Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


VI. Wandlungen des Nationalitätsprinzips


§ 28. Die Arbeiterklasse und die kapitalistische Expansionspolitik


Wir haben gesehen, wie die moderne kapitalistische Expansionspolitik durch alle ihre Mittel im letzten Grunde nichts anderes erreichen will als die Veränderung des Verhältnisses zwischen produktivem und totgelegtem Kapital, zwischen Produktionszeit und Umlaufszeit. Der Kampf um Absatzmärkte dient diesem Zwecke ebenso wie der Kampf um Anlagesphären. Verminderung des totgelegten Kapitals, Beschleunigung des Abflusses in die Produktionssphäre, Ausdehnung der Produktionszeit innerhalb der Umschlagszeit, erscheinen aber als gemeinsame Interessen aller Klassen. Auch die Arbeiterklasse erscheint daran interessiert: wird die Menge des in jedem Augenblick aus dem Kreislauf des Kapitals herausgetretenen Geldkapitals verringert, so wächst die Nachfrage nach Arbeitskräften, es wächst also auch die Machtstellung der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt, es steigen die Löhne. Darum meint man, dass das „Produzenteninteresse“ der Arbeiter für Schutzzölle und Expansionspolitik spricht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Wirkungen der modernen kapitalistischen Politik der Arbeiterklasse nützlich sind, fraglich ist es nur, ob die Expansionspolitik nicht auch andere Wirkungen zeitigt, die der Arbeiterklasse schädlich sind, die die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft in höherem Masse schädigen, als sie durch die Verminderung des brachliegenden Kapitals gefördert werden können.

Die bürgerliche Ökonomie hat beobachtet, dass die moderne Zollpolitik und Kolonialpolitik die Zirkulation des Kapitals verändert und dass diese Veränderungen die Tendenz zur Steigerung der Preise, Profite und Löhne hervorbringen. Daher scheint ihr die kapitalistische Expansionspolitik den Interessen der Arbeiterklasse ebenso förderlich wie den Interessen der Kapitalistenklasse. Diese Beobachtung ist richtig aber unvollständig. Sie muss ergänzt werden durch die Beobachtung der Veränderungen, die die Wirtschaftspolitik des Imperialismus in der Produktionssphäre erzeugt. Denn die kapitalistische Expansionspolitik beschleunigt nicht nur den Abfluss totliegenden Geldkapitals in die Produktionssphäre, sie verkürzt nicht nur die Umschlagszeit und insbesondere die Umlaufszeit des Kapitals, sie verändert vielmehr auch die Verteilung des produktiven Kapitals auf die einzelnen Produktionszweige und beeinflusst dadurch sehr wirksam die Verteilung des Wertproduktes auf die Klassen unserer Gesellschaft.

Der Schutzzoll bewirkt zunächst eine veränderte Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit. Bei Freihandel würde sich das Kapital nur auf jene Produktionszweige verteilen, in welchen die natürlichen und sozialen Bedingungen der Produktion im Lande günstiger sind; die Erzeugnisse der anderen Produktionszweige würde die Gesellschaft vom Ausland eintauschen. Der Schutzzoll dagegen zwingt die Gesellschaft, auch diejenigen Güter zu erzeugen, in der die Bedingungen der Produktion im Inland minder günstig sind. Dadurch verringert der Zoll die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit. Dies tritt im hohen Preise der Waren in Erscheinung. Dadurch wird die Kaufkraft des Geldlohnes verringert, die Arbeiterklasse also geschädigt. Sobald der Zoll zum Kartellschutzzoll wird, werden die Waren aber auch noch über diese Grenze hinaus verteuert, da hinter dem Schutze des Zolles sich Trusts und Kartelle bilden, die den Markt monopolistisch beherrschen. Diese Verteuerung beruht nicht mehr auf der Verringerung der Produktivität der Arbeit, sondern auf der veränderten Verteilung des Wertproduktes, von dem sich die Kartell-Magnaten dank dem Zoll einen größeren Teil aneignen können. Sobald endlich der Kartellschutzzoll zum Angriff dient, der Schleuderexport der Kartelle einsetzt, werden die Waren der kartellierten Produktionszweige neuerlich verteuert: nun hemmt die Rücksicht auf die Steigerung der Kosten bei Verringerung des Absatzes im Inland nicht mehr das Steigen der Preise, die Preise können also höher festgesetzt werden, als dies ohne die billige Ausfuhr in das Ausland möglich wäre. Dadurch wird die Verteilung des gesellschaftlichen Wertproduktes neuerlich zum Vorteile der kartellierten Unternehmer zum Nachteile der Arbeiterklasse verändert. Höhere Warenpreise, geringere Kaufkraft gleicher Geldlöhne sind die erste Wirkung der kapitalistischen Zollpolitik für die Arbeiterklasse.

Bleiben aber die Geldlöhne unverändert? Die Schutzzöllner sehen, dass der Zoll den Abfluss des Kapitals in die Produktionssphäre beschleunigt, daher auch die Nachfrage nach Arbeitskräften vermehrt. Er hat also die Tendenz, die Arbeitslöhne zu steigern. Wir aber sehen, dass der Schutzzoll nicht nur den Aufbau der gesellschaftlichen Umschlagszeit verändert, sondern auch die Verteilung des produktiven Kapitals auf die verschiedenen Produktionszweige modifiziert. Nun ist es gewiss, dass der Schutzzoll die Wirkung hat, einen größeren Teil des Kapitals den Produktionszweigen mit hoher organischer Zusammensetzung, also mit geringerem Arbeitsfassungsvermögen zuzutreiben, als ohne ihn in diesen Gewerbszweigen Raum gefunden hätte. Die Produktionszweige, die viel konstantes, wenig variables Kapital brauchen, sind nämlich zur Kartellierung am ehesten fortgeschritten.

Durch die auf die Schutzzölle gestützte Ausfuhrpraxis dieser Kartelle werden nun die inländischen Produktionszweige mit niedriger organischer Zusammensetzung geschädigt. Wenn beispielsweise die Kartelle im deutschen Eisengewerbe ihre Waren in England wesentlich billiger verkaufen als auf dem deutschen Markt, so haben die eisenverarbeitenden Industrien in England billigeren Rohstoff zur Verfügung als ihre deutschen Konkurrenten. Die englische Ausfuhr in Eisen, Stahl, Blech, Draht, Röhren, Halbzeug hat abgenommen oder doch nicht zugenommen; hier stoßt eben England auf den überlegenen Wettbewerb der deutschen und amerikanischen monopolistischen Organisation. Dagegen wächst sehr schnell die Ausfuhr aller eisenverarbeitenden Industrien Englands, so der Export von Lokomotiven, Schienen, Maschinen, Messern, Kurzwaren. Ebenso gewaltig hat sich der englische Schiffbau entwickelt. Das Wachstum dieser englischen Ausfuhr ist zu nicht geringem Teil dadurch möglich geworden, dass Deutschland und Amerika dieser Industrie einen überaus billigen Rohstoff liefern. Aber noch mehr! Wenn die deutschen Kartelle den Engländern billigeres Eisen und wohlfeileren Stahl liefern als ihren deutschen Abnehmern, so bedeutet dies, dass die englischen Industrien billigere Maschinen zur Verfügung haben als ihre deutschen Konkurrenten. Die Konkurrenzfähigkeit der Textilindustrie von Lancashire beruht zu nicht geringerem Teil auf ihren billigen Maschinen. Wenn die deutschen Eisenkartelle, um im Inland den Eisenpreis hochhalten zu können, ihre Waren im Ausland billiger abgeben, so verringern sie dadurch die Konkurrenzfähigkeit der deutschen eisenverarbeitenden Industrien, mittelbar die Konkurrenzfähigkeit aller deutschen Industrien auf dem Weltmarkt. Nun sind diese durch den Kartellschutzzoll geschädigten Industrien durchaus Gewerbszweige mit weit niedrigerer organischer Zusammensetzung des Kapitals, also mit größerem Arbeitsfassungsvermögen als die Eisenindustrien. Vergleichen wir die Verteilung des produktiven Kapitals unter dem Einfluss des Schutzzolles mit der Verteilung, die das produktive Kapital bei Freihandel angenommen hätte, so sehen wir einen größeren Teil des gesellschaftlichen Kapitals in Produktionszweigen, die bei gleichem Kapitalaufwand weniger Arbeitskräfte beschäftigen als die anderen Industrien. Der Schutzzoll verringert also die Nachfrage nach Arbeitskräften, verschlechtert die Lage der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt. Noch mehr! Die durch den Kartellschutzzoll geförderten Industrien sind solche, in denen das Kapital die höchste Stufe der Konzentration erreicht hat, die Freizügigkeit für die Arbeiter fast aufgehoben, der gewerkschaftliche Kampf außerordentlich erschwert ist: der Maschinenbauer in einer verhältnismäßig kleinen Maschinenfabrik hat seinem Unternehmer gegenüber eine ganz andere Stellung als der Arbeiter im Hochofen oder Stahlwerk irgend eines rheinisch-westfälischen Eisenkönigs. Der Schutzzoll verschiebt, indem er die „schweren“ Industrien fördert, die eisenverarbeitenden Industrien schädigt, das Kapital in Produktionszweige, die dem gewerkschaftlichen Kampfe minder günstige Bedingungen bieten!

Es ist gewiss richtig, dass der Schutzzoll die Zirkulation des Kapitals günstig beeinflusst, aber er verändert auch die Verteilung des produktiven Kapitals; dies bedeutet einerseits die Verringerung der Ergiebigkeit der Arbeit, Steigen der Warenpreise, Verringerung der Kaufkraft des Geldlohnes, andererseits Verschiebung des Kapitals in Produktionszweige mit geringerem Arbeitsfassungsvermögen, verringerte Nachfrage nach Arbeitskräften, Erschwerung des gewerkschaftlichen Kampfes. Solange wir bloß die Zirkulation des Kapitals ins Auge fassen, scheint der Schutzzoll ein gemeinsames wirtschaftliches Interesse der gesamten Bevölkerung zu fördern; betrachten wir dagegen die Verteilung des produktiven Kapitals, so sehen wir sofort, dass für die Arbeiterklasse, wenn sie einen Schutzzoll zu beurteilen hat, ganz andere Gesichtspunkte in Frage kommen als für die Kapitalistenklasse.

Auf der Grundlage des modernen Schutzzollsystems erhebt sich nun die kapitalistische Expansionspolitik. Diese Politik erfordert zunächst ungeheure militärische Machtmittel. Gewaltige Wertsummen werden dem Militarismus und Marinismus geopfert. Nun wird der nüchterne Beurteiler die imperialistische Politik nur dann rechtfertigen können, wenn ihr wirtschaftliches Erträgnis größer ist als diese wirtschaftlichen Opfer. Auch diese Frage steht nun für die Arbeiterklasse ganz anders als für die Bourgeoisie. Denn überall wird vom Arbeitslohn ein viel größerer Teil dem Militarismus geopfert als vom Mehrwert. Der Verbrauch großer Summen für die Zwecke des Marinismus und Militarismus erscheint nämlich als eine gewaltige Vermehrung der gesellschaftlichen Konsumtion; er verringert die Zahl der produktiven Arbeiter und vermehrt den gesellschaftlichen Verbrauch. Er könnte daher sehr leicht die gesellschaftliche Akkumulationsrate verringern. Die kapitalistischen Staaten aber fürchten die Verringerung der Akkumulationsrate; sie sind daher bestrebt, die Kosten der militärischen Rüstungen der Arbeiterklasse aufzuerlegen. Dadurch wird das Sinken der Akkumulationsrate verhindert, da vom Arbeitslohn ein viel geringerer Teil akkumuliert wird als vom Mehrwert. Wenn der Arbeiter einen beträchtlichen Teil seines Arbeitslohnes als Steuer an den Staat abtreten muss (Verbrauchsabgaben! Finanzzölle!), so tritt an die Stelle des individuellen Konsums des Arbeiters der staatliche Konsum in Gestalt der Ausgaben für den Militarismus; wenn dagegen der Mehrwert die Kosten des Militarismus zu tragen hätte, so würden Kapitalien verzehrt, konsumiert, die sonst teilweise akkumuliert worden wären. Schon die Rücksicht auf die Höhe der Akkumulationsrate veranlasst alle kapitalistischen Staaten – von den Machtverhältnissen im kapitalistischen Staate ganz abgesehen, die ja die Steuerpolitik nach derselben Richtung treiben – das Erfordernis für Kriegsheer und Flotte durch indirekte Steuern und Finanzzölle aufzubringen, die die Arbeiterklasse verhältnismäßig viel schwerer belasten als die besitzenden Klassen. Angenommen selbst, dass der Imperialismus die Masse des Arbeitslohnes in gleichem Masse vermehren würde wie die Masse des Mehrwertes, wäre die Arbeiterklasse an der kapitalistischen Expansionspolitik immer noch nicht in Reichem Masse interessiert wie die besitzenden Klassen, da sie einen beträchtlich größeren Teil der Kosten des Imperialismus zu tragen hat.

Unter dem Schutze der militärischen Machtmittel sucht das europäische Kapital in fernen Erdteilen Anlage. Ein beträchtlicher Teil des in jedem Jahre in Europa akkumulierten Mehrwertes wandert aus: es betreibt in Amerika Eisenbahnen, in Südafrika Goldminen, baut in Ägypten Kanäle, erschließt in China Kohlengruben. Großbritannien vermehrt in Jedem Jahre seine Kapitalanlagen im Ausland um etwa 50 Millionen Pfund Sterling, also um eine Milliarde Mark. (Armitage Smith) Seine Kapitalanlagen im Ausland scheinen schneller zu wachsen als die im Inland; wenigstens hat sich das britische Gesamteinkommen in den Jahren 1865 bis 1898 nur etwa verdoppelt, während das Einkommen aus dem Ausland sich in demselben Zeitraum verneunfacht hat. (Giffen) Auch Deutschlands Kapitalanlagen in den überseeischen Staaten wachsen sehr schnell; sie sollen im Jahre 1898 7.035 bis 7.735, 1904 schon 8.030 bis 9.226 Millionen Mark betragen haben. [1] Von den in Deutschland gehandelten Effekten dürften 2 bis 2½ Milliarden Mark auf überseeische Gebiete entfallen. Die deutschen Großbanken haben den deutschen Kapitalexport planmäßig organisiert.

Dieser Kapitalexport nun bewirkt, dass die Nachfrage auf dem europäischen Arbeitsmarkte sinkt. Es mag sein, dass das Kapital, das in das Ausland abfließt, im Inland zeitweilig totgelegt geblieben wäre, wenn man ihm dieses Ventil nicht geöffnet hätte. Aber dauernd bleibt kein Kapital totgelegt, es hätte sich schließlich doch auch im Inland den Weg in die Produktionssphäre gebahnt. Wenn man dies nicht abwartet, sondern dem Kapital die Abwanderung in das Ausland möglich macht, so geht dieses Kapital dem inländischen Arbeitsmarkt dauernd verloren. Wenn ich ein Kapital besitze, so heißt dies, dass ich eine bestimmte Menge gesellschaftlicher Arbeit geleistet oder doch mir eine bestimmte Menge gesellschaftlicher, von Lohnarbeitern geleisteter Arbeit kraft meines Eigentums an den Arbeitsmitteln angeeignet habe; ich habe nun das Recht, eine Menge anderer, von anderen geleisteter gesellschaftlicher Arbeit zu fordern, gesellschaftliche Arbeit zu kaufen. Wenn ich nun dieses Kapital in südafrikanischen Goldminen anlege, so mache ich diesen Anspruch auf fremde Arbeit geltend: aber ich kaufe nicht die Arbeitskraft englischer oder deutscher Arbeiter, sondern chinesischer Kulis. Verringerung der Arbeitslast einer Nation bedeutet aber in der kapitalistischen Gesellschaft Verminderung der Nachfrage nach ihren Arbeitskräften, Verschlechterung der Lage der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt. Soweit der Imperialismus die Auswanderung des europäischen Kapitals in fremde Erdteile fördert, bedroht er also ganz unmittelbar das „Produzenteninteresse“ der Arbeiter. Indem der Imperialismus den Spielraum der Tendenz zur Ausgleichung der Profitraten auf die ganze Erde erweitert, strebt er die Ersetzung der europäischen Arbeiter durch die billigeren Arbeitskräfte der minder entwickelten Nationen an, bedeutet er also der Tendenz nach – wie Kurt Eisner einmal sagte – eine „Generalaussperrung der europäischen Arbeiterschaft“.

Allerdings ist das auswandernde Kapital nur zum Teil variables Kapital; soweit es konstantes Kapital wird, sich in Arbeitsmitteln verkörpert, schafft es neuen Absatz für die Industrien des Mutterlandes, von denen diese Arbeitsmittel bezogen werden, dadurch auch neue Anlagesphären für das Kapital im Mutterlande selbst. Hier wird also die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder vermehrt, da der Abfluss des totgelegten Kapitals in die Produktionssphäre auch im Mutterlande selbst beschleunigt wird. Uns interessiert aber auch hier wieder die Verteilung des Kapitals auf die verschiedenen Produktionszweige. Denn wenn ein Teil des Kapitals eines europäischen Landes in das Ausland abfließt und die Nachfrage dieses Kapitals nach Arbeitsmitteln dann in Europa selbst zur Erweiterung des Produktionsapparates der Gesellschaft führt, so verteilt sich das Kapital auch im Mutterlande anders auf die verschiedenen Zweige der Produktion, als dies ohne den vorausgegangenen, durch die imperialistische Politik ermöglichten oder doch geförderten Kapitalexport geschehen wäre. Es sind ganz bestimmte Produktionszweige, die durch diese neuen Absatzmärkte gefördert werden; das Kapital wendet sich in der Heimat der Produktion von Waffen und Geschützen, den Schiffswerften und Reedereien zu, es wird in Kanälen, Hafenanlagen, Docks u.s.w. angelegt. Es sind dies Produktionszweige mit hoher organischer Zusammensetzung des Kapitals, Produktionszweige, die nur eine geringe Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt entfalten können. Wenn die Arbeiter einen Teil ihres Arbeitslohnes als Steuer an den Staat abtreten müssen, so steigt die Nachfrage nach Waffen, Schiffen, Eisenbahnmaterial, aber es sinkt in demselben Masse die Nachfrage nach den Produkten jener Industrien, die des Arbeiters Kleidung, Wohnung, Nahrung erzeugen. Die geförderten Produktionszweige haben ein geringeres Arbeitsfassungsvermögen als die geschädigten.

Das sind also die nächsten Wirkungen der kapitalistischen Expansionspolitik: einerseits freilich schnelle Überführung brachliegenden Geldkapitals in die Produktion, andererseits aber Abfluss eines Teiles des Kapitals in das Ausland und Neuverteilung des Restes des Kapitals im Inland, so dass die Produktionszweige mit geringerem Arbeitsfassungsvermögen stärker besetzt werden. Einerseits eine Vermehrung des produktiven Kapitals im Lande durch Verringerung der totliegenden Kapitalien und Verkürzung der Umschlagszeit; andererseits aber Verminderung des produktiven Kapitals überhaupt infolge der Kapitalexporte und noch schnellere Verminderung des gesellschaftlichen Lohnkapitals, da das im Mutterlande zurückgebliebene Kapital zu höherer organischer Zusammensetzung fortschreitet.

Da die Proritrate in den durch den Imperialismus erschlossenen Kolonialländern höher ist als im Mutterlande, so bewirkt der Imperialismus eine wesentliche Bereicherung des Mutterlandes. Aber dies drückt sich in der kapitalistischen Gesellschaft nur darin aus, dass die der Kapitalistenklasse zufließenden Mehrwertsummen steigen. Die Arbeiterklasse hat am wachsenden Reichtum der Gesellschaft unmittelbar keinen Teil. Nur mittelbar kann die Vermehrung der der Kapitalistenklasse zuströmenden Mehrwertmassen doch auch der Arbeiterklasse zugute kommen. Ein Teil dieses Mehrwertes wird nämlich akkumuliert; da die Masse des gesamten Mehrwertes durch die Kapitalsanlage im Ausland gewachsen ist, so wird bei unveränderter Akkumulationsrate auch die Masse des in jedem Jahre akkumulierten Mehrwertes gestiegen sein. Ich nenne die Differenz zwischen jener Mehrwertsumme, die in einem Jahre von der Kapitalistenklasse des Mutterlandes akkumuliert wird, und jener, die von ihr akkumuliert worden wäre, wenn die ihr zuströmenden Mehrwertmassen nicht durch die Kapitalsanlage im Ausland, insbesondere in den Kolonialgebieten, vermehrt worden wären, die Akkumulationsdifferenz. Von dieser Wertsumme kommt nun wiederum ein beträchtlicher Teil für die europäischen Arbeiter gar nicht in Betracht; ein großer Teil der Akkumulationsdifferenz wird vielmehr sofort wieder zu Kapitalsanlagen im Ausland verwendet. Wissen wir doch, dass von den den englischen Kapitalisten aus ausländischen Kapitalsanlagen zufließenden Zinsen und Dividenden ein großer Teil überhaupt nicht nach England kommt, sondern sofort im Ausland stehen bleibt, die ausländischen Kapitalsanlagen Englands vermehrt. Aber ein Teil der Akkumulationsdifferenz wird doch im Mutterlande selbst produktiv akkumuliert; ein Teil dieses Teiles wird dort zu variablem Kapital, vermehrt also die Nachfrage nach den Arbeitskräften des Mutterlandes.

Wer also untersuchen will, inwiefern die kapitalistische Expansionspolitik die Lage der europäischen Arbeiter auf dem Arbeitsmarkte verbessert, darf nicht die ganzen riesigen Wertsummen in Betracht ziehen, die den kapitalistischen Nationen aus den von ihnen unterjochten Ländern fremder Erdteile zufließen, sondern nur einen verhältnismäßig kleinen Teil dieser Wertsummen, nämlich den Teil der Akkumulationsdifferenz, der, in Europa selbst produktiv angelegt, hier die Gestalt variablen Kapitals annimmt. Die Ausbeutung der fremden Erdteile durch den europäischen Kapitalismus steigert zweifellos den Reichtum der kapitalistischen Nationen; aber das bedeutet in der kapitalistischen Gesellschaft keineswegs, dass dadurch auch der Reichtum der Arbeiterklasse dieser Nationen überhaupt, geschweige denn, dass er in gleichem Grade wächst.

Endlich kommt es nicht nur auf die absolute Größe der aus den Kolonialgebieten nach Europa strömenden Mehrwertsummen an, sondern auch darauf, in welchen Gebrauchswerten sie sich verkörpern. Für die Arbeiterklasse ist es am vorteilhaftesten, wenn die unterworfenen Länder ihren Tribut an die kapitalistischen Nationen in Gestalt von Getreide, Fleisch, Baumwolle zahlen müssen. In diesem Falle sinken die Preise der wichtigsten Lebensmittel der Arbeiter, es steigt also die Kaufkraft ihres Geldlohnes. Hier fördert die Expansionspolitik gerade das „Konsumenteninteresse“ der Arbeiter. