noch mühen. Nun handelt es sich nicht mehr um die Frage des Bestandes Österreichs oder seiner Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche; nun handelt es sich nur noch um die Frage, wie die Nationen innerhalb Österreichs ihr Zusammenleben regeln wollen. Im Kremsierer Verfassungsausschuss suchen die österreichischen Nationen zum ersten Mal nach einer zweckmäßigen Form ihres Zusammenlebens. Und hier vertauschen die Nationen sofort ihre Rollen. Nun werden die Vertreter der geschichtslosen Nationen revolutionär, die historischen Nationen konservativ. Die geschichtslosen Nationen wollen alle Reste des alten Österreich vernichten, die alten Kronländer beseitigen; ihre Wortführer, der Slovene Kautschitsch, der Tscheche Palacký, schlagen die Teilung Österreichs in eine Reihe möglichst national einheitlicher Gebiete vor. So fordert Palacký, dessen Vorschlag die ganze Monarchie umfasst, die Einteilung Österreichs in folgende Gebiete:

  1. Deutschösterreich;
  2. Tschechisch-Österreich;
  3. Polnisch-Österreich (zu dem auch die Ruthenen, die man noch nicht als eine Nation gelten ließ, gehören sollten);
  4. Illyrisch-Österreich;
  5. Italienisch-Österreich;
  6. Südslavisch-Österreich;
  7. Magyarisch-Österreich;
  8. die walachischen Provinzen;
    innerhalb der Grenzen ihrer Siedlungen sollte jede Nation frei und selbständig ihre Angelegenheiten regeln.

Die Deutschen dagegen fühlten sich noch als Nutznießer der historischen Gebietseinteilung des alten Österreich, in dem sie ja die herrschende Nation gewesen waren, und verteidigten die überlieferte Kronländerverfassung. Der Verfassungsausschuss suchte zwischen beiden Ansichten zu vermitteln. Er ließ die Kronländer wohl bestehen. Aber die größeren Kronländer sollten durch Reichsgesetz in eine Anzahl von Kreisen geteilt werden. Die Abgrenzung dieser Kreise sollte „mit möglichster Rücksicht auf die Nationalität“ erfolgen. Diese Kreise sollten durch einen gewählten Kreistag verwaltet werden. Der Wirkungskreis des Kreistages war nicht klein. Er sollte die Gemeindeordnung beschließen und die Gemeinden überwachen; ihm sollte die Sorge für Straßen und Verkehrsmittel innerhalb des Kreises obliegen. Auch das Armenwesen, die Fürsorge für Kranken- und Humanitätsanstalten und fromme Stiftungen, endlich für Anstalten zur Hebung des Ackerbaues sollte ihm überlassen werden. Vor allem aber wurden den Kreistagen die nationalen Kulturaufgaben zugewiesen. Nach § 126 des Kremsierer Verfassungsentwurfes obliegt nämlich dem Kreistage „das Volksunterrichts- und Erziehungswesen mit dem Rechte der Bestimmung der Unterrichtssprache und der Gegenstände, jedoch mit gleich gerechter Beachtung der Sprachen des Kreises“. So hätte doch jede Nation, wenigstens innerhalb ihres geschlossenen Siedlungsgebietes, durch den Kreistag ihr nationales Erziehungswesen selbständig verwaltet. Kein Zweifel, auch diese Verfassung hätte Österreich den nationalen Streit nicht völlig erspart. Aber sie hätte jeder Nation die Möglichkeit gegeben, sich aus eigener Kraft in ihrem Sprachgebiet ihr nationales Schulwesen auszubauen und hätte es den Nationen erspart, um jede Schule im Reichsrat oder Landtag zu kämpfen, jede Schule dem Staat oder den Vertretern der anderen Nationen abkaufen oder abtrotzen zu müssen; eine ganze Reihe wichtiger Fragen, die immer wieder die Leidenschaften des nationalen Kampfes entfesseln, wäre so aus dem Streit ausgeschaltet gewesen. Als aber am 4. März 1849 sich die Abgeordneten in Kremsier versammeln wollten, um über diesen Verfassungsentwurf zu beschließen, fanden sie den Versammlungssaal militärisch besetzt; die Reaktion hatte dem ersten und besten Versuch der österreichischen Nationen, das Gesetz ihres Zusammenlebens zu finden, mit einem tölpelhaften Gewaltstreich ein Ende bereitet. Erst als nach der Niederlage auf den italienischen Schlachtfeldern die neue Verfassungsära begann, sahen sich die österreichischen Nationen neuerlich vor dasselbe Problem gestellt.

Nach Rudolf Springer [1] kann der Nationalitätenstaat das Zusammenleben der Staatsbürger verschiedener Nationalität in doppelter Weise regeln. Er kann zunächst die Nation als Gesamtheit auffassen, sie zu einer rechtlichen Einheit machen; der Verband der Nationen bildet dann den Staat. Springer nennt dies die organische Regelung des Verhältnisses der Nationen zum Staat. Diese organische Regelung kann wieder in doppelter Weise unternommen werden. Entweder nach dem Territorialprinzip: die Gebiete, die von den einzelnen Nationen bewohnt werden, werden gegeneinander abgegrenzt; innerhalb ihres Gebietes verwaltet jede Nation ihre nationalen Angelegenheiten selbst. Der Staat regelt und verwaltet nur die den Nationen gemeinsamen Angelegenheiten. Hier ist die Nation Gebietskörperschaft. Oder aber der Staat fasst die Nation als Personengemeinschaft auf, ohne ihr die ausschließliche Herrschaft in einem bestimmten Gebiete zuzusichern, legt also statt des Territorialprinzipes das Personalitätsprinzip zugrunde. Alle Deutschen in Österreich, in welchem Teile des Reiches sie immer wohnen mögen, bilden eine rechtliche Gesamtheit, eine Genossenschaft. Sie verwalten ihre nationalen Kulturaufgaben – etwa durch einen gewählten Nationalrat –; der Nationalrat hat die Pflicht, für die Angehörigen dieser Genossenschaft, wo immer sie wohnen, deutsche Schulen zu errichten, er hat das Recht, von ihnen für die Zwecke der Nation Steuern einzuheben.

Dieser organischen Auffassung steht nun eine andere gegenüber, die Springer als die zentralistisch-atomistische bezeichnet. Hier erscheint die Nation überhaupt nicht in der Rechtsordnung; die Rechtsordnung kennt nur den Staat auf der einen, das Individuum, den einzelnen Staatsbürger auf der anderen Seite. Dies ist die Rechtsordnung auch in Österreich: die Nationen sind bei uns keine juristischen Personen, weder Personenverbände noch Gebietskörperschaften. Wenn jemand die tschechische Nation zu seinem Erben einsetzt, so wird das Testament hinfällig: das Recht kennt keine Person, die die Erbschaft antreten könnte. Wenn jemand die polnische Nation beleidigt, so kann die Nation darüber keine Klage erheben: es gibt niemanden, der zur Klage berechtigt wäre. Die Nation kann ihre Nationsgenossen nicht besteuern, sie kann keine Schule, kein Theater errichten, sondern alles das kann entweder nur der Staat oder aber der einzelne Staatsbürger oder eine freiwillige Vereinigung, ein Verein von Staatsbürgern. Die Nation hat keinen rechtlichen Einfluss auf den Staat, sie kann ihn zu nichts bestimmen und von ihm nichts verlangen; alles das kann nur das Individuum, der einzelne, dem die Gesetze als Wähler, als Beschwerdeführer vor den Verwaltungsbehörden, als Kläger vor den Gerichten rechtliche Macht dem Staate gegenüber einräumen. Es bleibt den Individuen überlassen, ob sie sich freiwillig ihrer Nationalität nach zu einer politischen Partei zusammenschließen und als solche den Willen des Staates bestimmen, die Erfüllung der kulturellen Bedürfnisse der Nation durchsetzen wollen.

Die Gegensätze der österreichischen Nationen sind keine Folge schlechter Gesetze, kein Erzeugnis einer schlechten Verfassung. Sie haben ihren letzten Grund in den großen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die die geschichtslosen Nationen auf die Bühne der Geschichte geführt, die nationalen Wanderungen verursacht, den nationalen Hass entflammt haben. Aber die Form, in der diese Gegensätze politisch wirksam geworden sind, die besondere Gestalt des politischen Kampfes, in dem sich die Entwicklung der Nationen ausdrückt, ist allerdings durch die Rechtsform bedingt, unter deren Herrschaft die Nationen einander gegenübertreten.

