Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


IV. Die nationale Autonomie


§ 21. Das Territorialprinzip


Wir behandeln die nationale Autonomie in folgendem zunächst als proletarische Forderung. Wir fragen also: Wie würde das Proletariat, gesetzt, dass es die Macht hierzu hätte, die geforderte rechtliche Selbstbestimmung der Nationen im einzelnen ausgestalten, durch welche Rechtsinstitute würde es sie sichern:

Wenn wir die Frage nach der konkreten Durchführung des allgemeinen Grundsatzes der nationalen Autonomie aufwerfen, so bestimmt uns hierzu nicht die müßige Freude am Spiele der Phantasie, die so gern im luftleeren Raum Staaten aufbaut und Staaten vernichtet; vielmehr suchen wir dem allgemeinen Begriff der nationalen Autonomie nur so weit anschaulichen Inhalt zu geben, soweit durch das Bild der von der Arbeiterklasse geforderten Verfassung ihre Stellung zu den nationalen Kämpfen der Gegenwart bestimmt wird.

Die einfachste Gestalt, in der die nationale Autonomie verwirklicht gedacht werden kann, ist die Konstituierung der Nation als Gebietskörperschaft. Die Siedlungsgebiete der einzelnen Nationen werden gegeneinander abgegrenzt. Innerhalb ihrer Grenzen bildet jede Nation einen Staat, sorgt selbstständig für ihre kulturellen Bedürfnisse und regelt die Verhältnisse aller, die in diesem Gebiet wohnen, zueinander und zur Gesamtheit. Alle Nationen Österreichs bilden einen Bundesstaat, der die allen Nationen gemeinsamen Angelegenheiten regelt, die allen Nationen gemeinsamen Interessen wahrt.

Die Selbstverwaltung der rechtlich abgegrenzten Sprachgebiete ist in fast allen österreichischen Kronländern eine Forderung der nationalen Minderheit. In Böhmen wird sie von den Deutschen, in Galizien von den Ruthenen, in Tirol von den Italienern, in Steiermark von den Slovenen verlangt. Die herrschenden Mehrheiten dagegen lehnen sie überall ab: in Böhmen beschuldigen die Tschechen die Anhänger der nationalen Abgrenzung des großen Verbrechens der „Landeszerreißung“; ebenso verwerfen in Steiermark und in Tirol die Deutschen, in Galizien die Polen die Abgrenzung der Sprachgebiete. Es entspricht dem Wesen des Kleinbürgertums, dessen Blick niemals über einen engen örtlichen Kreis hinausreicht, dass dieselben kleinbürgerlich-nationalen Parteien, die die nationale Abgrenzung in Böhmen fordern, sie in Steiermark und Tirol ablehnen. Wenn die Sozialdemokratie die nationale Abgrenzung im ganzen Reiche verlangt, so macht sie zum Prinzip der Reichsverfassung, was schon die bürgerlichen Parteien für die nationalen Minderheiten in den einzelnen Kronländern verlangt haben.

Die nationale Autonomie auf Grund des Territorialprinzips ist zweifellos ein Mittel zur Abgrenzung der nationalen Machtsphären, zur Schlichtung der nationalen Machtkämpfe. Aber zweifelhaft ist es, ob auch das geeignetste Mittel.

Man hat gegen die Konstituierung nationaler Gebietskörperschaften innerhalb des Staates eingewendet, dass dauernde Abgrenzung der nationalen Siedlungsgebiete gar nicht möglich sei, weil die Sprachgrenze fortwährend verschoben werde. Die Grenze der nationalen Teilstaaten würde schon nach wenigen Jahren mit der tatsächlichen Sprachgrenze nicht zusammenfallen und häufige nationale Kämpfe um neue Abgrenzung wären die Folge. Diese Befürchtung haben die Anhänger des Territorialprinzips mit Erfolg durch den Nachweis widerlegt, dass die Sprachgrenze viel dauerhafter ist, sich viel langsamer und in viel geringerem Umfange verschiebt, als man gewöhnlich annimmt. Die Sprachgrenze ist durch das Grundeigentum fixiert: soweit der Boden deutschen Bauern gehört, ist deutsches, soweit er tschechischen Bauern gehört, ist tschechisches Gebiet. Jede Verschiebung der Sprachgrenze setzt voraus, dass der deutsche Grundeigentümer durch den tschechischen oder der tschechische durch den deutschen ersetzt wird. Nun erbt in der Regel der Bauernsohn das Gut des Vaters. Und selbst wenn ein Bauerngut verkauft wird, fällt es nur selten in national fremde Hände. Darauf beruht im wesentlichen die Festigkeit der Sprachgrenze. Allerdings kommt es auch vor, dass Veränderungen im Grundbesitz die Wirkung haben, die Grenzen der Sprachgebiete zu verschieben. In Böhmen gibt es viele Bezirke, aus denen Grundbesitzer in größerer Zahl auswandern – nach den deutschen Industriegebieten des Landes, nach Wien oder nach Amerika. Das Land fällt dann nicht selten an einen Großgrundbesitzer, der die Bauern durch Landarbeiter ersetzt. Es kann nun sehr wohl geschehen, dass diese Landarbeiter, die der Großgrundbesitzer herangezogen hat, einer anderen Nation angehören als die verdrängten Bauern. Es ist vorgekommen, dass auf diese Weise der deutsche Bauer durch tschechische Landarbeiter ersetzt und dadurch die Sprachgrenze zugunsten der Tschechen verschoben wurde. Häufiger ist der Fall, dass das Land der auswandernden Bauern und Häusler in die Hände anderer Bauern fällt. Es gibt Bezirke, wo die deutschen Bauern zufällig besseren Boden besitzen als die tschechischen. Die tschechischen Bauern und Häusler wandern aus, die wohlhabenderen deutschen Bauern kaufen ihr Land auf. Hier wird die Sprachgrenze zugunsten der Deutschen verschoben. Aber diese Veränderungen sind wenig zahlreich und geringfügig. Die Forschungen Herbsts, Schlesingers, Rauchbergs haben überzeugend nachgewiesen, dass wohl kleine Verschiebungen bald zugunsten der einen und bald zugunsten der anderen Nation vorkommen, dass aber im ganzen und großen das Grundeigentum den Sprachgebieten ihre feste Grenze gibt. Schneller als die Veränderungen im Grundbesitz kann die Einwanderung von Lohnarbeitern die Sprachgrenze verschieben. Wenn in einem deutschen Dorfe an der Sprachgrenze eine Fabrik gegründet wird, die tschechische Arbeiter heranzieht, so kann das deutsche Dorf zunächst gemischtsprachig werden und es können die Tschechen schon nach wenigen Jahren die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Auf diesem Wege können die Nationen viel schneller als durch die Veränderungen im Grundbesitz ihr Siedlungsgebiet ausdehnen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass auch solche Veränderungen sich nur selten, langsam und in geringem Umfang ereignen. Auch in dieser Tatsache ist also kaum ein beweiskräftiges Argument gegen das Territorialprinzip zu sehen.

Die großen Veränderungen im Zusammenwohnen der Nationen gehen in den Industriegebieten vor sich. Der industrielle Kapitalismus hat den tschechischen Arbeiter nach Deutschböhmen und nach Wien, den polnischen nach Schlesien geführt. Dem industriellen Kapitalismus danken viele deutsche Minderheiten im tschechischen Sprachgebiet ihr Dasein. Die Industriegebiete können nun freilich zufällig an der Sprachgrenze liegen, sehr oft liegen sie aber mitten im geschlossenen Siedlungsgebiet einer Nation. Daher können wir beobachten, dass die folgenschwersten Veränderungen der Nationalität der Bevölkerung sich nicht dort ereignen. wo die Siedlungsgebiete der Nationen aneinander grenzen, sondern weit entfernt von der Sprachgrenze, mitten im geschlossenen Sprachgebiet. Nicht wo das Land des deutschen Bauern an das tschechische grenzt, sondern mitten in Deutschböhmen und im alten deutschen Wien, wohin das deutsche Kapital den tschechischen Arbeiter lockt, verändert sich die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung am schnellsten. Das Entstehen und Wachstum dieser Sprachinseln ist für die Entwicklung der Nationen viel bedeutsamer als die geringfügigen Verschiebungen der Sprachgrenze.

Neben diesen modernen, durch den Kapitalismus erzeugten Spracliinseln gibt es innerhalb der geschlossenen Sprachgebiete auch viel ältere Sprachinseln. Sie sind teilweise durch bäuerliche Kolonisation in früheren Jahrhunderten entstanden wie zahlreiche deutsche Bauerndörfer mitten im tschechischen Sprachgebiet Böhmens. [1] Teilweise sind es Überreste alter Siedlungen, lebendige Zeugen vergangener Zeiten. So gibt es im deutschen Bezirke Mies vier Gemeinden mit tschechischer Mehrheit. Sie stammen aus jener Zeit, in der Stadt und Herrschaft Mies noch tschechisch waren. Während aber beide längst deutsch geworden sind, haben einige Bauerndörfer ihre Nationalität bewahrt und erinnern mitten im deutschen Sprachgebiet, ohne jeden Zusammenhang mit dem tschechischen Landesteil, noch an die alten, seit Jahrhunderten veränderten Siedlungsverhältnisse der Nationen. [2] Ganz ähnlich sind auch die deutschen Minderheiten in mancher tschechischen Stadt Reste vergangener Zeiten. Die deutschen Minderheiten in Prag, in Budweis, in Pilsen, die deutsche Stadt Böhmisch-Aicha, die mir dem deutschen Sprachgebiet in keinem Zusammenhange steht und ringsum von tschechischen Dörfern umgeben ist, erinnern an eine Zeit, in der die tschechische Nation nur Bauern und Dienstboten umfasste, während die bürgerliche Oberschichte überall deutsch war. Aber alle diese Sprachinseln, die den sozialen Verhältnissen vergangener Zeiten entstammen, gehen allmählich zugrunde. Die vereinzelten tschechischen Bauerndörfer im deutschen Sprachgebiet werden allmählich ebenso in ihrer deutschen Umgebung aufgehen, wie die deutschen bäuerlichen Kolonisten und die deutschen städtischen Minderheiten im tschechischen Sprachgebiet allmählich von der großen Mehrheit der Bevölkerung aufgesaugt werden. Ganz anderen Charakter tragen die modernen kapitalistischen Sprachinseln. Sie danken ihr Dasein jenen sozialen Wanderungen, die der Kapitalismus hervorruft, und solange die Richtung dieser Wanderungen unverändert bleibt, solange diese Wanderungen die nationalen Minderheiten fortwährend durch gleichartigen Nachschub ergänzen und verstärken, so lange ist an ihr Schwinden nicht zu denken. Keine noch so reinlich durchgeführte nationale Abgrenzung wird diese modernen Sprachinseln beseitigen können.

Schon diese Tatsache macht es gewiss, dass die rechtlich abgegrenzten Siedlungsgebiete der Nationen stets nicht geringe und in der Regel stetig wachsende nationale Minderheiten einschließen werden. Diese Minderheiten werden aber dadurch wesentlich vermehrt werden, dass eine reinliche Abgrenzung national einheitlicher Verwaltungsgebiete nicht überall möglich ist.

An manchen Stellen der Sprachgrenze ist dies schon darum unmöglich, weil die Sprachgebiete nicht scharf gegeneinander abgegrenzt sind, sondern allmählich ineinander übergehen, so dass zwischen ihnen ein Gebiet starker nationaler Mischung liegt. Das ist insbesondere in Mähren nicht selten der Fall. Indessen ist diese Erscheinung nicht die Regel. Wo die Nationalität grundbesitzender Bauern die Sprachgrenze fixiert, dort heben sich die Sprachgebiete voneinander scharf ab. In Böhmen beträgt (nach Rauchberg) nur in 395 Ortschaften, das ist 3,08 Prozent der Gesamtzahl, und nur in 253 Ortsgemeinden, das ist 3,41 Prozent der Gesamtzahl, die nationale Minderheit mehr als 10 Prozent der Bevölkerung. Nur 11,4 Prozent der Bewohner des Königreiches wohnen in Ortsgemeinden, in denen die nationale Minderheit mehr als 10 Prozent der ortsanwesenden Bevölkerung bildet.

Auf diese Tatsachen stützen sich die Anhänger der nationalen Gebietsabgrenzung. Wohl ist die Zahl der national gemischten Gerichtsbezirke groß, die der national gemischten politischen Bezirke verhältnismäßig noch größer, aber dies beruht nur auf unrichtiger Einteilung der Verwaltungs- und Gerichtssprengel. Gehen wir auf die natürlichste Gebietseinheit zurück, die Ortschaft, so sehen wir, dass nur ein sehr geringer Teil der Ortschaften national gemischt ist. Man löse nun die alten Bezirke auf und setze die neuen nur aus Ortschaften oder wenigstens Ortsgemeinden zusammen, die national gleichartig sind, und man erhält Verwaltungsund Gerichtsbezirke mit verschwindend geringen Minderheiten!

Es ist ohne weiteres zuzugeben, dass unsere Bezirkseinteilung verbesserungsbedürftig ist und dass durch neue Abgrenzung der Bezirke die nationalen Minderheiten in ihnen wesentlich verringert werden könnten. Aber es ist unrichtig, zu glauben, dass der staatlichen Verwaltung und Rechtsprechung eine Gebietseinteilung zugrunde gelegt werden könnte, die der Sprachgrenze sklavisch folgt.

Der Staat kann die Verwaltungsgebiete nicht willkürlich einteilen, wie es ihm beliebt; vielmehr zwingen ihn sowohl seine eigenen Interessen als auch die Interessen der Bevölkerung, jene Ortschaften zu Verwaltungs- und Gerichtssprengeln zusammenzufassen, die durch engeren wirtschaftlichen Verkehr miteinander verbunden sind. Der rechtlichen Einteilung liegt die soziale Verbindung von Ortschaften zu Wirtschafts- und Verkehrseinheiten zugrunde, die in der warenproduzierenden Gesellschaft nicht von irgend einer Macht bewusst beschlossen und geregelt, sondern durch die blind waltenden wirtschaftlichen Gesetze bestimmt wird. Rudolf Springer führt folgende wirtschaftliche Sprengel an:

  1. Die natürliche Siedlungseinheit: Gehöft und Ortschaft. Dorf und Stadt.
  2. Die lokalen Marktgebiete, Wochenmarktgebiete, ein Markt oder eine Landstadt samt den umliegenden Ortschaften. Im Markte treffen die Vizinalwege zusammen. Dorthin kommen die Bewohner der umliegenden Ortschaften, um ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse gegen die Waren der Handwerker und Kleinhändler einzutauschen.
  3. Die größeren Jahrmarktgebiete. Ihr Mittelpunkt ist die größere Provinzstadt. Hier strömen die Einfuhrgüter des Bezirkes ein und werden vom Großhändler an die Kleinhändler der Marktorte des Bezirkes abgegeben. Hier strömen auch die Ausfuhrgüter des Bezirkes zur Verfrachtung zusammen. Die größere Provinzstadt mit diesem ganzen Bezirk, der mehrere Wochenmarktsgebiete umfasst, bildet eine wirtschaftliche Einheit. [3]

Diese Einteilung ist gewiss etwas schematisch, wird im einzelnen wohl mancher Berichtigung bedürfen. Auch trifft sie ohne weiteres wohl nur für überwiegend agrarische Gebiete zu. In Industriegebieten wird sie vielfach durch eine andere Einteilung durchkreuzt, die durch die örtliche Verteilung der einzelnen Industriezweige bestimmt ist. Da bildet ein Kohlenrevier oder das Gebiet der Schafwollweberei oder das Gebiet der Leinenindustrie eine natürliche wirtschaftliche Einheit. Aber wie immer dies sein mag, Tatsache ist, dass es solche, von aller rechtlichen Gebietseinteilung unabhängige, wirtschaftliche Gebietseinheiten gibt. Und ebenso gewiss ist, dass die Verwaltungs- und Gerichtseinteilung sich diesen Gebieten anpassen muss. Der tschechische Bauer, der allwöchentlich in eine deutsche Stadt kommen muss, weil er dort seine Waren verkauft und die Güter, deren er bedarf, einkauft, verlangt, dass er dort auch seine Steuern zahlen, dort seine Prozesse führen, dort das Grundbuch einsehen, dort sich gegen die Entscheidung irgend eines Gemeindegewaltigen beschweren kann. Und was das Bedürfnis der Bevölkerung ist, ist auch das Bedürfnis des Staates, Jede geordnete Staatsverwaltung wird unmöglich, wenn die Verwaltungssprengel die sozialen Gebietseinheiten zerreißen und Bevölkerungskreise, die in keinem Verkehr miteinander stehen, zusammenpferchen. Im Gerichtsbezirk Königinhof zum Beispiel liegen 22 rein oder überwiegend deutsche Ortschaften. Die Stadt Königinhof selbst und die übrigen Landgemeinden sind tschechisch. Die deutschen Landgerneinden grenzen an das deutsche Sprachgebiet, an die deutschen Bezirke Arnau und Trautenau. Es wäre also möglich, diese deutschen Gemeinden mit deutschen Verwaltungs- und Gerichtssprengeln zu vereinen, und ich kann nicht entscheiden, ob nicht die oder jene Gemeinde zweckmäßig einem anderen Gerichtssprengel zugeteilt würde. Aber wenigstens ein Teil dieser deutschen Gemeinden ist mit der Stadt Koniginhof durch engen wirtschaftlichen Verkehr verbunden: dorthin kommen die Bauern, um ihre Waren zu verkaufen und zu verfrachten; dort kaufen sie die Waren ein, deren sie bedürfen; dort suchen sie den Arzt und den Apotheker. Viele von ihnen sind als Hausindustrielle gezwungen, dort ihre Gewebe abzuliefern. Kann die Verwaltungseinteilung eine solche wirtschaftliche Einheit zerstören und, um der nationalen Abgrenzung willen, die deutschen Gemeinden, die unmittelbar an die tschechische Stadt Königinhof grenzen, mit einer weit entlegenen deutschen Stadt zu einem Verwaltungssprengel vereinen? Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse im Gerichtsbezirk Neuhaus, der aus 21 rein deutschen, 8 gemischten und 47 rein tschechischen Ortschaften besteht. Die Stadt Neuhaus selbst ist tschechisch. Die deutschen Gemeinden lehnen sich an den deutschen Gerichtsbezirk Neubistritz an, wären also leicht mit einem deutschen Verwaltungssprengel zu vereinigen. Auch hier könnten einige von diesen Gemeinden gewiss ohne Schwierigkeit zu einem deutschen Bezirk geschlagen werden, aber ob dies für alle vorteilhaft wäre? Ob eine geordnete Verwaltung überhaupt noch möglich ist, wenn deutsche Gemeinden, die unmittelbar an die Stadt Neuhaus grenzen und mit ihr im engsten wirtschaftlichen Verkehr stellen, von einem weit entlegenen deutschen Orte aus verwaltet werden sollten? Wir haben hier zwei Fälle angeführt, wo deutsche Landgemeinden in einer tschechischen Stadt ihren wirtschaftlichen Mittelpunkt haben. Häufiger ist der umgekehrte Fall. So grenzen beispielsweise im Böhmerwaldgebiet unmittelbar an die deutsche Stadt Prachatitz tschechische Ortschaften. Ist es möglich sie vom Gerichtsbezirk Prachatitz auszuscheiden?

An vielen Orten ist die nationale Abgrenzung möglich, ohne Schädigung irgendwelcher Interessen des Staates oder der Bevölkerung durchführbar und die tunlichste Durchführung der rechtlichen Abgrenzung der Sprachgebiete ist gewiss eine Voraussetzung der nationalen Selbstbestimmung. Aber man täusche sich nicht darüber, dass sie nicht überall durchgeführt werden kann. Wäre es möglich, das Schwergewicht der Verwaltung in die Ortschaft oder wenigstens in die Ortsgemeinde., zu verlegen, so wäre die nationale Abgrenzung in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle vollzogen. Zu je größeren Verwaltungssprengeln wir aber aufsteigen, desto größer wird die Zahl der gemischten Gebiete. Von den Ortsgemeinden ist ein größerer Teil national gemischt als von den Ortschaften, von den Gerichtsbezirken ein größerer als von den Ortsgemeinden, von den politischen Bezirken ein größerer als von den Gerichtsbezirken. Und wenn wir, was alle Sachkundigen fordern, zwischen den Bezirk und das Kronland ein neues Zwischenglied einschalten, die österreichische Verwaltung auf die Selbstverwaltung im Kreise gründen, so wird unter den Kreisen gewiss ein beträchtlicher Teil als gemischtsprachig gelten müssen.

Es gibt manchen, der es nicht recht begreifen will, dass die reinliche rechtliche Abgrenzung der Sprachgebiete unmöglich sein soll. Und doch ist dies leicht zu verstehen. Die Grenzen der nationalen Siedlungen sind geschichtlich überliefert aus einer Zeit, deren Wirtschaftsverfassung von der unseren wesentlich verschieden war. Wo unbebautes Land war, haben sich die Bauern aller Völker angesiedelt. Mit den Menschen außerhalb ihres Dorfes pflegten sie nur wenig Verkehr. Sie erzeugten ihre Güter nicht für den Verkauf, sondern für den eigenen Bedarf. Nur ein geringer Teil des Ertrages ihrer Arbeit wurde verkauft und nur wenige Güter kauften sie. Welche Veränderung seither! Zunächst kam die Hausindustrie auf das Land und schuf ganz neue Verkehrszentren. Bald geschah es, dass der tschechische Hausweber regelmäßig in die deutsche Stadt, gelegentlich auch der deutsche Hausweber in die tschechische Stadt kommen musste, um sein Gewebe abzuliefern. Dann ward der Bauer immer mehr und mehr in die Warenproduktion einbezogen. Kauf und Verkauf gewann größere Bedeutung für ihn. Wiederum entstehen neue Verkehrsmittelpunkte; welcher Ort zum Markt für die Bauern wird, das hängt nur in geringem Grade von der Nationalität der Bewohner, es hängt vielmehr von wirtschaftlichen Gesichtspunkten, von der geographischen Lage, von den Verkehrsmitteln ab. So wurde die deutsche Stadt zum Markt für tschechische (Böhmisch-Aicha! Prachatitz!), die tschechische Stadt zum Verkehrsmittelpunkt für deutsche Dörfer (Königinhof! Neuhaus!) Auch wirtschaftspolitische Maßregeln verändern die Verkehrswege und werden dadurch national wirksam. So erzählt schon im 18. Jahrhundert Pelzel, dass, solange der Handel zwischen Böhmen und Sachsen frei war, die tschechischen Bauern, die mit Sachsen handelten, darum deutsch lernen mussten; dies habe erst aufgehört, als die merkantilistische Politik durch hohe Zölle den Verkehr zwischen Böhmen und Sachsen unterband und die tschechischen Bauern auf den Verkehr mit dem tschechischen Flachland beschränkte; seither hätten diese tschechischen Bauern aufgehört, die deutsche Sprache zu lernen. [4]

Endlich schafft der Kapitalismus neue Verkehrsmittel, die wiederum die Verkehrsmittelpunkte verschieben: tschechische Ortschaften, die einst einen tschechischen Verkehrsmittelpunkt gehabt, werden durch die neuen Eisenbahnen mit einem deutschen Orte eng verbunden u.s.w. So werden die alten wirtschaftlichen Gebietseinheiten zerrissen und durch neue ersetzt, ohne jede Rücksicht auf die alten Grenzen der bäuerlichen Siedlungen. Die Nationen kennen längst diese Bedeutung neuer Verkehrsmittel. So haben im Jahre 1906 die Magyaren den Bau einer elektrischen Bahn von Wien nach Pressburg verhindert, weil dadurch Pressburg eine „Vorstadt von Wien“ geworden wäre. So hat der Bau der neuen Alpenbahnen bei Deutschen, Slovenen und Italienern verschiedenartige nationale Befürchtungen erweckt, weil jede neue Eisenbahn national einheitliche Verkehrsgebiete durch national gemischte ersetzen kann. Die fortwährende Bildung neuer wirtschaftlicher Verkehrsmittelpunkte hat an der Nationalität der Bevölkerung verhältnismäßig wenig geändert. Der tschechische Bauer, den eine neue Eisenbahn in engen Verkehr mit einer deutschen Stadt bringt, bleibt darum doch Tscheche; die Verkehrsgemeinschaft mit den tschechischen Dorfgenossen ist ja viel enger als der gelegentliche Verkehr mit den deutschen Handwerkern, Kaufleuten, Geldverleihern. Beamten in der Stadt. Aber er steht doch im Verkehr mit der Stadt, lernt ihre Sprache, sorgt dafür, dass seine Kinder ihre Sprache lernen und verlangt in der Stadt, die der Mittelpunkt seines Wirtschaftsverkehres ist, auch die staatliche Verwaltungsbehörde, das Steueramt und das Gericht zu finden. So hat sich nicht die Sprachgrenze verschoben, aber der Verkehr flutet über die Sprachgrenze hinüber. Fordert man, dass die staatliche Gebietseinteilung der Sprachgrenze sklavisch folgt, so will man der Gebietseinteilung der Gegenwart die Verkehrsgrenze einer Zeit bäuerlicher Naturalwirtschaft zugrunde legen. Einen solchen Anachronismus kann der Staat nicht ertragen und können die Massen der Bevölkerung nicht wollen; diese Forderung entspricht vielmehr nur dem Bedürfnis der Intelligenz, die durch unbedingte Einsprachigkeit der Verwaltungssprengel der Mühe überhoben werden will, die zweite Landessprache zu erlernen. Nichts lernen zu müssen, scheint manchem Studenten heiligstes Menschenrecht.

Die nationale Gebietsabgrenzung ist also grundsätzlich gewiss zu fordern als die Grundlage der nationalen Autonomie. Aber wir dürfen uns nicht darüber täuschen, dass sie nicht überall reinlich durchgeführt werden kann, wenn ihr nicht die Bedürfnisse breiter Volksschichten geopfert werden sollen. Wir müssen daher damit rechnen, dass aus diesem Grunde, dann auch wegen der vom Kapitalismus innerhalb der geschlossenen Sprachgebiete fortwährend erzeugten und vermehrten Sprachinseln das Verwaltungsgebiet jeder Nation erhebliche nationale Minderheiten einschließen wird. Was wird nun das Schicksal dieser Minderheiten sein?

Denken wir uns das Territorialprinzip folgerichtig durchgeführt, so gilt innerhalb der einzelnen nationalen Verwaltungsgebiete die zentralistisch-atomistische Regelung. Die nationalen Minderheiten können sich nur dadurch die Belriediauna ihrer kulturellen Bedürfnisse sichern, dass sie in der Gesetzgebung und Verwaltung der Gebietskörperschaft, zu der sie gehören, Macht gewinnen. Von dieser Macht sind sie aber immer ausgeschlossen, weil sie eben Minderheiten sind, daher erscheinen sie bei folgerichtiger Durchführung des Territorialprinzips den Mehrheiten vollständig ausgeliefert. Das Territorialprinzip übertreibt einerseits die Bedeutung der nationalen Verschiedenheit, indem es Staaten und Verwaltungsgebiete unbedingt der Sprachgrenze nach voneinander scheiden will: andererseits aber mutet es den Nationen zu. beträchtliche Teile des Volkskörpers einfach den anderen Nationen preiszugeben.

Die Frage der nationalen Minderheiten ist für alle Nationen sehr wichtig. Infolge der Verschiebung der Bevölkerung aus den sprachlich ungemischten Bauerndörfern in die Industriebezirke, die fast stets nationale Minderheiten einschließen, lebt ein immer geringerer Teil der Bevölkerung in Gemeinden, in denen die Frage der Minderheiten überhaupt nicht besteht. Von 1.000 Deutschen in Böhmen wohnten im Jahre 1880 noch 872,3. dagegen im Jahre 1900 nur noch 860,2 in Gemeinden, in denen entweder gar keine Tschechen lebten oder die tschechische Minderheit doch weniger als zehn Prozent der Bevölkerung bildete. Von den Tschechen Böhmens lebten im Jahre 1880 noch 91,23 Prozent, im Jahre 1900 nur noch 88,01 Prozent in rein tschechischen Gemeinden oder in Gemeinden mit einer deutschen Minderheit, die weniger als zehn Prozent betrug. Die Frage der Minderheiten erhält also für einen immer größeren Teil der Bevölkerung unmittelbares Interesse. Erinnern wir uns daran, dass gerade der Gegensatz der ortsfremden Minderheit und der sesshaften Mehrheit die Wurzel jenes nationalen Hasses ist, der den kleinbürgerlichen Nationalismus zeugt und ernährt, und wir werden davor bewahrt werden, die Frage der Minderheiten gering zu schätzen.

In Böhmen lebten im Jahre 1900 98.548 Deutsche, also von je 1.000 Deutschen 42,2, in Ortsgemeinden, in denen die Mehrheit der Bevölkerung tschechisch ist, 84.508 Tschechen, also von je 1.000 Tschechen 21,5, in Ortsgemeinden mit deutscher Mehrheit.

Geben beide Nationen ihre Minderheiten preis, so verlieren in Böhmen die Deutschen absolut und relativ mehr als die Tschechen. Indessen wachsen die tschechischen Minderheiten im deutschen Sprachgebiet, während die deutschen Minderheiten im tschechischen Sprachgebiet zurückgehen. Von 1.000 Deutschen wohnten in Gemeinden mit mehr als 50 Prozent Tschechen im Jahre 1880 49,7, 1890 47,8, 1900 42,2. Dagegen lebten von 1.000 Tschechen in Gemeinden mit deutscher Mehrheit im Jahre 1880 18,4, 1890 18,7, 1900 21,5. Dadurch wächst natürlich fortwährend das Interesse der Tschechen an ihren Minderheiten, während das der Deutschen sich verringert. Im ganzen und großen haben also in Böhmen beide Nationen durch die Preisgabe ihrer Minderheiten gleich viel zu verlieren.

Zu demselben Ergebnis kommen wir, wenn wir auch noch auf die anderen Kronländer einen flüchtigen Blick werfen. Die Deutschen bilden in allen Sprachgebieten der anderen Nationen Minderheiten. Diese Minderheiten sind überwiegend städtisch. Sie bestehen meist aus alten Beamtenfamilien, aus den Offizieren samt ihren Familien, aus Kapitalisten und ihren Angestellten, endlich aus deutschassimilierten Juden. Daneben gibt es auch deutsche bäuerliche Kolonisten mitten in den fremden Siedlungsgebieten, so in Galizien, in der Bukowina und in Krain. National am wichtigsten sind die deutschen Minderheiten in den tschechischen Gebieten Böhmens, Mährens und Schlesiens, dann die deutschen Minderheiten in den slovenischen Bezirken in Kärnten, die 10 bis 33 Prozent der Bevölkerung bilden, und die zahlreichen deutschen Sprachinseln im slovenischen Gebiete in Untersteiermark. [5] Aber auch in allen anderen Ländern, selbst im Küstenland, in Dalmatien und Galizien, bestehen deutsche Minderheiten. Diese deutschen Minderheiten setzen sich überwiegend aus steuerkräftigen und gebildeten Elementen zusammen; ihre Preisgabe wäre darum für die Nation kein geringes Opfer. Auch erwächst der deutschen Nation daraus nicht geringe Macht, dass der Deutsche überall im Reiche Volksgenossen findet. Der Anteil der Deutschen an vielen für die Machtstellung der Nation sehr wichtigen Berufen – insbesondere an der staatlichen Bürokratie. an der Schichte der Angestellten der Industrie und des Handels. an der Beamtenschaft der Eisenbahnen – müsste schnell sinken, wenn der Deutsche nicht mehr hoffen dürfte, überall für seine Kinder eine deutsche Schule zu finden.

Ähnlich wie die Lage der Deutschen ist die der Italiener. Auch sie sind eine alte historische Nation, bildeten seit Jahrhunderten die bürgerliche Oberschichte über geschichtslosen Nationen. Auch sie würden durch das Territorialprinzip wesentlich verlieren. In Istrien bilden sie im überwiegend slovenischen Bezirk Capodistria und in allen kroatischen Bezirken die Minderheit. In Dalmatien bilden sie in allen Bezirken kleine Minderheiten. Die wohlhabenden Kaufleute und Reeder mitten in der slavischen Bevölkerung sind Italiener. Am stärksten ist diese italienische Minderheit in Zara, wo sie 16,76 Prozent der Bevölkerung bildet. Die Mehrheit der Bevölkerung bilden sie in keinem Bezirk; sie würden daher durch das Territorialprinzip der slavischen Mehrheit preisgegeben werden. Anders liegen die Dinge in Tirol. Hier sind es italienische Arbeiter, die Sprachinseln in den deutschen Städten bilden. Solche Minderheiten linden sich in allen größeren Städten Tirols, selbst in Bludenz in Vorarlberg bilden sie 11.69 Prozent der Bevölkerung! Das Territorialprinzip macht diese italienischen Arbeiter national rechtlos.

Auch die Polen waren den Ruthenen gegenüber eine historische Nation. Es gibt daher im ganzen ruthenischen Sprachgebiet nur zwei Bezirke, in denen keine polnische Minderheit angesiedelt ist. Außerdem umfasst das ruthenische Sprachgebiet Bezirke mit schwacher polnischer Mehrheit: Stadt und Bezirk Lemberg und die Bezirke Winniki und Cieszanów. In der Bukowina haben die Polen in keinem Bezirke die Mehrheit, sondern bilden überall Minderheiten. Endlich gibt es im Kohlen- und Industriegebiet Schlesiens sehr schnell wachsende Minderheiten, die überwiegend aus polnischen Arbeitern bestehen.

Aber auch die ehemals geschichtslosen Nationen sind an der Frage der Minderheiten interessiert. Das gilt vor allem von den Tschechen. Neben den tschechischen Minderheiten in den deutschen Gebieten der Sudetenländer kommen hier vor allem die überaus schnell wachsenden Minderheiten in Niederösterreich in Betracht. Die letzte Volkszählung hat in Niederösterreich 132.968 Personen mit tschechischer Umgangssprache ermittelt. Diese Minderheit wächst sehr schnell. Die Tschechen bildeten im Jahre 1880 2,82 Prozent, 1890 3,79 Prozent, 1900 4,66 Prozent der Bevölkerung des Landes. Dieses Wachstum ist auf die starke Einwanderung von Arbeitern aus den agrarischen Gebieten Böhmens und Mährens zurückzuführen. Nach Rauchberg waren unter den böhmischen Bezirken, die absolut mehr als 5.000 Personen und zugleich relativ mehr als 5 Prozent ihrer Geburtsbevölkerung an Wien abgegeben haben, 6 tschechische Bezirke, 4 Bezirke mit tschechischer Mehrheit und nur 1 deutscher Bezirk. Nach Meinzingen [6] leben in Wien 235.449 Personen, die in Böhmen geboren sind. Von ihnen sind 45.615 in rein oder überwiegend deutschen, dagegen 180.922 in rein oder überwiegend tschechischen Bezirken geboren; der Geburtsort der übrigen ist nicht bekannt. Ganz ähnlich ist der nationale Charakter der mährischen Zuwanderung. In Wien leben 57.438 Personen, die in rein oder überwiegend deutschen, dagegen 113.308 Personen, die in rein oder überwiegend tschechischen Bezirken Mährens geboren sind. Auch diese Einwanderung ist nichts als ein besonderer Fall der Verschiebung der Bevölkerung aus der Landwirtschaft in die Industrie. Auch sie wird nicht aufhören, solange die Kräfte wirksam bleiben, durch die das deutsche Kapital den tschechischen Bauernsohn und Landarbeiter an sich zieht. Je schneller diese Minderheit wächst, desto schwerer kann das reine Territorialprinzip, das sie der deutschen Mehrheit wehrlos preisgibt, die tschechische Nation zufriedenstellen.

Ebenso kann das reine Territorialprinzip die nationalen Bedürfnisse der Slovenen kaum erfüllen. In Kärnten bilden die Slovenen in vier Bezirken starke Minderheiten, die 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung umfassen. In Steiermark sind sie in zwei Bezirken Minderheit. Im Küstenland bilden sie eine Minorität in Triest, in den Bezirken Gormons, Gradiska und Monfalcone und den westlichen Bezirken Istriens. Wohl könnten durch eine bessere Bezirkseinteilung einige dieser slovenisclien Minderlieiten mit anderen slovenischen Gemeinden zu slovenischen Verwaltungsgebieten zusammengeschlossen werden, aber es ist dies keineswegs überall möglich und auch hier können die Grenzen der Verwaltungsbezirke mit der Sprachgrenze nicht überall zusammenfallen.

Die Kroaten bilden in vier italienischen Bezirken in Istrien eine Minderheit.

Die Ruthenen endlich bilden in dem Bezirk Altsandez, der vom polnischen Gebiet eingeschlossen ist, die Mehrheit, in vierzehn Bezirken im polnischen Sprachgebiet nicht unbeträchtliche Minderheiten. Ebenso bilden sie die nationale Minderheit in den rumänischen Bezirken der Bukowina.

Diese Mischungsverhältnisse der Nationen sind geschichtlich leicht verständlich. Sie sind teilweise eine Folge der bäuerlichen Kolonisation in einer Zeit, die jenes Gebilde von Tätigkeiten, von Mitteln und Zwecken, das wir heute öffentliche Verwaltung nennen, noch gar nicht kannte, in der noch kein Verkehr den Bauern mit den Menschen außerhalb seines Dorfes, seiner Markgenossenschaft, seiner Grundherrschaft verknüpfte und die darum die Menschen leicht so sonderbar durcheinanderwürfeln konnte. Sie sind weiter überliefert aus jener Zeit, in der historische und geschichtslose Nationen einander gegenüberstanden, in der über dem tschechischen und slovenischen Bauern ein deutscher, über dem ruthenischen Bauern ein polnischer Gutsherr saß, in der mitten im Meere slavischer Bauern kleine Inseln mit städtischem Leben lagen, die von deutschen oder italienischen Kaufleuten beherrscht wurden. Sie entstammen jener Zeit, in der Österreich ein deutscher Staat war und der deutsche Beamte und deutsche Offizier im ganzen Reiche die Staatsgewalt verkörperte. Sie sind endlich geschaffen durch den modernen Kapitalismus, der die Menschen aus dem ererbten Boden entwurzelt und in die Städte und Industriegebiete geführt hat. So spiegeln diese nationalen Minderheiten die Sozialgeschichte vieler Jahrhunderte wieder.

Die Widerstandskraft der nationalen Minderheiten wächst mit der kulturellen Hebung der unteren Volksschichten. Kulturlose tschechische Landarbeiter, die in deutsche Gebiete einwanderten, konnte man unschwer germanisieren. Der moderne tschechische Industriearbeiter dagegen, der schon in der Heimat eine gute tschechische Schule besucht, tschechische Zeitungen gelesen, am politischen Leben seiner Nation Anteil genommen hat. erhält sich auch im fremden Lande seine Nationalität und erträgt die Herrschaft der fremden Mehrheit schwer.

Das reine Territorialprinzip liefert diese Minderheiten überall der Mehrheit aus. Dies entspricht so recht dem Wunsche des verärgerten Kleinbürgers, dem die nationale Frage nicht eine Reichsfrage, sondern eine örtliche Frage ist und der darum mit Unwillen die fremden Elemente in seiner Stadt sieht. Aber dieses Territorialprinzip wird unmöglich gerade wieder für den Kleinbürger! Der deutsche Kleinbürger in Wien oder in Brüx freut sich, dass der tschechischen Minderheit die Schulen, deren sie bedarf, verweigert werden. Aber derselbe deutsche Kleinbürger wird mit Unwillen hören, dass seinen Klassengenossen in Budweis oder Pilsen die tschechische Mehrheit die Schulen verweigern darf! So treibt den Kleinbürger der Hass gegen die fremde Minderheit zum Territorialprinzip und so werden ihm die Leiden der eigenen Minderheiten dieses Territorialprinzip unerträglich machen.

Ganz anders steht die Frage für den, der die nationale Frage nicht aus engem örtlichen Gesichtspunkte, sondern im ganzen Reiche sehen will. Für ihn bedeutet das reine Territorialprinzip, dass jede Nation die eingesprengten Minderheiten der anderen Nationen aufsaugt, aber zugleich die Minderheiten der eigenen Nation preisgibt. Also Gewinn auf der einen, Verlust auf der anderen Seite. Keine Nation wird ihre Volkszahl hierdurch wesentlich vermehren, sondern sie wird sie nur erhalten. Aber sie wird sie auf dem denkbar gehässigsten, denkbar langwierigsten, denkbar schmerzvollsten Wege erhalten: indem Tausenden von Menschen sowohl der eigenen als der fremden Nationen die Befriedigung der wichtigsten Kulturbedürfnisse verweigert wird. Tausende zur Preisgabe ihrer Nationalität gezwungen werden. Ist es nicht einfacher, die Volkszahl der eigenen Nation dadurch zu erhalten, dass man den Minderheiten der anderen Nationen die Möglichkeit gewährt, ihre Nationalität zu bewahren und dafür auch für die Minderheiten der eigenen Nation dieses Recht in Anspruch nimmt:

Noch mehr. Das Territorialprinzip gefährdet den nationalen Frieden; denn dass es rein durchgeführt werde, jede Nation völlig darauf verzichte, für ihre Minderheiten innerhalb der fremden Sprachgebiete zu sorgen, ist gänzlich unmöglich. Würde dies doch bedeuten, dass den nationalen Minderheiten selbst jene spärlichen Rechte genommen werden, die ihnen schon das geltende Recht gewährt. Jede Nation würde daher versuchen, durch Reichsgesetze die Rechte ihrer Minderheiten in den Siedlungsgebieten der anderen Nationen zu sichern. Um die Art dieser Regelung würden notwendig heftige Kämpfe entbrennen, die neuerlich zum Kampfe der Nationen um die Macht im Staate führen müssten. Wäre ein Gesetz zum Schutze dieser Minderheiten zustande gekommen, so würde um jede Frage der Auslegung neuerlich gekämpft werden. Jede Nation würde ihre Minderheiten benachteiligt glauben und die Unterdrückung der eigenen Minderheiten dadurch bekämpfen zu können meinen, dass sie an den Minderheiten der anderen Nationen in ihrem Gebiete Rache übt. So würde die nationale Selbstbestimmung auf Grund des Territorialprinzipes neuerliche nationale Kämpfe heraufbeschwören.

Schon aus diesem Grunde kann das Territorialprinzip den Forderungen der Arbeiterklasse nicht genügen. Aber ihre Stellung zu ihm wird noch durch andere Erwägungen bestimmt werden.

Ganz klar steht die Frage für die tschechische Arbeiterschaft. Die tschechischen Minderheiten in Deutschböhmen, im deutschen Teile Mährens, in Niederösterreich bestehen überwiegend aus Arbeitern. Die tschechische Arbeiterpartei kann die nationalen Rechte dieser Arbeiter nicht preisgeben. Werden den tschechischen Arbeitern tschechische Schulen verweigert, so wird dadurch die tschechische Arbeiterschaft auf tieferer Kulturstufe erhalten, denn das tschechische Kind lernt wenig oder nichts in der deutschen Schule. Dies ist für die tschechischen Arbeiter desto empfindlicher, als sie sehr olt nicht dauernd in den deutschen Orten bleiben, sondern durch das Spiel der Konjunktur nicht selten wieder in tschechisches Gebiet zurückgeworfen werden. Man hat beispielsweise untersucht, wie viele von den Bergarbeitern, die nach Beendigung des großen Bergarbeiterstreiks im Jahre 1900 während der Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1900 neu eingestellt worden sind, am 31. Dezember 1901 der Zentralbruderlade für Nordwestböhmen noch als aktive Mitglieder angehörten. Die Untersuchung ergab nach Rauchberg folgendes Ergebnis:

Heimatsbezirk der Arbeiter

Zwischen dem 1. April
und 31. Dezember 1900
neu eingetreten

Am 31. Dezember 1901
noch im Stande

Abgegangen

Deutsche Bezirke

1.580

   719

   861

Bezirke mit deutscher Mehrheit

1.053

   629

   424

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

   285

   116

   169

Tschechische Bezirke

3.113

1.254

1.859

Es sind also von 3.113 Arbeitern, die in tschechischen Bezirken Böhmens heimatsberechtigt waren, noch in demselben oder dem folgenden Jahre 1.859 aus dem Wirkungsgebiet der nordwestböhmischen Zentralbruderlade ausgewandert. Und dies, obwohl der Personalstand der Zentralbruderlade sich keineswegs wesentlich verringert hat! Er betrug:

Ende 1900

 

31.450

Ende 1901

31.370

Ende 1902

31.353

Diese Zahlen zeigen die große Fluktuation moderner Lohnarbeiter anschaulich genug. Gar so groß wie im Kohlenbergbau mag anderwärts der Wechsel des Arbeiterstandes nicht sein. Aber es unterliegt keinem Zweifel. dass überall ein beträchtlicher Teil der tschechischen Arbeiter, die in die deutschen Industriegebiete wandern, nach kürzerer oder längerer Zeit wieder in seine Heimat oder doch in einen anderen tschechischen Bezirk zurückzieht. Für die Kinder dieser Arbeiter ist der deutsche Unterricht, den sie nur kurze Zeit, bestenfalls nur einige Jahre, genießen, wertlos; ehe sie die deutsche Sprache in solchem Masse erlernen, dass sie dem Unterricht folgen können, kehren sie wieder in die tschechische Schule der Heimat zurück. Verweigert man diesen Kindern im deutschen Sprachgebiet tschechische Schulen, so verweigert man ihnen den Schulunterricht überhaupt. [7]

Aus all dem geht hinreichend klar hervor, dass die tschechische Arbeiterschaft die nationalen Rechte ihrer Klassengenossen mi deutschen Sprachgebiet nicht preisgeben kann. Verweigert man den tschechischen Arbeitern dort tschechische Schulen, so erschwert und verschlechtert man den Schulunterricht für den sesshaften Teil, verweigert ihn gänzlich für den fluktuierenden Teil der Arbeiterschaft. Weiß man kein Mittel, ihnen vor den Behörden und Richtern auch ohne Kenntnis der deutschen Sprache volles Gehör zu schaffen, so macht man sie den Organen des Staates gegenüber rechtlos. Durch all das würde die tschechische Arbeiterschaft auf einer tieferen Kulturstufe erhalten und hierdurch zur Führung ihres Klassenkampfes unfähig. Die nationale Rechtlosigkeit würde den nationalen Hass in ihr erwecken und sie wäre den kleinbürgerlich-nationalen Parteien willkommene Beute. Der Kampf um die nationalen Rechte der tschechischen Minderheiten kann immer nur ein kleines Stück des Klassenkampfes der tschechischen Arbeiterschaft sein und darf sie den großen Aufgaben dieses Kampfes nicht entfremden; aber er ist gewiss ein wichtiges Mittel in diesem Klassenkampfe und die tschechische Arbeiterschaft kann auf ihn nicht verzichten.

Ganz ähnlich kann auch die polnische Arbeiterschaft die nationalen Rechte der polnischen Arbeiter in Schlesien, die italienische Arbeiterschaft die nationalen Rechte der italienischen Arbeiter in Deutschtirol unmöglich preisgeben.

Etwas schwieriger steht die Frage für die deutschen Arbeiter. Vom Standpunkte des nationalen Gesamtinteresses hat keine Nation mehr Grund, die nationalen Rechte der Minderheiten zu wahren, als gerade das deutsche Volk. Wir wissen bereits, dass die steuerkräftigen, gebildeten, im ganzen Reiche verstreuten deutschen Minderheiten die Macht der deutschen Nation in Österreich wesentlich vermehren. Trotzdem ist es sehr begreiflich, dass die deutsche Arbeiterschaft der Frage der Minderheiten weniger Interesse entgegenbringt als die tschechischen, polnischen und italienischen Arbeiter. Die deutschen Minderheiten in den fremden Siedlungsgebieten bestehen nur zu geringem Teile aus Arbeitern. Sie setzen sich überwiegend aus Bourgeois, Beamten, Offizieren und Angehörigen der Intelligenz zusammen – also aus Schichten, die der deutschen Arbeiterschaft sozial fremd sind. Indessen gibt es auch deutsche Arbeiterschichten, die ihre Arbeitsstelle bald in dem, bald in jenem Sprachgebiet rinden. Das gilt beispielsweise von den Eisenbahnern. Der deutsche Bourgeois, der in einer tschechischen Stadt wohnt, kann den mangelnden öffentlichen Unterricht durch Privatunterricht ersetzen. Die Sprachenfrage vor den öffentlichen Ämtern besteht für ihn nicht, da er Jederzeit die Hilfe des Rechtsanwalts anrufen kann, der die Sprache der öffentlichen Ämter beherrscht. Anders der deutsche Eisenbahner, der für ein paar Jahre nach einem tschechischen oder polnischen oder slovenischen Orte versetzt wird. Er ist auf die öffentlichen Schulen angewiesen. Schickt er sein Kind in die fremde Schule, so wird es dort, der Unterrichtssprache nicht mächtig, kaum irgend etwas lernen. Kehrt er nach einigen Jahren wieder in das deutsche Gebiet zurück, so ist sein Kind hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben, hat ein paar Jahre seines Lebens verloren. Auch andere deutsche Arbeiter treibt die Not der Arbeitsuche in fremde Siedlungsgebiete, wo immer eine neue Industrie ersteht, dort erscheint auch fast stets der deutsche Mechaniker, der deutsche Maschinenschlosser, der deutsche Werkmeister. Am häufigsten aber leben die deutschen Angestellten des Handels und der Industrie als Minderheit in fremden Sprachgebieten. Wenn die deutschen Arbeiter aber die Minderheiten der eigenen Nation schützen wollen, so können sie auch den fremden Minderheiten im deutschen Siedlungsgebiete ihr Recht nicht versagen. Aber sie können dies auch aus anderen Gründen nicht. Der deutsche Arbeiter hat ein eigenes Interesse an der Kulturhöhe der tschechischen Minderheit: den tschechischen Arbeitern Schulen versagen. heißt tschechische Lohndrücker und Streikbrecher züchten. Der deutsche Arbeiter hat ein eigenes Interesse daran, dass die tschechischen Minderheiten national befriedigt werden: denn sind sie es nicht, so erwacht in ihnen der nationale Hass. sie werden unfähig, den gewerkschaftlichen und politischen Kampf gemeinsam mit den deutschen Arbeitern zu führen, sie zersplittern die Gewerkschaftsbewegung und leisten bürgerlichen politischen Parteien Gefolgschaft. Endlich widerstreitet die nationale Unterdrückung der fremden Minderheiten der Ideologie des deutschen Arbeiters. Der Unternehmer verteidigt überall den Grundsatz: „Wes Brot ich esse, des Lied ich singe“, und er meint, der Arbeiter esse sein Brot. Der deutsche Arbeiter dagegen glaubt, es sei genug daran, dass der Unternehmer sich einen Teil seines Arbeitsproduktes aneignet; dass er hierfür auch noch seine Seele haben will, will er nicht dulden. Der Arbeitsvertrag soll ein Kaufvertrag sein wie Jeder andere; er soll dem Unternehmer keine Macht geben, dem Arbeiter auch noch außerhalb seiner Arbeit zu befehlen und zu verbieten, seine persönliche Freiheit zu beschränken. Du zahlst mir meinen Lohn, ich leiste dir meine Arbeit – weiter hast du kein Recht über mich; dieser Grundsatz entspringt aus dem sozialen Kampfe des deutschen Arbeiters mit dem deutschen Unternehmer. Der Arbeiter kann diesen Grundsatz nicht preisgeben, sobald er nationale Bedeutung gewinnt. Wenn aber der tschechische Arbeiter, der für einen deutschen Unternehmer front, dadurch seines nationalen Rechtes verlustig gehen soll, ist dies etwas anderes als ein besonderer Fall jener Anmassung des Kapitals, das um den kärglichen Arbeitslohn nicht nur die Arbeitskraft, sondern den ganzen Menschen kaufen will: Das dem Arbeiter, den es entlohnt, nun gar seine Nationalität rauben will? Der deutsche Arbeiter würde sich selbst preisgeben, wenn er nicht die volle nationale Freiheit auch für jene seiner tschechischen Klassengenossen verlangen wollte, die die Gesetze des kapitalistischen Wirtschaftslebens zwingen, deutschem Kapital in deutschem Lande ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Seit der Spaltung; der Gesellschaft in Klassen birgt sich im Verhältnis des Menschen zum Ding die Macht des Menschen über Menschen. Mir gehört eine Spinnmaschine. Scheinbar bedeutet dies nur: ich besitze einen Gegenstand, ihn als Werkzeug bei meiner Arbeit zu gebrauchen. In Wahrheit aber wird das Eigentum an Arbeitsmitteln in den Händen des Kapitalisten zur Macht, über andere Menschen zu herrschen, das Arbeitsprodukt anderer Menschen sich anzueignen. Mir gehört ein Stück Bodens. Scheinbar heißt dies nur, ich habe mich auf einem Stück Landes angesiedelt, um darauf zu wohnen und seine Früchte zu genießen. In Wirklichkeit gibt mir der Besitz des Landes Anspruch auf die Grundrente, gibt mir die Macht, den Ertrag fremder Arbeit mir anzueignen. Auch das Territorialprinzip will auf das Verhältnis des Menschen zur toten Natur Herrschaft von Menschen über Menschen gründen. Die Grundbesitzer dieser Stadt nennen dieses Stück Landes ihr eigen. Gut denn, mögen sie darauf wohnen und sich seiner Früchte erfreuen. Aber soll die Macht über ein Stück Bodens ihnen das Recht geben, andere Menschen zu beherrschen, andere Menschen aus ihrer Kulturgemeinschaft herauszureißen und sie gewaltsam einer anderen einzugliedern? Wenn das Bürgertum diese Frage bejaht, so denkt es folgerichtig; denn seine Gesellschaftsverfassung beruht auf dem Grundsatze, dass Macht über Dinge Herrschaft über Menschen bedeutet. Die Arbeiterklasse aber bekämpft diese Gesellschaftsverfassung. Sie kämpft um eine Gesellschaftsordnung, in der sich nicht mehr in der Verwaltung der Dinge Herrschaft über Menschen birgt. Der Arbeiterklasse ist daher auch der Grundsatz fremd, dass die Eigentümer des Bodens das Recht haben sollen, den eigentumslosen Einwanderern die Erfüllung ihrer nationalen Kulturbedürfnisse zu verweigern.

Das Streben nach nationalen Eroberungen ist unter der zentralistisch-atomistischen Verfassung Gesetz alles nationalen Kampfes. Fällt diese Nationalitätenverfassung, so will die Sucht nach nationalen Eroberungen immer noch eine letzte Stellung behaupten; die Minderheiten in den geschlossenen Siedlungsgebieten der Nationen sollen der Mehrheit Opfer werden. Noch einmal birgt sich das Streben nach sozialer Herrschaft in einer Rechtseinrichtung, die nationale Unterdrückung möglich machen soll. Fällt auch diese, entschließen wir uns durch das Personalitätsprinzip auch die nationalen Minderheiten rechtlich zu sichern, so ist der Gedanke an Rechtseinrichtungen zum Zwecke nationaler Eroberung überhaupt preisgegeben. Nationale Eroberungen sind auch dann noch möglich: wenn ein Tscheche durch Heirat, durch wirtschaftliche Beziehungen oder geselligen Verkehr mit Deutschen allmählich zum Deutschen wird, so hat ihn die deutsche Nation der tschechischen abgewonnen. Aber diese Eroberung dankt das deutsche Volk der natürlichen Anziehungskraft der nationalen Kultur, nicht aber der brutalen Gewalt eines Gesetzes, das Menschen der einen Nation die Mittel verweigert, durch die sie die Kulturgemeinschaft mit ihren Volksgenossen aufrecht erhalten können, um sie hierdurch zum Anschluss an eine andere Kulturgemeinschaft zu zwingen.

Aber können wir auf den Gedanken der nationalen Eroberung oder doch wenigstens auf die Hilfe des Rechtes für diesen Zweck überhaupt verzichten: Man hat dies gerade für die Deutschen in Österreich mit verlockenden Gründen verneint. Die natürliche Bevölkerungsvermehrung des deutschen Volkes in Österreich ist kleiner als die der anderen Nationen. Müssen die Deutschen nicht darnach streben, die nationalen Minderheiten dem Körper ihrer Nation einzuverleiben, damit sie nicht langsamer wachsen als die anderen Völker?

Wir haben diese Erwägung bereits mit dem Hinweis auf die deutschen Minderheiten in den Siedlungsgebieten der anderen Nationen beantwortet. Das Territorialprinzip würde den Deutschen wohl auf der einen Seite geben, ihnen aber auf der anderen Seite nehmen; es würde ihre Angriffskraft mehren, aber ihre Verteidigung schwächen; würde die slavischen Minderheiten im deutschen Gebiete germanisieren. aber die deutschen Minderheiten den anderen Nationen preisgeben. Ob die Deutschen hierbei mehr gewinnen würden als verlieren, kann der Statistiker nicht entscheiden. Denn der tschechische Arbeiter, der in Wien oder in Reichenberg sesshaft wird, würde auf vielfältige Weise auch dann dem deutschen Volke gewonnen werden können, wenn selbst das Recht den Tschechen nationale Schulen nicht versagt. Wieviel für die Aufsaugung der Minderheiten der soziale Verkehr und wieviel das Recht leistet, kann der Statistiker nicht ermitteln. Er kann daher auch nichts darüber aussagen, ob, wenn die Nationen auf die Hilfe des Rechtes für die erstrebten nationalen Eroberungen verzichten, die Deutschen mehr oder weniger gewinnen werden als die einzelnen Nationen. Aber nehmen wir an, was ja in der Tat wahrscheinlich ist, dass das Territorialprinzip die wohlhabenden deutschen Minderheiten weniger schwächen würde als die proletarischen Minderheiten der Slaven und Italiener im deutschen Sprachgebiet. Nehmen wir an, das Territorialprinzip wäre so in der Tat für die Deutschen ein Mittel, ihre Volkszahl auf Kosten der anderen Völker zu vermehren. Ist damit das Territorialprinzip schon gerechtfertigt?

Ist zunächst die Mehrung der Volkszahl überhaupt ein Ziel nationaler Politik: Wohl verstanden: wir fragen nicht, ob es vorteilhaft ist, wenn ein Staat, oder ob es nützlich ist, wenn ein Wirtschaftsgebiet die Zahl seiner Bewohner vermehrt. Wir fragen nach dem Grunde, warum eine Nation als solche ihre Volkszahl zu vermehren wünscht. Betrachten wir zunächst die Nation an sich, unabhängig vom Staate, in dem sie lebt, so kann der Satz, die Nation habe an der Vermehrung ihrer Volkszahl ein Interesse, nicht ohne Einschränkung gelten. Wohl unterliegt es keinem Zweifel, dass unter sonst gleichen Bedingungen die Vermehrung der Zahl der Nationsgenossen die Ergiebigkeit der nationalen Kulturarbeit steigert. Die wirtschaftlichen Bedingungen der Arbeit des Gelehrten und Künstlers, der für ein Volk von 80 Millionen schafft, sind ganz andere als die seines Kollegen, der sich nur an ein Volk von 6 Millionen wenden kann, Je größer die Nation ist, desto leichter und vollständiger kann sie ihr Schulwesen von der Volksschule bis zur Hochschule, kann sie ihre anderen Kulturinstitute, ihre Theater, Akademien, ihre Museen ausbauen. Je umfassender der Wissenschaftsbetrieb ist, desto mehr vermag sich die Wissenschaft in ihre Zweige zu verästeln, desto reicheren Gewinn wird sie aus der Arbeitsteilung ziehen, je größer die Volkszahl ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Zweig geistiger Kultur die Männer findet, die sein Wachstum fördern. Aber wir wissen, dass in unserer Gesellschaft nirgends das gesamte Volk an der nationalen Kultur vollen und gleichen Anteil hat. Was bedeuten Millionen von Bauern, die nicht lesen und schreiben können, deren Erben im ewigen Einerlei von der Geburt bis zum Grabe abläuft, die weder die Kulturgüter der Nation genießen noch an der Aufwärtsentwicklung der nationalen Kultur werktätigen Anteil nehmen, für die Ergiebigkeit der geistigen Arbeit? Man kann die Produktivität der nationalen Kulturarbeit also nicht nur dadurch steigern. dass man die Volkszahl vermehrt, sondern auch dadurch, dass man den Anteil der Massen an der nationalen Kultur erhöht. Die beneidenswerte Kulturhöhe der kleinen skandinavischen Nationen bietet hierfür das beste Beispiel. Wenn es also gewiss ist. dass die Produktivität der nationalen Kulturarbeit nicht nur von der Größe des Volkes, sondern auch von der Intensität der nationalen Kultur, von dem Grade der kulturellen Durchdringung des gesamten Volkes abhängt, so kann man die Ergiebigkeit der nationalen Arbeit niemals steigern, indem man die Volkszahl durch Mittel vermehrt, die die Entwicklung ^des gesamten Volkes zur Nation verhindern. Diesem Zwecke, der Entwicklung des gesamten Volkes zur nationalen Kulturgemeinschaft, dient die national-evolutionistische Politik, die nationale Politik der Arbeiterklasse. Alles, was den Klassenkampf der Arbeiterklasse erschwert, ihr Klasseninteresse schädigt, verringert den x\nteil der Massen an der nationalen Kultur und verringert dadurch auch die Ergiebigkeit der nationalen Kulturarbeit. Da nun diese der Zweck, die Steigerung der Volkszahl nur Mittel ist, so vergisst man den Zweck über dem Mittel, wenn man am der Steigerung der Volkszahl willen den Kampf der Arbeiterklasse erschweren will.

Indessen denkt man, wenn man von der Notwendigkeit nationaler Eroberungen spricht, nur selten daran, dass die Zahl der Nationsgenossen die Produktivität der nationalen Kulturarbeit vermehrt, man ist vielmehr darum auf die Vermehrung der Volkszahl bedacht, weil sie die Macht, das politische Gewicht der Nation steigert. Im Nationalitätenstaate hat darum das Streben nach nationalen Eroberungen guten Grund, solange die Nationen den Kampf um die Macht im Staate führen. Ganz anders, sobald die atomistisch-zentralistische durch die organische Regelung der nationalen Verhältnisse ersetzt wird: hier hat der Staat den Nationen als Gesamtheiten nichts mehr zu geben und der Machtkampf der Nationen hat daher keinen Sinn mehr. Der Nation ist die Macht, deren sie bedarf, rechtlich gesichert, sie kämpft nicht mehr um sie. Hier bedarf daher auch keine Nation mehr nationaler Eroberungen.

Indessen werden diese nüchternen Erwägungen kaum viele überzeugen. Verbreitet doch die kapitalistische Produktionsweise, die Jedes Gut zur Ware, zum Werte macht, seiner qualitativen Bestimmtheit entkleidet und als bloße Größe ercheinen lässt, die das Streben nach Profit, nach einem bestimmten, zahlenmäßig auszudrückenden Teil des Mehrwerts zum Inhalt des Menschenlebens gemacht hat, jenen Geist, der keine andere Größe mehr kennt als die, die man statistisch erfassen, die man zählen und messen und wägen kann. Es ist ein Merkmal aller kapitalistischen Nationen, was man als Eigentümlichkeit der Amerikaner bezeichnet hat, dass sie bigness, die zahlenmäßige Größe, mit greatness, der wahren inneren Größe, verwechseln. So mag es sein, dass in unserer Gesellschaft die Volkszahl den Nationen nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck erscheint. Aber selbst wenn man dies gelten lassen will, ist die Sucht nach nationalen Eroberungen und mit ihr das nationale Territorialprinzip noch nicht gerechtfertigt.

Dass die Tatsachen der natürlichen Bevölkerungsvermehrung dem deutschen Volke in Österreich nicht eben günstig sind, ist zuzugeben. Aber worauf ist diese Erscheinung zurückzuführen : Auf eine ihrer Ursachen hat Hainisch hingewiesen. [8] Das Heiratsalter und die Zahl der Eheschließungen hängt überall sehr eng mit der Verfassung der Landwirtschaft zusammen. Die ländliche Verfassung hemmt nun bei uns die natürliche Vermehrung des deutschen Volkes. In den von Deutschen bewohnten Alpenländern finden wir den Grund und Boden im Besitze größerer und mittlerer Bauern; neben ihnen treten sowohl der Großgrundbesitz als der Parzellenbesitz in den Hintergrund. Dieser bäuerliche Besitz wird dadurch erhalten, dass das Bauerngut beim Tode des Bauern nicht geteilt wird, sondern nur auf ein Kind des Bauern. den Anerben, übergeht. Auf dem Bauernhofe leben nun neben der Bauernfamilie unverheiratete Knechte und Mägde. „Der große geschlossene Bauernhof ist nach zwei Richtungen ehebeschränkend: er verzögert die Ehe des Anerben so lange, bis der Bauer in die Ausnahme geht oder stirbt, und er hindert die Ehe der gesamten auf dem Hofe beständig beschäftigten männlichen und weiblichen Arbeitskräfte.“ Im Gebiete der geschlossenen Höfe ist daher das Heiratsalter hoch, die Zahl der Ehen gering. Die Vermehrung der Bevölkerung durch den Zuwachs ehelicher Kinder wird dadurch verlangsamt.

Wohl ist in diesen Gebieten die Zahl der unehelichen Kinder besonders groß, aber die Geburtenüberschüsse sind doch wesentlich kleiner als in den anderen Ländern. Diese Gebiete sind nun überwiegend von Deutschen bewohnt. Der geschlossene Hof unserer Alpenländer ist daher ein gefährliches Hindernis des Wachstums der deutschen Volkszahl. Die Gebiete, in denen die anderen Nationen wohnen, kennen dieses Hindernis der Bevölkerungsvermehrung nicht. In den Karstländern, im Küstenlande und Dalmatien überwiegt der Parzellenbesitz, in den Sudetenländern fehlt es nicht an einem zahlreichen Bauernstand, aber daneben findet sich ein umfangreicher Großgrundbesitz und Parzellenbesitz. In Galizien wird der Boden beim Tode des Bauern unter seine Kinder geteilt und so finden wir neben ausgedehntem Großgrundhesitz eine sehr zahlreiche Klasse von Parzellenbesitzern. Großgrundbesitz und Parzellenbesitz fördern überall die Bevölkerungsvermehrung, während der geschlossene Hof der Alpenländer sie hemmt. Dass die ländliche Verfassung der deutschen agrarischen Gebiete auf dem geschlossenen Hofe beruht, während in den slavischen und italienischen Gebieten der Großgrundbesitz und Parzellenbesitz überwiegt, ist eine der grundlegenden Tatsachen, die die Entwicklung der österreichischen Nationen bestimmen.

Nach derselben Richtung wirkt eine Reihe anderer Ursachen. Die Deutschen sind von der kapitalistischen Entwicklung am schnellsten ergriffen worden. Alle Ursachen, die die Entwicklung der Bevölkerung in einer kapitalistischen Gesellschaft bestimmen, wurden daher für das Wachstum der deutschen Volkszahl bedeutsam. Alles, was das Leben des modernen Industriearbeiters bedroht und verkürzt, senkt die Volkszahl der Deutschen in Österreich. In den deutschen Industriegebieten ist vor allem das Heiratsalter höher als in den agrarischen Gebieten der anderen Nationen. So waren in Böhmen von 1.000 männlichen österreichischen Staatsbürgern mit deutscher Umgangssprache im Alter von 20 bis 30 Jahren 649, von 1000 Tschechen in demselben Alter nur 618 unverheiratet; im Alter von 30 bis 40 Jahren waren noch 16.3 Prozent der Deutschen, dagegen nur 12.5 Prozent der Tschechen unverehelicht. Die Frauenarbeit hat bei den Deutschen größeren Umfang erreicht. Auf 1.000 in der Industrie berufstätige Männer kommen bei den Deutschen 383, bei den Tschechen nur 243 industriell berufstätige Frauen. Dabei scheint die Fabriksarbeit verheirateter Frauen zuzunehmen. Wenigstens stieg die Zahl der verheirateten Textilarbeiterinnen im Bezirke der Handels- und Gewerbekammer in Reichenberg im Jahrzehnt 1890 bis 1900 von 25.913 auf 32.253, obwohl gleichzeitig die Zahl der unverheirateten und verwitweten Textilarbeiterinnen nicht zugenommen hat. Die große Verbreitung der Fabriksarbeit der Frauen dürfte die große Zahl der Totgeburten bei den Deutschen teilweise erklären. Rauchberg gibt hierüber folgende Zahlen:

 

Von je 1.000
ehelichen
Geburten sind
Totgeburten

Von je 1.000
unehelichen
Geburten sind
Totgeburten

Deutsche Bezirke

34,8

42,6

Bezirke mit deutscher Mehrheit

27,8

36,5

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

26,5

32,6

Tschechische Bezirke

28,5

41,7

Auch die Kindersterblichkeit ist im deutschen Industriegebiet viel größer als in den agrarischen Bezirken Böhmens, die die Tschechen bewohnen. Von 1.000 lebend Geborenen starben 1891 bis 1900:

 

Vor Ablauf
des ersten
Lebensjahres

Vor Ablauf
des fünften
Lebensjahres

Deutsche Bezirke

281

358

Bezirke mit deutscher Mehrheit

289

369

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

230

329

Tschechische Bezirke

237

327

Im ganzen entfielen auf 1.000 Personen der mittleren Bevölkerung Sterbefälle im Jahrzehnt:


 

1881 bis 1890

1891 bis 1900

Deutsche Bezirke

308,2

269,0

Bezirke mit deutscher Mehrheit

305,6

283,0

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

267,8

248,2

Tschechische Bezirke

278,8

246,9

Die Sterblichkeit ist im deutschen Industriegebiete beträchtlich größer als in den tschechischen Gebieten. Aber sie sinkt in beiden Landesteilen und der Unterschied zwischen den Sterbezahlen verringert sich allmählich. Die Erhöhung der Arbeitslöhne und die Verkürzung der Arbeitszeit, die die Gewerkschaften der Arbeiterschaft erkämpft, die sozialpolitische Gesetzgebung und die Fortschritte der Hygiene haben diese erfreuliche Erscheinung gezeitigt. Diese Tatsache zeigt deutlich den Weg zur Hebung der deutschen Volkszahl. Die bürgerlich-nationalen Parteien sehen immer nur ein Mittel, die Macht des deutschen Volkes zu steigern: sie wollen den anderen Nationen Menschen abgewinnen, Tschechen, Slovenen und Italiener germanisieren. Und doch ist, was so gewonnen werden kann, lächerlich gering und wird mit der Preisgabe der eigenen Minderheiten und mit der Verlangsamung jener sozialen Entwicklung, die allein die breiten Massen zum Mitgenusse der nationalen Kultur fähig machen kann, allzu teuer erkauft. Ganz unvergleichlich mehr könnte das deutsche Volk durch eine zielbewusste und rücksichtslose Sozialpolitik gewinnen. Sie würde die Zahl der Eheschließungen vermehren, die Kindersterblichkeit und die Sterblichkeit überhaupt verringern. Dadurch würde die Volkszahl der Deutschen nicht nur absolut steigen, sondern auch ihr Verhältnis zur Volkszahl der anderen Nationen sich verbessern: denn da die Deutschen, als die kapitalistisch höchst entwickelte Nation, unter der kapitalistischen Ausbeutung am meisten leiden, so kommen auch die heilenden Wirkungen energischer Sozialpolitik ihnen am meisten zugute. Diesen Gedanken hat Herkner in seiner jugendfrischen Kampfschrift sehr hübsch ausgeführt [9]; Rauchberg hat ihn auf reiches Tatsachenmaterial gestützt. Trotzdem wird sich der kleinbürgerliche Nationalismus auch weiter darüber aufregen, wenn irgendwo eine tschechische Schule gegründet wird, aber ruhig zusehen, wie an demselben Orte das Wohnungselend. die Hausindustrie und die Kinderarbeit die Rasse verderben, die Tuberkulose verbreiten und unmündige deutsche Kinder alljährlich zu Hunderten in Not und Elend und Überarbeit verkommen lassen.

Unsere besitzenden Klassen behaupten, dass sie für die Volkszahl der deutschen Nation sorgen wollen. Gut denn! Dann mögen die Bauern verlangen, dass in den Alpenländern das Höferecht und der Ehekonsens beseitigt werde. Dann mögen die Großgrundbesitzer dafür sorgen, dass das Brot, das Fleisch, der Zucker billiger werden! Dann mögen die Fabrikanten dafür eintreten, dass der Staat den gewerkschaftlichen Kampf nicht erschwere, durch Gesetz den Arbeitstag verkürze, die Fabriksarbeit schwangerer Frauen verbiete. Dann mögen die Handwerksmeister fordern, dass der Staat der schamlosen Ausbeutung der Lehrlinge ein Ende bereite und dass der gewerbliche Fortbildungsunterricht in den Tagesstunden erteilt werde. Dann mögen die Hausherren dafür kämpfen, dass die Gemeinden für billige und gesunde Wohnungen sorgen! Dann mögen die Kapitalisten dafür sorgen, dass die Ausbeutung der Heimarbeiter gemildert werde! Das deutsche Volk hat absolut und relativ weit mehr uneheliche Kinder als die anderen Nationen und leidet vor allem unter ihrer erschreckenden Sterblichkeit. Mögen also die besitzenden Klassen verlangen, dass den unehelichen Kindern gesetzliches Erbrecht und Pflichtteilsrecht gegen ihren Vater und Anspruch auf Kost, Pflege und Erziehung je nach dem Einkommen des Vaters zuerkannt werden! Ob die besitzenden Klassen sich zu einer nationalen Politik entschließen werden, die ihrem Klasseninteresse widerstreitet?

Der Arbeiterklasse aber ist der Weg klar vorgezeichnet, den sie gehen muss, wenn sie die Volkszahl ihrer Nation vermehren will. Sie kann den geschlossenen Hof in den Alpenländern nicht beseitigen, solange er in den landwirtschaftlichen Betriebsverhältnissen und in den Gewohnheiten der ländlichen Bevölkerung seine Stütze findet, aber sie kann die rechtliche Stütze des geschlossenen Hofes, das Höferecht und den Ehekonsens, bekämpfen. Sie kann die verheerenden Wirkungen der Ausbeutung der Arbeiterschaft in der kapitalistischen Industrie im Rahmen unserer Gesellschaft nicht völlig aufheben: aber sie kann durch gewerkschaftlichen Kampf und durch Arbeiterschutzgesetze diese Wirkungen mildern, kann die schlimmsten Wunden am Körper der Gesellschaft – das maßlose Elend der Hausindustrie, der Kinderarbeit, der Fabriksarbeit schwangerer Frauen, die Sterblichkeit der unehelichen Kinder, die Wohnungsnot, die allzulange Arbeitszeit, die hohen Lebensmittelpreise und niedrigen Löhne – allmählich zu heilen suchen. Die deutsche Arbeiterschaft kann darauf verzichten, den Tschechen ein paar hundert Kinder jährlich durch die germanisierende Wirkung der Schule abzugewinnen, sie wird dafür Tausende von deutschen Kindern jährlich dem Tode der Überarbeit und des Hungers entreißen!

Die Tausende deutschen Männer und Frauen, die alljährlich den mörderischen Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung erliegen, ihrem Volke zu retten: das sind die nationalen Eroberungen, die die Arbeiterklasse machen will. Nicht das Territorialprinzip, sondern die Sozialpolitik ist das Mittel zu diesen Eroberungen und im Kampfe um diese nationalen Eroberungen sind die deutschen Arbeiter der Bundesgenossenschaft der Proletarier aller Nationen gewiss.

Fußnoten

1. Vergleiche hierüber Schlesinger, Die Nationalitätsverhältnisse Böhmen, Stuttgart 1886, S.25ff.

2. Herbst, Das deutsche Sprachgebiet in Böhmen, Prag 1887, S.32.

3. Springer, Kampf der österreichischen Nationen, S.95.

4. Pekel, Geschichte Böhmens, Prag 1770, S.643.

5. Über Steiermark vergleiche Pfaundler, Die nationalen Verhältnisse in Steiermark, Statistische Monatsschrift, 1906, S.401ff.

6. Meinzingen, Die binnenländische Wanderung und ihre Rückwirkung auf die Umgangssprache, Statistische Monatsschrift, 1902. S.693ff.

7. Auch Fischel macht auf den Zusammenhang der Frage der Minderheitsschulen mit dem fortwährenden Hin- und Rückfluss der tschechischen Arbeiter in die deutschen Industriegebiete und aus ihnen aufmerksam. Aber er will gerade darum den tschechischen Minderheiten die Schulen verweigern oder doch die Schulgründung erschweren. Ich vermag diese Logik nicht zu verstehen. Soweit die tschechischen Arbeiter wirklich bei jedem Wechsel der Konjunktur aus den deutschen Bezirken wieder zurückwandern, kann die tschechische Schule im deutschen Sprachgebiet den Deutschen nicht schaden; denn da die tschechischen Arbeiter im deutschen Sprachgebiet nicht bleiben, können sie nicht dadurch germanisiert werden, dass man ihren Kindern die deutsche Schule aufzwingt. Wohl aber schadet die deutsche Schule den tschechischen Arbeitern, da für ihre Kinder, die nicht lange genug im deutschen Sprachgebiet bleiben, um der deutschen Sprache mächtig zu werden, die Verweigerung tschechischer Schulen nicht viel weniger als Schulverweigerung überhaupt bedeutet. Vergleiche Fischel, Die Minoritätsschulen, S.8.

8. Hainisch, Zukunft der Deutsch-Österreicher, Wien 1892.

9. Herkner, Die Zukunft der Deutsch-Österreicher, Wien 1893. –

„Von Gemeindewegen etwa armen Müttern nach Soxleth sterilisierte Milch zu liefern, erscheint uns auch vom nationalen Standpunkt als ein viel verdienstlicheres Werk, denn Stadtpolizisten à la Prussienne zu uniformieren, auf Gemeindebäder die Aufschrift zu setzen: ‚Hier darf nicht tschechisch gesprochen werden‘ und durch ähnliche Stücklein mehr die Autonomie der Stadt in Gefahr zu bringen.“ S.20.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008