Der mittelalterliche Staat kannte eine ganze Reihe verschiedener Personenverbände. Teils trugen sie herrschaftlichen Charakter wie die Grundherrschaft, der lehensrechtliche und der dienstrechtliche Verband; teils den Charakter der Genossenschaft, wie die Markgenossenschaft und die Zunft; teils verbanden sie herrschaftliche und genossenschaftliche Elemente, indem die unter derselben herrschaftlichen Gewalt Stehenden zu einer Genossenschaft verbunden waren, wie dies bei der Hofgenossenschaft der hörigen Bauern derselben Grundherrschaft der Fall war. Alle diese Personenverbände schufen sich frei ihr eigenes Recht. In der Genossenschaft schafft der Wille der Genossen durch Gewohnheit oder Satzung das Recht; in den herrschaftlichen Verbänden hat der Wille des Herrn rechtsbildende Kraft; wo Herrschaft und Genossenschaft sich vermischen, hat sowohl der Herr als auch die Genossenschaft der Abhängigen an der Rechtsbildung teil. Diese Macht der herrschaftlichen und genossenschaftlichen Verbände beruht nun nicht etwa auf Verleihung seitens des Staates: im modernen Staat freilich gibt es nur eine freie und selbständige Gewalt, den souveränen Staat; und wo immer es im Staat rechtliche Macht gibt, ist sie vom Staat abgeleitet, gilt sie als vom Staat verheben und kann durch staatliche Satzung abgeändert oder widerrufen werden. Der mittelalterliche Staat dagegen kennt den Begriff der Souveränität nicht. Wie in der Karolingischen Zeit noch die alten, aus dem Gewohnheitsrechte der Volksgerichte entstandenen Volksrechte ganz unvermittelt neben der königlichen Satzung, Volksgerichte neben dem königlichen Gericht standen, beide gleich selbstständig, gleich unabhängig voneinander, so ist auch das Recht der herrschaftlichen und genossenschaftlichen Verbände innerhalb des mittelalterlichen Feudalstaates vom Staat nicht abgeleitet, unterliegt nicht der Einwirkung des Staates und kann von ihm nicht widerrufen werden. Erst die gesteigerte tatsächliche Macht, die die Warenproduktion, die mit Geld besoldeten Heere und die mit Geld besoldete Bürokratie dem modernen Staat verliehen, hat ihn auch befähigt, seine rechtliche Macht zu steigern: Die Berufung auf das römische Recht hätte dem Staat wenig gefruchtet, die neue Staatstheorie der Philosophen, die den Begriff der Souveränität entwickelt haben (Bodin! Hobbes!), wäre nie entstanden, hätte die Entwicklung der Warenproduktion, der Geldwirtschaft dem Staat nicht die tatsächliche Macht gegeben, sich von den alten herrschaftlichen und genossenschaftlichen Verbänden zunächst unabhängig zu machen und sie dann entweder zu beseitigen oder doch seinen Satzungen zu unterwerfen. Noch einmal sammeln sich alle autonomen, staatsfreien Mächte in den Ständen: im ständischen Doppelstaat steht dem Staat noch immer eine Macht gegenüber, die ihr Recht nicht von ihm ableitet, sondern von Macht zu Macht mit ihm verhandelt. Aber der Staat wirft die Stände entweder nieder oder macht sie zu seinem Organ. [2] Nun erst wird der Staat souverän: die Personenverbände verschwinden teilweise ganz; zum Teile lässt der Staat sie bestehen – Gutsherrschaft! Zünfte! – aber sie sind von ihm abhängig, seinen Gesetzen unterworfen. Mehr und mehr schränkt schon der absolutistische Staat die alten Personenverbände ein; so strebt schon er einem Zustande entgegen, in welchem der einen zentralisierten Staatsgewalt nur noch die Masse der nicht organisierten Individuen gegenübersteht, einem Zustande, „in welchem es außer dem Staat nur Individuen gibt, in welchem daher zwischen der höchsten Allgemeinheit des allsorgenden Staates und der das Volk bildenden Summe einzelner Individuen keine Mittelglieder irgendwelcher Art stehen, solche Verbindungen vielmehr entweder nur als lokale Erscheinungsformen des Staates oder selbst als Individuen gelten.“ [3]

So haben wir auf der einen Seite die zentralisierte Staatsgewalt, auf der anderen Seite die in ihre kleinsten Teile, ihre Atome. in die einzelnen Individuen zerlegte Gesellschaft: die zentralistisch-atomistische Staatsauffassung ist schon die Staatsidee des Absolutismus.

Diese Staatsidee hat der Liberalismus geerbt und zu Ende gedacht. Schon die revolutionär-bürgerlichen Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts bekannten sich zur zentralistisch-atomistischen Staatsauffassung; in dieser Hinsicht besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen Rousseau und Hobbes. Nach seinem Siege hat der Liberalismus durch die Beseitigung der Zünfte in der Stadt, durch die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses auf dem Lande die letzten Reste der alten autonomen Personenverbände hinweggeräumt. Damit ist das Werk, das der Absolutismus begonnen hatte, erst vollendet.

Die Kraft, die die zentralistisch-absolutistische Staatsidee erzeugt und ihren Sieg entschieden hatte, war die Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion.

Die kapitalistische Warenproduktion braucht weder den genossenschaftlichen noch den herrschaftlichen Verband. Der gesellschaftliche Charakter der Produktion erfordert keine Genossenschaft der Produzenten mehr, sobald der kapitalistische Großbetrieb die vereinzelten Arbeitenden als seine Arbeiter zu gesellschaftlicher Arbeit vereinigt. Die persönliche Unfreiheit der Arbeitenden war unnötig geworden, seit das kapitalistische Eigentum dem Eigentümer die Macht gibt, den rechtlich freien Arbeiter auszubeuten. Genossenschaftliche und herrschaftliche Verbände waren so nicht mehr notwendig, sie konnten fallen. Und sie mussten fallen, weil sie der Entwicklung des Kapitalismus hinderlich waren. Die zentralistisch-atomistische Staatsidee war zuerst die Staatsidee des Absolutismus, dann des Liberalismus. Sie war beides, weil sie die Staatsidee des Kapitalismus ist.

Aber der Liberalismus hat die Staatsauffassung des Absolutismus nicht einfach übernommen, er hat sie auch verändert. Der Liberalismus war das politische Programm des Bürgertums in seinem Kampfe gegen den absolutistischen Staat. An dem Gedanken des souveränen Staates selbst hat das Bürgertum nicht gerüttelt. Aber der Bürger fühlte sich von Geburt bis zum Tode in seiner Bewegungsfreiheit durch die Allmacht des Staates und seiner Organe, der Bürokratie, beschränkt; der Bürokrat reglementierte seine Betriebe, zensurierte jede Meinungsäußerung, bewachte Jeden seiner Schritte im sozialen wie im privaten Leben. So verlangte der Bürger zunächst Schutz seiner Freiheit gegen den Staat. Aber er will sich nicht nur gegenüber der Allmacht des Staates eine Sphäre der Freiheit sichern, er will selbst die Gewalt im Staat erobern. Unzufrieden damit, dass der Staat seine Interessen fördert, soweit sie mit den seinen zusammenfallen, will er selbst den Willen des Staates bestimmen. Er will Staatsorgan werden, als Stimmberechtigter, als Wähler Anteil haben an der Bildung des staatlichen Gesamtwillens. So verlangt das Bürgertum, dass die gesetzgebende Gewalt entweder dem Volke selbst oder dem Parlament, der gewählten Vertretung des Volkes, übertragen und die Verwaltung der Volksvertretung verantwortlich werde. An der zentralistisch-atomistischen Staatsidee wird durch all das nichts geändert: die zentralisierte Staatsgewalt bleibt auf der einen Seite stehen; ihr gegenüber steht die unorganisierte Masse der einzelnen Staatsbürger. Aber dem einzelnen Bürger wird eine Reihe von Freiheitsrechten gewährleistet, die der Staat nicht beschränken darf. und die einzelnen Staatsbürger werden als Wähler selbst berufen, den staatlichen Gesamtwillen zu bilden.

Die zentralistisch-atomistische Staatsidee hat nun notwendig auch die Regelung des Verhältnisses der Nationen zum Staat bestimmt. Der Absolutismus konnte die Nationen nicht als Körperschaften – weder als Gebietskörperschaften noch als interterritoriale Personenverbände – konstituieren. Seine Sorge war es ja nicht, neue Korporationen zu schaffen, sondern die alten überlieferten sozialen Verbände zu zertrümmern und der zentralisierten Staatsgewalt die unorganisierte Masse der Untertanen gegenüberzustellen. Der Liberalismus hat diese zentralistisch-atomistische Auffassung geerbt: auch er konstituiert die Nation nicht als Körperschaft. Aber er hat einerseits dem Individuum einen Kreis rechtlicher Freiheit gewährleistet, andererseits das Individuum zur Bildung des staatlichen Gesamtwillens berufen. Dadurch bestimmt sich auch seine Stellungnahme zur nationalen Frage.

Wie der Liberalismus dem Individuum andere Freiheitsrechte zusichert, so musste er ihm auch das Recht, seine nationale Sonderart zu erhalten und zu entwickeln, sicherstellen So finden wir schon in der Verfassung vom 25. April 1848 den Satz: „Allen Volksstämmen ist die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und Sprache gewährleistet.“ Die oktroyierte Verfassung vom 7. März 1849 übernimmt diesen Grundsatz: „Alle Volksstämme sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.“ Dieser Grundsatz ist dann auch in unsere geltende Verfassung übergegangen und im Art. 19 des St.-G.-G. über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ausgedrückt. Soweit dieser Grundsatz eine Beschränkung der Befugnisse des Staates und seiner Organe enthält, ist er ganz klar, fügt er sich dem System der individuellen Freiheitsrechte logisch ein. Man kann also in Österreich niemandem verbieten, sich in Wort und Schrift seiner Sprache zu bedienen; der Art. 19 erweitert diesen Schutz der persönlichen Freiheit noch durch die wenig zweckmäßige Bestimmung, dass in den gemischtsprachigen Ländern niemand zur Erlernung der zweiten Landessprache gezwungen werden kann. Wie das Staatsgrundgesetz den einzelnen Staatsbürger gegen die Verletzung des Briefgeheimnisses durch die Bürokratie oder gegen willkürliche Verhaftungen zu sichern sucht, so verhindert es auch, dass der Staat dem Individuum den Gebrauch seiner Sprache verbiete oder ihn zur Erlernung einer anderen Sprache zwinge. Würde der Staat dies trotzdem tun, so kann der einzelne Staatsbürger hierüber beim Reichsgericht wegen Verletzung seines staatsgrundgesetzlich gewährleisteten Rechtes Beschwerde führen. So weit, so gut. Aber die Nation bedarf zu ihrer Erhaltung und zur Weiterentwicklung ihrer Kultur nicht nur dieser Sicherung des Rechtes des Individuums, sie bedarf auch der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung, sie braucht Schulen, Theater, Museen und Akademien. Hier handelt es sich nicht mehr um Einschränkung der staatlichen Macht, sondern hier braucht gerade die Nation die Tätigkeit des Staates für ihre Kultur. Hier versagt nun der Art. 19. Wohl sichert er den Nationen die „Pflege ihrer Nationalität und Sprache“ zu. Aber dies ist kaum mehr als eine wertlose Redensart. Wenn die polnische Mehrheit des galizischen Landtages den Ruthenen ein neues Gymnasium verweigert, so können sich die Ruthenen darüber nicht mit Berufung auf das Staatsgrundgesetz beim Reichsgericht beschweren. Wer ist zur Beschwerdeführung berechtigt, da die ruthenische Nation nicht als Körperschaft konstituiert ist? Wie könnte das Reichsgericht über eine Beschwerde gegen einen Beschluss einer gesetzgebenden Körperschaft entscheiden, der es freistehen muss, Anträge anzunehmen oder abzulehnen? Wie soll schließlich das Reichsgericht entscheiden, wie viele Gymnasien die Ruthenen zur „Pflege ihrer Nationalität und Sprache“ brauchen?

Hier weist nun die liberale Verfassung die Staatsbürger auf einen andern Weg. Sie haben ja als Wähler Einfluss auf den Staat selbst. Wollen sie, dass die staatliche Verwaltung die Kulturbedürfnisse ihrer Nation erfülle, so steht es ihnen frei, sich mit ihren Nationsgenossen zu einer politischen Partei zusammenzuschließen. Abgeordnete ihrer Nation in die Vertretungskörper zu entsenden und sie zu beauftragen, durch ihre rechtliche Macht in den gesetzgebenden Körperschaften den Staat zur Erfüllung der Bedürfnisse der Nation zu zwingen. Die atomistisch-zentralistische Staatsidee zwingt die Bevölkerung, sich in nationale Parteien zu gliedern, sie zwingt jede Nation, sich im Parlament eine Kampftruppe zu erhalten, deren Aufgabe es ist, die staatliche Gesetzgebung und Verwaltung zur Befriedigung der Bedürfnisse der Nation zu veranlassen; sie zwingt jede Nation zu dem Streben nach Macht in der Gesetzgebung, nach Einfluss in der staatlichen Verwaltung. Was man in Österreich gewöhnlich als nationale Politik bezeichnet, ist nationale Machtpolitik: das Streben der Nation nach einer solchen Vertretung im Reichsrat, den Landtagen und in der Bürokratie, dass sie in der Lage ist, den Staat zur Erfüllung ihrer jeweiligen nationalen Kulturbedürfnisse zu zwingen. Die Gruppierung der österreichischen Bevölkerung in nationale Parteien und der Kampf dieser Parteien um die Macht im Staat, die Macht über den Staat ist eine notwendige Folge der zentralistisch-atomistischen Regelung des Verhältnisses der Nationen zum Staat. [4]

Der Kampf der Nationen um den Einfluss auf den Staat wird nun notwendig zum Kampf der Nationen gegeneinander. Es handelt sich um die Verteilung der gegebenen Zahl der Abgeordnetenmandate: je mehr die eine Nation davon gewinnt, desto weniger bleiben den anderen. Es handelt sich um die Verwendung der staatlichen Einkünfte für die Zwecke der einzelnen Nationen: je mehr der Staat für die Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse einer Nation aufwendet, desto weniger Mittel kann er den anderen Nationen zur Verfügung stellen. Der Kampf jeder Nation um die Macht über den Staat ist darum auch ein Kampf gegen die anderen Nationen. Jeder Kampf um die Macht ist ein Kampf gegen die anderen Machtwerber; wo die nationale Politik Machtpolitik bedeutet, dort führt sie notwendig zum nationalen Kampf.

An sich, das heißt ohne Rücksicht auf die Rechtsordnung betrachtet, unter der die Nationen im Nationalitätenstaate leben, stehen gerade die nationalen Interessen der verschiedenen Nationen durchaus nicht im Widerstreit miteinander. Jede Nation will ihre Eigenart erhalten, ihre Kultur weiter entwickeln. Dieses Streben führt an sich durchaus nicht zum nationalen Kampf. Der Deutsche will, dass seine Kinder eine gute deutsche Schule besuchen; in was für einer Sprache tschechische Kinder unterrichtet werden, kann ihm gleichgültig sei. Umgekehrt verlangt der Tscheche tschechische Schulen; ob und wie die deutschen Kinder unterrichtet werden, kümmert ihn nicht. Der Deutsche will vor seinem Richter sein Recht in seiner Sprache finden. Der Tscheche verlangt, dass der Richter mit ihm in seiner Sprache spreche. Ist das ein Grund zum Kampf? Können die Bedürfnisse jeder Nation nicht erfüllt werden, ohne dass dadurch die Interessen der anderen Nationen gefährdet werden? An sich gewiss. Aber die zentralistisch-atomistische Staatsverfassung gibt keiner Nation ein anderes Mittel, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu sichern, als den Kampf um die Macht über den Staat. Wenn eine Nation ihre Macht im Staat vermehrt, verringert sie dadurch aber die Macht der anderen Nationen. So wird jede Nation dem Verlangen der anderen Nationen feind. Nur die zentralistisch-atomistische Verfassung macht aus dem natürlichen, die anderen Nationen gar nicht berührenden Streben aller Nationen nach Befriedigung ihrer kulturellen Bedürfnisse den Kampf jeder Nation gegen die Erfüllung der Kulturbedürfnisse der anderen.

Aber die österreichische Verfassung von 1861 und 1867 hat nicht nur die Nationen auf den Kampf um die Macht verwiesen, sie hat auch zugleich die Machtverteilung auf die Nationen im voraus zu bestimmen gesucht. Und zwar suchte sie die Herrschaft der alten historischen Nationen über die ehemals geschichtslosen Nationen und innerhalb der historischen Nationen wieder die Vorherrschaft der Deutschen zu sichern.

Diesem Zwecke diente zunächst das Kurienwahlrecht für die Landtage und den Reichsrat. Die erste Kurie bildete der Großgrundbesitz. Darin lag zunächst ein Vorrecht aller historischen Nationen, die allein einen Adel haben; die ehemals geschichtlosen Nationen gingen leer aus. Darin lag insbesondere ein Vorrecht der Deutschen: denn die Gutsherrenklasse in den tschechischen und slovenischen Ländern war durch Abstammung und Erziehung überwiegend deutsch. Die zweite Kurie bilden die Handels- und Gewerbekammern. Auch ihr Sonderwahlrecht musste die Deutschen stärken, die den größten Teil der Bourgeoisie bilden. Die Masse der Bevölkerung aber wurde in zwei Kurien gepfercht: die Kurie der Städte, Märkte und Industrieorte und die Kurie der Landgemeinden. Da die Städtekurie eine viel stärkere Vertretung erhielt, auf einen Abgeordneten dieser Kurie viel weniger Wähler entfielen als in der Landgemeindenkurie, so lag darin wiederum ein Vorrecht der Nationen, die an der städtischen und industriellen Bevölkerung größeren Teil hatten, insbesondere also der Deutschen. Endlich wurde in beiden Kurien das Wahlrecht an einen Steuerzensus geknüpft. Dadurch wurden abermals die Nationen benachteiligt, die sich überwiegend aus dem Proletariat, den kleinsten Handwerkern und Bauern und den Häuslern zusammensetzen. Auf diese Weise war den alten historischen Nationen im Reiche größere Macht zugesichert, als ihrer Volkszahl entsprach; die Vertretung der Deutschen war stärker als die der Tschechen, die Polen waren wirksamer vertreten als die Ruthenen, die Italiener besser als die Südslaven. Die stärkste Vertretung aber war den Deutschen gesichert.

Indessen war die deutsche Bourgeoisie und Bürokratie nicht imstande, die Herrschaft über das ganze Reich zu behaupten. So kam es zum Ausgleich von 1867. Die herrschenden Klassen der alten historischen Nationen (außer den Italienern, deren Zahl seit 1866 zu gering war) teilen hier die Macht untereinander: die westliche Reichshälfte wird der deutschen Bourgeoisie und Bürokratie, die östliche dem magyarischen Adel ausgeliefert. Die Deutschen in Österreich sichern sich im Westen die Herrschaft, indem sie dem polnischen Adel seit 1869 die galizische Landesverwaltung völlig preisgeben. Ganz ebenso gaben die Magyaren den Kroaten die Autonomie im Lande. Alle anderen Nationen – die Völker, die weder eine Bourgeoisie noch einen Adel hatten – gehen bei der Teilung leer aus. [5] In der österreichischen Reichshälfte, die uns hier allein interessiert, ist dadurch die Herrschaft der Deutschen gesichert.

Woher stammt diese sonderbare Verfassung, die den Deutschen in Österreich eine Macht zu sichern suchte, die zu ihrer Volkszahl in keinem Verhältnis stand?

Die Herrschaft der Deutschen über Tschechen und Slovenen, der Polen über die Ruthenen. der Italiener über die Südslaven war die nationale Erscheinungsform der Herrschaft der Klassen, die sich der Staatsgewalt bemächtigt hatten. Diese Klassen waren die Großgrundbesitzer, die Bürokratie und die Bourgeoisie. Die Gutsherrenklasse war in Westösterreich seit der Niederwerfung der Stände durch den Absolutismus deutsch oder germanisiert. Dem polnischen Adel Galiziens wurde die Masse der polnischen und ruthenischen Bauern im Lande wehrlos ausgeliefert, wofür er die sicherste Stütze der deutschen Herrschaft in Westösterreich wurde. Die Masse der kleinen Beamten stammte zwar von verschiedenen Nationen ab, leistete aber in der Politik und im öffentlichen Leben den Geboten der höheren deutschen Bürokratie unbedingt Gehorsam. Dass endlich die Bourgeoisie Österreichs deutschen Charakter trug, ist uns schon bekannt. Die deutsche Herrschaft in dem Österreich von 1861 und 1867 war nicht die Herrschaft des deutschen Volkes über die anderen Nationen, sondern sie war die Herrschaft der deutschen Großgrundbesitzer, der deutschen Bürokratie und der deutschen Bourgeoisie über die Kleinbürger, Bauern und Arbeiter aller Nationen, einschließlich der Deutschen.

Aber die deutsche Herrschaft in Österreich war nicht nur in dem geschichtlich überkommenen Klassenaufbau begründet, sie war auch ein Mittel der auswärtigen Politik. Zu Beginn der Verfassungsära stand Österreich unmittelbar vor der Lösung der deutschen Frage.

Schmerling war schon 1848 im Frankfurter Parlament der Wortführer der großdeutschen Partei gewesen. Er blieb es, als er die neue Verfassung Österreichs entwarf. Österreich musste als deutscher Staat erscheinen, solange es die deutsche Kaiserkrone für die Habsburger in Anspruch nahm. Aber Verstellung gilt auf dem Markte der Geschichte nicht. Die deutsche Tünche, mit der Schmerling das alte Staatsgebäude überdeckt, hat niemanden getäuscht. Das künstliche Übergewicht einer schmalen deutschen Schichte konnte an den wirklichen Machtverhältnissen im Reiche nichts ändern. Auf dem Schlachtfelde von Königgrätz unterlag die großdeutsche Politik. Aber noch gibt Österreich seine Sache nicht verloren. Der Ausgleich mit Ungarn soll den rebellischen magyarischen Adel befriedigen und die deutsche Herrschaft in der westlichen Reichshälfte auf desto sicherere Grundlage stellen. Vergebens! Das Jahr 1870 bringt die kleindeutsche Politik an das lange ersehnte Ziel, bringt Preußen die deutsche Kaiserkrone.

Einen Augenblick schien es, als müsste mit dem Zweck auch das Mittel fallen. Nun, da die Hoffnung Österreichs auf die Herrschaft über Deutschland vernichtet ist, scheint die Herrschaft der Deutschen in Österreich selbst nicht mehr nötig. Unter Hohenwart ist die Dezemberverfassung ernsthaft bedroht. Aber gerade jetzt zeigt sich, wie die Herrschaft der deutschen Bourgeoisie und Bürokratie in Österreich doch mehr war als ein Mittel der auswärtigen Politik. wie stark sie in den Machtverhältnissen im Reiche selbst wurzelte. Gegen Hohenwart verbündet sich das Interesse der deutschen Bourgeoisie, die nicht in dem höchstentwickelten Lande unter die Herrschaft der feudalen Grundbesitzer und der tschechischen Kleinbürger fallen will, mit der deutschen Tradition der Bürokratie und mit der Macht des magyarischen Adels, der die Befreiung der Slaven in Österreich nicht dulden kann, weil er die Empörung der Slaven und Rumänen im eigenen Lande fürchtet. Das Ministerium Hohenwart fällt und die deutsche Herrschaft in Österreich überdauert den großdeutschen Gedanken.

Die zentralistisch-atomistische Regelung der nationalen Verhältnisse gibt keiner Nation eine andere Gewähr für die Befriedigung ihrer kulturellen Bedürfnisse als die Macht im Staat. Diese Macht aber hat die Verfassung durch den Dualismus in der Monarchie und das Privilegienwahlrecht in Österreich vorweg den historischen Nationen zugeteilt. Die geschichtslosen Nationen sahen sich durch die Verfassung auf den Kampf um die Macht gewiesen und doch durch dieselbe Verfassung von dieser Macht ausgeschlossen. Dies hat bei ihnen – und insbesondere bei der höchstentwickelten unter ihnen, bei den Tschechen – Staatsfeindschaft, unversöhnlichen Hass gegen Österreich erzeugt. Wenn es eine Nation gibt, die am Bestände Österreichs ein Interesse hat, bei der der Gedanke an Österreichs Zerfall nicht die Hoffnung nationaler Einheit, sondern die Furcht vor Fremdherrschaft erwecken muss, so sind es die Tschechen. Und doch lebt in keiner österreichischen Nation gleicher Hass, gleiche Feindschaft gegen den österreichischen Staat wie bei den Tschechen. Und Je mehr dieser durch die Schmerlingsche Verfassung erweckte Hass sich verbreitete und vertiefte, desto mehr hat ihn die österreichische Bürokratie durch ihre plumpen Mittel der Verfolgung, durch Konfiskationen, Verwaltungsschikanen und parteiische Justiz genährt. So ward im tschechischen Volk ein Seelenzustand gezüchtet, dem der rabiate Radikalismus der Tschechen in allen nationalen Fragen entspringt, eine erbitterte Stimmung, der alle nüchterne Erwägung nationaler Fragen unerträglich scheint.

Die Klasse, die zuerst dem nationalen Kampfe sein Gepräge gegeben hat, war der grundbesitzende Adel. Diese Klasse umfasst sehr verschiedenartige Elemente: einerseits die großen Latifundienbesitzer, die unermessliche Ländereien in allen Teilen Österreichs und oft auch außerhalb des Reiches ihr eigen nennen – man denke an die Schwarzenberge und ihre 99 Herrschaften! – vornehme Herren, deren Stammbaum nicht minder weit zurückreicht als der der Dynastie und die sich darum der Krone selbst ebenbürtig fühlen; auf der anderen Seite der kleine Adel mit verhältnismäßig kleinem Grundbesitz, der von altersher die hohen und mittleren Stellen in der Bürokratie und im Offizierskorps besetzt, seit dem Aufblühen des Kapitalismus auch mit der Bourgeoisie in enger wirtschaftlicher und sozialer Verbindung steht und daher auch von der Ideologie des Bürgertums durchtränkt ist. Die soziale Macht dieser Klasse war zu Beginn der Verfassungsära noch sehr groß: die wirtschaftliche Macht und das soziale Ansehen der Bourgeoisie, die allein der Gutsherrenklasse ihre überlieferte Stellung in der Gesellschaft hätte streitig machen können, wuchs in dem kapitalistisch langsam fortschreitenden Österreich nur allmählich; der Gedanke der bürgerlichen Rechtsgleichheit drang erst langsam in das Bewusstsein der Massen; waren doch erst wenige Jahre verstrichen, seit der staatliche Richter und Beamte an Stelle der „Herrschaft“, der „Obrigkeit“ getreten war. Dieses soziale Gewicht des Adels wurde durch das politische Vorrecht, durch das Privilegienwahlrecht für den Landtag und den Reichsrat, verstärkt. Man hatte den Großgrundbesitzern dieses Vorrecht um ihrer deutschen Nationalität willen verliehen. Ein Teil des Adels hat die Erwartung nicht getäuscht. Er wurde zum Bundesgenossen der deutschen Bourgeoisie und Bürokratie und verschafft ihr die Mehrheit in den Vertretungskörpern. Der mächtigste Teil des Adels aber, die großen böhmischen Latifundienbesitzer, gesellte sich den Gegnern des herrschenden deutschen Liberalismus zu: das Bündnis des „Feudaladels“ mit den Tschechen gab zuerst den nationalen Kämpfen unter der Herrschaft der liberalen Verfassung ihr Gepräge.

Das erste Mal begegnen wir einer verwandten Erscheinung in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus. Der Absolutismus hatte den alten Ständen den Rest ihrer politischen Bedeutung genommen. Seine ganze Gesetzgebung und Verwaltung stand unter dem Einfluss des rationalistisch-bürgerlichen Geistes der Aufklärung und darum im Widerstreit mit der überlieferten Ideologie eines großen Teiles des Adels. Aber wenn der Adel dem Absolutismus auch die Minderung ständischer Rechte und die „josefinische“ Politik gegenüber der Kirche verziehen hätte, so konnte er ihm nimmer verzeihen, dass der Staat auch in seine wirtschaftlichen Verhältnisse eingriff: dass kaiserliche Beamte und Kommissäre die Beschwerden der Bauern prüften, dass der Staat das „Bauernlegen“ verbot, die Verpflichtung der Bauern zu Robot und Abgaben beschränkte, den Bauern Freizügigkeit und freie Berufswahl gewährte, die Steuergesetze zum Nachteile der Gutsherren veränderte. Damals erinnerte sich der böhmische Adel der Kämpfe, die der tschechische Adel vor 1620 gegen den Staat geführt, und da diese Kämpfe das Gewand nationaler Kämpfe gegen den deutschen Staat getragen, so spielte auch er mit dem Gedanken, gegen den verhassten sozialen Feind den nationalen Kampf zu entfachen. Freilich waren die Verhältnisse seit der Niederwerfung der alten böhmischen Stände ganz andere geworden und so mussten sich die entrüsteten Herren mit sehr harmlosen Demonstrationen begnügen. So hat unter Josef II., wie Graf Kaspar Sternberg berichtet, der Adel seinem Unwillen über die Reformen des Kaisers dadurch Ausdruck gegeben, dass auf Verabredung alle böhmischen Adeligen in den Vorsälen der kaiserlichen Burg sich nur der tschechischen Sprache bedienten, obwohl sie ihrer nur in geringem Grade mächtig waren. [6]

Deutlicher zeigt sich die Sympathie des Adels für die Tschechen, sobald in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das neue kulturelle Leben der tschechischen Nation beginnt. Wenn ein oder der andere böhmische Adelige damals als Mäcen der jungen tschechischen Schriftsteller erscheint, so mag dies vielleicht nur der Einfall müßiger Laune sein, die sich in der billigen Unterstützung der Anfänge tschechischer Literatur ebensogut gefallen mochte wie in der Sammlung irgendwelcher Kuriositäten. Aber unverkennbar sieht doch auch schon mancher im böhmischen Adel, dass die kulturelle Bewegung der Nation politische Bedeutung gewinnen muss. Manchen vornehmen Herrn mag der Einfluss der Humanitäts- und Nationalitätsideen, von denen das Zeitalter erfüllt ist, der jungen Bewegung näher gebracht haben. Andere wieder begünstigten sie aus Hass gegen die deutsche Bourgeoisie und Bürokratie. Bald sieht sich der Adel nicht mehr als deutsch an, sondern als über beiden Nationen stehend, als ihr geborener Schiedsrichter. 1845 schreibt Josef Matthias Graf von Thun, er könne „mit vollem Selbstbewusstsein“ sagen, „dass ich weder ein Tscheche noch ein Deutscher, sondern ein Böhme bin“ [7], worauf ein Tscheche antwortet, hiermit sei schon ein großer Fortschritt erzielt, denn noch wenige Jahre vorher hätte kein böhmischer Adeliger Anstand genommen, sich als Deutschen zu bezeichnen. [8]

Aber erst seit 1860, wo im „verstärkten Reichsrat“ die Clam-Martinic, Nostitz-Rhieneck, Goluchowski die Theorie der „historisch-politischen Individualitäten“ vertreten, wird die flüchtige Beziehung zu dauerndem Bündnis. Wie konnte es geschehen, dass diese Lehre, die im Grunde antinational war, ganz bewusst und ausdrücklich dem „Garibaldischen Nationalitätendogma“ entgegengesetzt wurde, zum Bündnis der tschechisch-nationalen Partei mit dem Feudaladel führte?

Solange die Großgrundbesitzer und die Bourgeoisie nicht einen gemeinsamen Feind, das. Proletariat, zu fürchten haben, beherrscht der Gegensatz dieser beiden Klassen überall die politischen Kämpfe. Im Kampfe gegen die wachsende Macht der Bourgeoisie und des bürgerlichen Staates sucht der Adel Bundesgenossen und findet sie überall in den Klassen, die im wirtschaftlichen Gegensatz zu der Bourgeoisie stehen. In England unterstützen die Tories gelegentlich die Arbeiter im Kampfe gegen das Kapital, um die Arbeiterschaft von der liberalen Partei loszulösen. Ähnlich versuchen auch in Deutschland die Junker – im preußischen Verfassungskonflikt selbst die Krone – die Arbeiter gegen das liberale Bürgertum auszuspielen. Auch in Österreich kokettiert ein Teil des Adels mit Mittelstandsrettung und Arbeiterschutz, solange er hofft, in der sozialen Bewegung des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse einen Bundesgenossen im Kampfe gegen den Liberalismus zu finden. Aber wenn die soziale Demagogie des Adels nirgends den erwünschten Erfolg erzielt, so sind für sie in Österreich günstigere Bedingungen gegeben. Hier nimmt die soziale Demagogie des Adels die besondere Form der nationalen Demagogie an. Der Adel sucht die deutsche Bourgeoisie und Bürokratie zu bekämpfen, indem er sich mit der nationalen Bewegung des slavischen, insbesondere des tschechischen Kleinbürgertums verbündet. Das Mittel hierzu bietet ihm sein Kampf gegen die Verfassung.

Im Reich muss der Adel die Macht mit der deutschen Bourgeoisie und Bürokratie teilen. Ganz anders, wenn Böhmen ein selbständiger Staat wird. Hier werden die tschechischen Kleinbürger die deutschen Bourgeois und Bürokraten niederstimmen. Dass aber das tschechische Kleinbürgertum selbst Böhmen beherrsche, erscheint im undemokratischen Österreich jener Zeit, das nur die Großen und Reichen zur Herrschaft beruft, das durch seine Wahlrechtsprivilegien der Kurie des Großgrundbesitzes die Macht gibt, dieser oder jener Nation zur Mehrheit zu verhelfen und das hierdurch den Großgrundbesitz zum Schiedsrichter zwischen den Nationen, zum Herrscher über die Nationen macht, unmöglich. Wird Böhmen ein selbständiger Staat, so fällt die Herrschaft in ihm von selbst in die Hände der großen Latifundienbesitzer.

Dazu kommt noch, dass das soziale Ansehen des Adels desto stärker politisch wirksam wird, je enger der Kreis ist, in dem der Kampf um die staatliche Gewalt ausgetragen wird. Im Reiche verblasst das Ansehen des Adels: denn dem Bauern und Kleinbürger anderer Länder sind die stolzen Namen der böhmischen Geschlechter fremd. Im engen räumlichen Kreise dagegen vermag der Bauer und der Kleinbürger sich der wirtschaftlichen Macht und dem überlieferten Ansehen der „Herrschaft“ nicht zu entziehen und leistet ihr daher widerstandslos politische Gefolgschaft.

Endlich entspricht der Föderalismus auch der Ideologie des Adels. Die Reichsverfassung erscheint ihm als ein Kind der verhassten Revolution, die seine Privilegien vernichtet und seine Herrschaft über die Bauern gebrochen hat. Die Kronländer dagegen sind geschichtlich überliefert, mit der Erinnerung an ständisches Wesen eng verknüpft. Auf geschichtliche Überlieferung stützt sich überall die Macht des Adels, er ist überall der Wahrer der historischen Tradition. Seiner Liebe zur halb-mittelalterlichen Vergangenheit entspringt auch die Lehre, die „historisch-politischen Individualitäten“ dürften nicht angetastet werden, müssten die Grundlage des Staates bleiben.

So wirft der Adel die Verfassungsfrage auf. Dem Zentralismus stellt er den Föderalismus entgegen: Österreich soll ein Bundesstaat werden, an die Stelle der neuen Reichsverfassung soll ein lockerer Bund fast selbständiger Kronländer treten. Man hat die erstrebte föderalistische Verfassung als die Autonomie der Kronländer bezeichnet – ein arger Missbrauch des Wortes. Autonomie bedeutet Selbstverwaltung: wenn ich ein industrielles und ein agrarisches Gebiet, Deutsche und Tschechen zusammenzwänge, so dass immer die einen von den anderen und beide von den volksfremden Großgrundbesitzern beherrscht werden müssen, so ist das nicht Autonomie, Selbstverwaltung, sondern Heteronomie, Fremdherrschaft. Die föderalistische Verfassung hätte auch an der zentralistisch-atomistischen Auffassung des Verhältnisses der Nationen zum Staate nichts geändert, die Nation als Körperschaft nicht konstituiert: denn alle österreichischen Nationen wohnen in mehr als einem Kronlande, die Kronländerverfassung bedeutet daher für alle Völker nationale Spaltung; und fast alle Kronländer sind von mehr als einer Nation bewohnt; die föderalistische Verfassung bedeutet also in jedem Kronlande Herrschaft einer Nation über die andere. Auch in der föderalistischen Verfassung wäre jede Nation zum Kampfe um die politische Macht gezwungen gewesen, um sich die Befriedigung ihrer kulturellen Bedürfnisse zu sichern; nur wäre an Stelle des Kampfes um die Macht im Reiche der Kampf um die Macht im Kronlande getreten.

Aber die Verschiebung des nationalen Machtkampfes aus dem Reiche in die Kronländer hätte freilich die Machtstellung der Nationen wesentlich verändert. Die Tschechen, deren Lage unter der Schmerlingschen Verfassung und ebenso unter der Dezemberverfassung unerträglich war, sahen, hier eine Hoffnung, jene Macht zu erobern, die sie unter der Herrschaft der atomistisch-zentralistischen Regelung der nationalen Verhältnisse nicht entbehren konnten und die ihnen die geltende Verfassung versagte. Kein wirtschaftliches Interesse widerstritt für sie dem Föderalismus: der tschechische Kleinbürger produziert und handelt nur für den lokalen Markt. Der tschechische Landwirt bedurfte keineswegs eines so großen Absatzgebietes wie die deutsche Bourgeoisie. Am Bestände eines großen einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsgebietes hatte er daher nur geringes Interesse. Vielmehr war sein wirtschaftliches Interesse gewahrt, wenn nur die industriellen Gebiete der Sudetenländer seine Waren abnahmen und durch ihre höhere Steuerkraft für seine Bedürfnisse beitragen mussten. Dagegen war seine nationale Stellung im Lande weit günstiger als im Reiche. Hatte die tschechische Nation auch im Landtag des Königreiches, in dem auf sechs Tschechen vier Deutsche entfielen, dank dem Kurienwahlrecht allein nicht die Mehrheit, so war ihr doch Teilnahme an der politischen Gewalt gesichert, wenn sie sich mit dem Adel verbündete.

So schlossen denn die Tschechen ein dauerndes Bündnis mit dem Feudaladel. Palacký gab die Forderung nach einer organischen Regelung des Verhältnisses der Nationen zum Staate, nach der nationalen Autonomie, die er im Kremsierer Verfassungsausschuss vertreten hatte, preis und verpflichtete das tschechische Kleinbürgertum auf das Programm des Föderalismus. Die alttschechische Partei erkaufte die Bundesgenossenschaft des Feudaladels, indem sie sich seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen und seiner Ideologie anpasste: Palacký, der im Jahre 1848 die überlieferten Kronländer vernichten und die Verwaltung in die Hand national abgegrenzter Territorien legen wollte, stützte nun die lebendigen Forderungen des tschechischen Volkes auf das längst vermoderte böhmische Staatsrecht; und auch in allen national indifferenten Kulturfragen gibt die alttschechische Partei die bürgerlich-liberalen Forderungen mehr und mehr auf. Nur eine kleine Fraktion innerhalb des tschechischen Bürgertums, unter der Führung Sladkovskýs und Grégrs, weigerte sich, dem Feudaladel zuliebe die Forderungen des bürgerlichen Liberalismus zu opfern.

Den Deutschen musste der Kronländerföderalismus natürlich als eine arge Gefahr erscheinen. Er hätte die Herrschaft der deutschen Bourgeoisie und Bürokratie im Reiche gebrochen, das deutsche Bürgertum im höchst entwickelten Lande der Monarchie seinem sozialen Gegner – dem Feudaladel – und seinem nationalen Gegner – den Tschechen – ausgeliefert; er hätte die große Steuerkraft der deutschen Industrie in Böhmen den Bedürfnissen des agrarischen Landesteiles dienstbar gemacht; er bedrohte die deutsche Bourgeoisie mit der Gefahr, dass auf die Zerreißung des einheitlichen Rechtsgebietes auch die Teilung des einheitlichen Wirtschaftsgebietes folgen, sie ihre Absatzmärkte verlieren werde. Der Kampf zwischen Zentralismus und Föderalismus, dem Einheitsstaat und dem böhmischen Staatsrecht, ist der Klassenkampf der deutschen Bourgeoisie und Bürokratie mit dem großen Grundbesitz – die politische Erscheinungsform des Gegegensatzes zwischen Profit und Grundrente. Dank der deutsch-liberalen Verfassung, die jeder Nation den Kampf um die Macht auferlegte und die tschechische Nation doch durch ein schlaues System politischer Privilegien von dieser Macht auszuschließen suchte, ist das tschechische Volk in diesem Kampfe zur Gefolgschaft der alten Gutsherrenklasse geworden, obwohl diese Klasse erst durch die Vernichtung des alten tschechischen Adels in das Land gekommen war, obwohl sie fremden, zum guten Teile deutschen Ursprungs war, obwohl ihre Macht auf der Ausbeutung tschechischer Bauern und Arbeiter beruhte.

Neben den Großgrundbesitzern hat sich vor allem die Intelligenz des nationalen Kampfes bemächtigt. Die politische Macht der Intelligenz zu Beginn der liberalen Verfassungsepoche war sehr groß. Wohl ist die Intelligenz ihrer Zahl nach immer nur ein sehr kleiner Teil des Volkes. Aber da man die breiten Massen des Volkes durch den Steuerzensus aus den Wahlkörpern ausgeschieden hatte, bildeten die „Studierten“ einen nicht geringen Teil der Wählerschaft. Ihre Stimmenzahl fiel um so schwerer in die Waagschale, als die Intelligenz am politischen Leben sehr regen Anteil nahm, während die Massen, wie schon die geringe Wahlbeteiligung bei den Landtags- und Reichsratswahlen bis etwa zum Anfang der Neunzigerjahre beweist, lange dem politischen Leben ohne jede Teilnahme verständnislos gegenüberstanden. Dazu kam noch, dass die Lehrer und Pfarrer, Ärzte und Advokaten, Apotheker und kleinen Beamten in den Landstädten und Dörfern in der Regel die Häupter der Gemeindecliquen waren, denen die gesamte Wählerschaft politische Folgschaft leistete. Aber über all das hinaus wurde der politische Einfluss der Intelligenz dadurch vermehrt, dass die Massen der österreichischen Bevölkerung dank der schlechten Volksschule zu unwissend und ungewandt waren, dank dem Mangel politischer Schulung dem politischen Treiben mit viel zu wenig Verständnis gegenüberstanden, als dass sie ihre Politik selbst hätten leiten können. Notwendig fiel darum die politische Führung der Bauern und Kleinbürger überall in die Hände der akademisch Gebildeten.

Die politische Haltung der Intelligenz ist überall durch ihre Stellung außerhalb des Produktionsprozesses, außerhalb der Klassen bestimmt. Die Gegensätze und Kämpfe der Unternehmer und der Arbeiter, der Kapitalisten und der Handwerker, der Agrarier und der Industriellen kümmern sie nicht, sie versteht sie nicht. Allen Klassenkämpfen steht sie ohne eigenes Interesse und darum teilnahmslos und ratlos gegenüber. Aber wenn die Intelligenz den realen wirtschaftlichen Sorgen ohne jedes Verständnis gegenübertritt, so ist sie dagegen, dank ihrer Bildung, stärker als alle anderen Klassen der Herrschaft der Ideen ihrer Zeit unterworfen. Wo nicht die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft ihre Kräfte messen, sondern das gesamte Volk als ungeschiedene Masse im Kampfe steht, dort ficht sie in der ersten Reihe. Darum stellt sich die Intelligenz überall an die Spitze der Kämpfenden, wo das Volk als Ganzes gegen den Absolutismus kämpft – wie 1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland und Österreich, heute in Russland. Und aus demselben Grunde nimmt die Intelligenz überall am Kampfe regen Anteil, wo die Nation als Ganzes den anderen Nationen gegenübertritt. So wies in Österreich alles die Intelligenz auf den nationalen Kampf: schon der große politische Einfluss der Intelligenz musste bewirken, dass die Augen der Bevölkerung, von den sozialen Gegensätzen abgelenkt, den nationalen Kämpfen zugewendet werden mussten.

Sobald die aus den Massen der geschichtslosen Nationen hervorgegangene Intelligenz nicht mehr in der Kulturgemeinschaft der historischen Nationen aufging, sondern sich ihre Nationalität bewahrte, empfand gerade sie die nationale Fremdherrschaft schwer. Der überall nach sozialem Ansehen lüsternen Intelligenz erschien die Tatsache unerträglich, dass ihre Nation missachtet war, ihre Kultur gering geschätzt wurde, dass ihr Volk an der politischen Macht keinen Teil hatte. Der tschechische Student empfand die deutsche Sprache der Schulen, der tschechische Beamte die deutsche Sprache der Gerichte als ein sichtbares Zeichen, als die anschauliche Gestalt der Missachtung seiner Nation, als eine Verletzung seiner „nationalen Ehre“. So beginnt denn zuerst die Intelligenz der geschichtslosen Nationen den Kampf um die nationale Schule und um die Sprache der Verwaltungsbehörden und Gerichte. Wenn die Großgrundbesitzer die nationale Frage zur Verfassungsfrage gemacht haben, so warf die Intelligenz die Frage der nationalen Schulen und die Sprachenfrage auf.

Die Frage der nationalen Schule ist gewiss die wichtigste von allen nationalen Fragen; denn die nationale Erziehung ist das stärkste Bindemittel der Nation. Aber die Intelligenz hat die Bedeutung dieser Frage weitaus überschätzt. Die Entwicklung keiner Nation hängt ausschließlich, hängt auch nur überwiegend von der Gestaltung ihres Schulwesens ab. „Was sind Schulstunden gegen den langen Tag, die Schul- und Kinderjahre gegen das lange Leben!“ [9] Die Intellektuellen aber, die selbst einen größeren Teil ihres Lebens als die Zugehörigen aller anderen Klassen in der Schule verbracht und deren Kinder wiederum ihre ganze lange Jugendzeit in der Schule verbringen, haben an der Schulfrage größeres Interesse als alle anderen Klassen. Und die Schulen, um die sie streiten, sind nicht die Volksschulen, in denen die breiten Massen erzogen werden, sondern die Schulen, die sie selbst als Schüler besuchten und an denen sie als Lehrer wirken, die Mittel- und Hochschulen. Die nationale Frage ist ihnen darum vor allem eine Frage der Gymnasien und Universitäten.

Auch die Frage der Amts- und Gerichtssprache hat gewiss ihren tiefen historischen Untergrund. Dem Kampfe gegen die ausschließliche Geltung der deutschen Sprache Hegt der Aufstieg der geschichtslosen Nationen zu neuem Kulturleben zugrunde. Im Kampfe um die Sprachenfrage spiegelt sich heute der, unter der Herrschaft der zentralistisch-atomistischen Staatsidee unvermeidliche Kampf der Nationen um die Macht im Staate. Aber ist es wunderbar, dass diese Frage den Beamten, Richtern und Advokaten wichtiger erscheint, als sie ist?

Aber die Intelligenz der verschiedenen Nationen wird nicht nur durch ihre ganze Bildung und Beschäftigung dazu getrieben, die Bedeutung der Schul- und Sprachenfrage zu überschätzen; sie erhält an der Lösung dieser Fragen sehr bald auch ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse. Die tschechische Intelligenz lernt von altersher immer deutsch; die deutschen Intellektuellen, die immer noch die Sprache missachten, die einst nur die Sprache unterdrückter Klassen war, sind der tschechischen Sprache selten mächtig. Die tschechische Amtssprache in dem tschechischen Sprachgebiet schließt den deutschen Beamten und Advokaten dort aus. Wird die Kenntnis der tschechischen Sprache selbst im deutschen Gebiete gefordert, wie dies nach den Badenischen Sprachenverordnungen der Fall war, so sieht sich der deutsche Beamte selbst hier von der Konkurrenz des tschechischen Kollegen bedroht. Indem die deutsche Intelligenz für die ausschließliche Erhaltung der deutschen Amts- und Gerichtssprache kämpft, sucht sie sich den Wettbewerb tschechischer Kollegen fernzuhalten. Dieselbe Bedeutung hat auch die Schulfrage für sie. Wenn die Mittel- und Hochschulen deutsch sind, so ist das Studium für die Söhne der tschechischen Kleinbürger und Bauern wesentlich erschwert: der Kampf gegen die tschechischen Schulen ist gleichfalls ein Kampf der deutschen Intelligenz gegen die slavische Konkurrenz. Dieser Kampf wird desto erbitterter, je mehr sich die deutsche Intelligenz von den Kollegen der anderen Nationen bedroht sieht.

Je unbequemer dem deutschen Beamten der tschechische Vordermann in der Rangsliste, dem deutschen Advokaten und Arzt die Konkurrenz des tschechischen Kollegen wird, desto heftiger kämpft er gegen die tschechischen Gymnasien und Universitäten, desto leidenschaftlicher hält er an der deutschen Amtssprache fest. Und der ganze große Kreis jener, die unter seinem politischen Einfluss stehen, gibt seiner Forderung lauten Widerhall.

Der Großgrundbesitz hat die nationale Frage zur Verfassungsfrage gemacht. Die Intelligenz macht sie zur Schul- und Sprachenfrage. Aber wenn dem Kampfe um die Verfassung noch ein Klassenkampf zugrunde lag, der Kampf der Gutsherrenklasse gegen die Bourgeoisie und Bürokratie, so birgt sich im Streit um Schul- und Amtssprache nicht ein Klassenkampf mehr, sondern nur ein Konkurrenzkampf innerhalb einer Klasse, ein Konkurrenzkampf innerhalb der Intelligenz.

Der Inhalt der politischen Kämpfe der Nationen ist damit gegeben. Die nächste Klasse, die auf der politischen Bühne auftritt, das Kleinbürgertum, gibt dem Programm der nationalen Parteien nicht neuen Inhalt, sondern bestimmt nur die Energie des Kampfes, verändert die Tonart, in der die nationalen Forderungen vertreten werden.

Die Oberschichte des Kleinbürgertums, die wohlhabenderen Kaufleute und Gastwirte, die Hausbesitzer, die bessergestellten Handwerker, haben vom Beginn der Verfassungsära an Anteil am politischen Kampfe. Aber sie stehen unter der Führung der anderen Klassen – der Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes, der Bürokratie und Intelligenz – und vermögen das Wesen des nationalen Kampfes nicht zu bestimmen. Erst als seit 1882 das gesamte Kleinbürgertum politisch zu Worte kommt, prägt es dem nationalen Kampfe seinen Charakter auf.

Das Kleinbürgertum bringt in die österreichische Politik zunächst seinen Radikalismus, seine Freude an lauten Worten, an grobem Schimpf, an der „scharfen Tonart’“. Durch den Kapitalismus bedrängt und geknechtet, unzufrieden mit der Gesellschaftsform, deren Opfer es ist, will es seinem Grimm Luft machen. Hätte das Kleinbürgertum um seine wirtschaftlichen Forderungen, die Zwangsgenossenschaften und den Befähigungsnachweis, mit den anderen Klassen kämpfen müssen, so hätte dieser Radikalismus doch wenigstens teilweise die Form politischen Kampfes um die Sonderforderungen der Klasse annehmen können. Aber diesen Kampf ersparte ihm das Privilegien Wahlrecht: in der Städtekurie konnte kaum noch jemand gewählt werden, der nicht auf die kleingewerbliche Mittelstandspolitik eingeschworen war; das wirtschaftliche Klasseninteresse hatte hier keine parteibildende Kraft mehr. Und in den anderen Kurien, in denen Großgrundbesitz, Bourgeoisie und Bauern herrschten, konnte die kleinbürgerliche Forderung überhaupt nicht laut werden: die Kurienteilung machte den Klassenkampf bei der Wahl unmöglich. So war der Kampf um die Mittelstandspolitik durch die Einteilung des Parlaments in Kurien von vornherein entschieden, in diesem Kampfe konnte sich der kleinbürgerliche Radikalismus nicht ausleben. Hätten die kleinbürgerlichen Parteien Hoffnung auf unmittelbare Beherrschung der staatlichen Macht, etwa durch ein parlamentarisches Ministerium aus ihrer Mitte, gehabt, so wären sie gezwungen gewesen, den Bedürfnissen des Staates Rechnung zu tragen, ihren Radikalismus zu mildern: aber die Bürokratie hielt die Verwaltung fest in der Hand und gewährte auf sie wohl der Bourgeoisie und dem adeligen Grundbesitz, aber noch nicht den langsam erst emporkommenden kleinbürgerlichen Parteien Einfluss. So wurde der kleinbürgerliche Radikalismus weder durch die Notwendigkeit des Kampfes mit anderen Klassen von den nationalen Kämpfen abgelenkt, noch durch die Notwendigkeit der Rücksicht auf die Bedürfnisse des Staates gemildert. Der Kampf um die Verfassung, um die Schul- und Sprachenfrage wird nun mit ganz anderen Worten und Gebärden, mit ganz anderer Leidenschaft geführt als ehedem. Die unzufriedene Stimmung des wirtschaftlich bedrängten Kleinbürgertums wird, da sie sich nicht im politischen Kampfe für die Forderungen der Klasse ausdrücken kann, zu nationalem Radikalismus.

Für diesen nationalen Radikalismus war das Kleinbürgertum vorbereitet worden durch den nationalen Hass, den, wie wir bereits wissen, die kapitalistische Entwicklung, die Umsiedlung der Bevölkerung, gerade im Kleinbürgertum erzeugt hat. Dieser nationale Hass hatte zur Freude an zwecklosen nationalen Demonstrationen geführt – zu dem Vernichtungskrieg gegen die Straßentafeln in der anderen Sprache, gegen den öffentlichen Gebrauch der anderen Sprache, zur Verhinderung der Feste und Versammlungen der Minderheit. Diese nationale Demonstrationspolitik bringt nun das Kleinbürgertum auch in das Parlament. Nun handelt es sich gar nicht darum, der eigenen Nation Macht zu sichern, sondern die fremden Nationen zu kränken. Der Kampf ist nicht mehr Mittel zu einem Zweck, sondern Demonstration, Selbstzweck, die Form, in der das Kleinbürgertum der seiner sozialen Unzufriedenheit entspringenden radikalen Stimmung und dem durch die soziale Umwälzung in ihm erzeugten nationalen Hass Ausdruck gibt. Und diese Kampfeswut mildert keine Rücksicht auf die Notwendigkeit zweckbewusster Politik im Staat. Denn das Kleinbürgertum sieht niemals den ganzen Staat und niemals das ganze Volk, sondern immer nur die kleine Stadt, in der sich sein Leben abspielt, und möchte das ganze Reich in Stücke schlagen, wenn in seinem kleinen Nest eine tschechische Schule oder ein tschechischer Beamter sein Wohlbehagen stört. Was kümmert es den Kleinbürger, dass er die Machtstellung seiner ganzen Nation gefährdet, wenn nur die Stadt Cilli kein slovenisches Gymnasium bekommt! Aus diesem kleinbürgerlichen Radikalismus entspringt die Unnachgiebigkeit der nationalen Politik; keine nationale Partei kann dem Gegner ein Zugeständnis machen, mit ihm einen Vergleich schließen – bei Strafe des Unterganges.

Dieser kleinbürgerlich-nationale Radikalismus zeigt sich zuerst bei den nichtdeutschen Nationen. Bei den Deutschen ist der Einfluss der Bourgeoisie und Bürokratie stärker; er erhält die deutsche Politik auch noch nach 1882 in einer Richtung, die das staatliche Zusammenleben der Nationen nicht schlechthin unmöglich macht. Aber je mehr auch hier das Kleinbürgertum seine Politik in eigene Hand nimmt, die Psychologie der kleinbürgerlichen Wähler die parlamentarische Haltung der Gewählten bestimmt, desto stärker wird auch hier der nationale Radikalismus. Dieser deutsche Radikalismus wird durch die Tatsache genährt, dass die Alleinherrschaft der deutschen Minderheit in Westösterreich nicht zu behaupten ist. Schon das Bündnis der Feudalen mit den Tschechen hat den schlauen Plan, die deutsche Minderheit im Reiche zur Mehrheit im Parlament zu machen, arg beeinträchtigt. Die Erweiterung des Wahlrechtes in der Kurie der Städte und Landgemeinden vermehrt die Wählerzahl der geschichtslosen Nationen. Der Staat muss sich allmählich der Tatsache, dass die Nationen zu historischem Leben erwacht sind, anpassen, wenigstens die dringendsten Kulturbedürfnisse der nichtdeutschen Nationen befriedigen. So erscheint die politische Geschichte dem deutschen Kleinbürger als fortwährende Minderung deutscher Macht. Je weniger Österreich ein deutscher Staat ist, desto weniger empfindet das deutsche Kleinbürgertum die österreichischen Staatsinteressen als Interessen seines Volkes, desto mehr werden die Deutschen zu einer nationalen Partei, wie die anderen auch: Waren einst die deutsche Bourgeoisie und Bürokratie die Macht, die den (von ihnen beherrschten) Staat gegen den Ansturm des Kleinbürgertums der anderen Nationen verteidigte, so bildet nun das deutsche Kleinbürgertum nationale Parteien, die mit den nationalen Parteien der anderen Nationen, unbekümmert um die Bedürfnisse des Staates, auf gleichem Boden den Kampf um die Macht im Staate führen. Die Vernichtung der alten liberalen Partei und der Beginn der deutschen Obstruktion gegen das Ministerium Badeni bedeutet, dass auch im deutschen Lager der kleinbürgerliche Radikalismus den Einfluss der Bourgeoisie und Bürokratie gebrochen hat.

Die Stürme des nun mit wachsender Erbitterung und Leidenschaft geführten nationalen Kampfes gewinnen immer breitere Massen der nationalen Machtpolitik. Dies gilt zunächst von den Bauern.

Der Bauer alten Schlages steht in keinem engeren Verhältnis zu jenem sozialen Kreise, in dem die wirtschaftlichen Wandlungen den nationalen Hass erzeugen. In sein Dorf dringt der tschechische Arbeiter und Kleinbürger nicht. Auch heute noch sorgen in vielen Teilen Böhmens und Mährens die Bauern dafür, dass ihre Kinder die zweite Landessprache erlernen: der deutsche Bauer gibt zu diesem Zwecke sein Kind für ein Jahr einem tschechischen Bauer in Pflege und nimmt dafür dessen Kind in Kost. Die Bauern im Innern des geschlossenen Sprachgebietes aber, die den nationalen Gegner niemals sehen, kümmern sich auch um den nationalen Kampf nicht. Die Ideologie dieser vom nationalen Kampfe noch nicht ergriffenen, an alle Überlieferung festgebundenen Bauern war der Klerikalismus. Die katholische Kirche stand dem nationalen Kampfe von Anfang an verständnislos und feindlich gegenüber. In dem berühmten Hirtenbrief vom 17. Juni 1849, der von einer Synode von 35 Bischöfen der deutsch-slavischen Erblande beschlossen wurde, wurden die Nationalitäten für einen Rest des „Heidentums“ erklärt, da „die Verschiedenheit der Sprache nur eine Folge der Sünde und des Abfalles von Gott sei“. Die klerikalen deutschen Bauern, die sich den feudalen Großgrundbesitzern durch die Gemeinschaft des agrarischen Interesses, durch den Hass gegen den Liberalismus und durch ihre am alten hängende Ideologie eng verbunden fühlten, schlossen sich daher auch ohne Bedenken mit Feudalen, Tschechen und Polen zusammen zum „eisernen Ring“, der der deutschen Herrschaft in Österreich ein Ende bereitete.

Aber je mehr der Bauer in den Kreis der kapitalistischen Warenproduktion einbezogen wird, desto schneller ändert sich auch seine Stellung zur nationalen Frage. Der tschechische Häusler und Kleinbauer, der als Hausindustrieller einem deutschen Kapitalisten front, ist bereits national. Sobald aber die Warenproduktion die Bauern umfasst, der Bauer zum reinen Landwirt wird, in engen Verkehr mit der städtischen Bevölkerung tritt, unterliegt er auch der städtischen, der kleinbürgerlichen Ideologie. Überdies trägt die industrielle Entwicklung den nationalen Gegensatz auch in das Dorf. Auch im tschechischen Dorf erscheint der deutsche Fabrikant und Angestellte, auch im deutschen Dorf der tschechische Arbeiter und Kleinbürger. Die bessere Schulbildung, die allgemeine Wehrpflicht, der politische Kampf, Volksversammlungen und Zeitungen bringen die Bauern dem städtischen Kleinbürgertum immer näher. So wird zuerst der Bauer in den kapitalistisch schnell entwickelten Sudetenländern den nationalen Parteien zugeführt.

Allmählich ergreift diese Bewegung auch die deutschen Bauern der Alpenländer. Auch hier verändert sich die Wirtschaft der Bauern: die Eisenbahnen, der Fremdenverkehr, die landwirtschaftlichen Genossenschaften wandeln auch hier den Bauer alten Schlages allmählich in den reinen Landwirt, bringen ihn dem Kleinbürgertum der Städte näher. Die alte klerikale Politik wird auch hier unmöglich, die klerikale Partei muss sich entweder selbst dem neuen Geiste der Bauern anpassen oder sie wird von einer jung-klerikalen Partei, den Christlich-Sozialen, abgelöst. Diese Parteien müssen nun auch auf dem Lande mit der Macht des nationalen Gedankens rechnen. Sie stehen nicht in den vordersten Reihen des nationalen Kampfes, aber sie können nicht mehr vom. nationalen Kampfe absehen, können sich nicht mehr mit den nationalen Gegnern verbinden, müssen bei jeder entscheidenden Abstimmung den kleinbürgerlichen Nationalisten der eigenen Nation Gefolgschaft leisten.

Aber nicht nur die Bauern, auch einen Teil der Arbeiterschaft erfasst der Gedanke des nationalen Machtkampfes. Als im Jahre 1897 zum ersten Mal die Arbeiter zur Wahl in der neuen Kurie des allgemeinen Wahlrechtes schritten, siegte im klassischen Lande des Nationalitätenkampfes, in Böhmen, die Sozialdemokratie. Aber ihr großer Erfolg entfesselte die Wut der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums. Die Kurienverfassung gab ihnen die Mittel zum Kampfe. Die Interessen der besitzenden Klassen waren Ja hinreichend gesichert, da 72 Abgeordneten des allgemeinen Wahlrechtes 363 Vertreter der privilegierten Kurien der Besitzenden gegenüberstanden. So konnten die nationalen Parteien ohne jede Gefahr für die Klasseninteressen des Bürgertums sich nationale „Arbeiterparteien“ angliedern, die der Arbeiterschaft die Wahrung ihrer Interessen versprachen und sie dadurch für den nationalen Machtkampf gewinnen sollten. Die Wahlen des Jahres 1901 zeigten, dass das verlogene Spiel nicht erfolglos war. Die deutsche und die tschechische Sozialdemokratie erlitt in Böhmen und Mähren eine Niederlage: ein beträchtlicher Teil der indifferenten Arbeiterschaft hatte im tosenden Lärm des nationalen Kampfes alle nüchterne Besonnenheit verloren und sich von seinen Klassengegnern für ihre Politik gewinnen lassen. Und auch die organisierte, sozialdemokratische Arbeiterschaft konnte sich der Stimmung der Zeit nicht völlig entziehen. Da und dort zeigten sich Zeichen, dass sie nicht mehr mit der alten Festigkeit an ihren internationalen Gedanken festhielt, dass auch mancher in ihrer Mitte an sich selbst irre geworden war.

Jetzt erst ist der Aufmarsch der Parteien im nationalen Machtkampfe vollzogen. Welch seltsames Bild! Gestritten wird noch immer um die Forderungen, die einst der Großgrundbesitz im Kampfe gegen die Bourgeoisie, die dann die Intelligenz im Konkurrenzkampfe formulierte: um Zentralismus und Föderalismus, Universitäten und Gymnasien, um die Sprache der Verwaltungsbehörden und Gerichte. Aber in diesem Kampfe werden Jetzt die Kräfte der ganzen Nationen einschließlich der Bauern und eines Teiles der Arbeiterschaft eingesetzt! Die Form und Energie des Kampfes bestimmt das Kleinbürgertum, aber der rabiate Radikalismus des Kleinbürgertums und sein nationaler Hass haben die Bauern und einen Teil der Arbeiterschaft angesteckt. Je breiter aber die Massen werden, an die der nationale Politiker sich wendet, desto lauter wird sein Geschrei, desto plumper werden seine Gebärden, desto mehr verliert jede Partei die Besinnung auf die natürlichen Grenzen ihrer Macht, desto unmöglicher wird es für jede Nation, auch nur im geringfügigsten nationalen Kampfe dem Gegner ein Zugeständnis zu machen oder sich mit ihm zu verständigen.

Die Nationen waren ausgezogen, Macht im Staate zu erobern, damit der Staat ihre kulturellen Bedürfnisse befriedige. Der Kampf um die Macht im Staate war zu einem Kampfe der Nationen gegeneinander geworden. Dieser Kampf ward immer heftiger, bis er in der deutschen und in der tschechischen Obstruktion seinen Höhepunkt erreichte. Nun ist Jede Nation stark genug, zu verhindern, dass der nationale Gegner auch nur den geringsten Fortschritt mache. Aber das bedeutet auch, dass allen Nationen der Weg zum kulturellen Fortschritt, soweit er staatlicher Hilfe bedarf, versperrt ist. Die Nationen wollten sich Macht im Staate erobern und haben die schmählichste Ohnmacht erlangt: keine Nation kann mehr eine neue Universität, eine neue Mittelschule, eine ihr günstige Regelung der einfachsten Amtssprachenfrage erlangen ohne die gnädige Duldung des nationalen Gegners.

Aber noch mehr! Im Jahre 1901 setzt auch in Österreich eine schwere wirtschaftliche Krise ein. Die Erneuerung der Handelsverträge stellt alle Klassen vor eine große Frage, von deren Lösung die Entwicklung der österreichischen Industrie und Landwirtschaft, also auch die kulturelle Entwicklung jeder Nation, der Umfang ihrer Kulturgemeinschaft und der Reichtum ihrer Kultur sehr wesentlich beeinflusst wird. Die Erneuerung des österreichisch-ungarischen Ausgleiches wirft eine ganze Reihe von Fragen von größter Bedeutung auf. Alte Gesetze, die den Bedürfnissen der Zeit nicht entsprechen, wie das alte Strafgesetz, die Militärstrafprozessordnung, sind immer noch in Kraft und vernichten alljährlich Tausende von Existenzen. Reformen, die längst die ganze Bevölkerung als unabweisbar anerkannt, von deren schneller Durchführung die Rettung Tausender abhängt, wie die Alters- und Invalidenversicherung, sind immer noch nicht vollendet. Aber Österreich hat für all das keine Zeit. Das österreichische Parlament ist obstruiert wegen der inneren Amtssprache in Böhmen und wegen der Brünner tschechischen Universität und – keine Klasse, keine Nation in Österreich kann zu allen jenen wichtigen Fragen auch nur. Stellung nehmen, ihre Lösung ihrem Willen gemäß bestimmen. Das Ministerium Koerber erledigt die wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Fragen, ohne das Parlament zu befragen, auf Grund des § 14. Die Nationen waren ausgezogen, politische Macht zu erobern, und sie hatten alle Macht verloren, hatten den Staat der Bürokratie vollständig ausgeliefert.

Aber auch die Bürokratie wird ihrer Gewalt nicht froh. Sie vermag wohl dem Staat das nackte Leben zu sichern, die äußere Ruhe im Staat zu bewahren, die dringendsten Angelegenheiten absolutistisch zu ordnen. Aber der Staat braucht mehr: er bedarf fortwährender Kulturarbeit, unablässiger Reformen. Alle Reformtätigkeit stockt aber, seit das Parlament durch den nationalen Kampf völlig lahmgelegt ist.

Jede Nation machtlos, weil die anderen Völker nicht dulden, dass der Staat ihren Willen erfülle; alle Klassen machtlos, weil der Kampf der Nationen untereinander ihre Macht bricht, die politische Gewalt vollständig der Bürokratie ausliefert; und diese Bürokratie selbst wieder ohnmächtig, weil die Maschine der Gesetzgebung stockt – das ist das Bild Österreichs von den Sprachenverordnungen des Ministeriums Badeni bis zur Wahlreformvorlage des Ministeriums Gautsch. Dieser Zustand völliger Ohnmacht aller Nationen, aller Klassen, des Staates selbst, ist die Selbstaufhebung der zentralistisch-atomistischen Verfassung. Notwendig wenden sich aller Augen der anderen möglichen Regelung des Verhältnisses der Nationen zum Staate zu, die Springer als die organische Auffassung bezeichnet hat. Zuerst von allen Klassen erkennt die Arbeiterklasse die neue Notwendigkeit. Schon im September 1899 verkündet der Brünner Gesamtparteitag der österreichischen Sozialdemokratie die nationale Autonomie als das nationale Programm der Arbeiterklasse.

Fußnoten

1. Rudolf Springer, Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, Wien 1902, S.10ff.

2. Vergleiche Jellinek, a.a.O., S.311ff.

3. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Berlin 1868, I, S.645.

4. Vergleiche Rudolf Springer, a.a.O., S.28ff.

5. Vergleiche Rudolf Springer, Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1906.

6. Skene, Entstehung und Entwicklung der slavischen Nationalbewegung in Böhmen und Mähren im 19. Jahrhundert, Wien 1893, S.55.

7. Josef Matthias Graf von Thun, Der Slavismus in Böhmen, Prag 1845. – Masaryk bemerkt, dass dieser Satz sich nicht einmal in das Tschechische übersetzen lässt, da die tschechische Sprache die Tschechen (die Nation) und die Böhmen (die Bewohner des Landes) mit demselben Worte bezeichnet.

8. Worte eines Tschechen, veranlasst durch die Graf Matthias von Thunsche Broschüre: Der Slavismus in Böhmen, Leipzig 1845.

9. Rudolf Springer, Grundlagen und Entwicklungsziele, S.67.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008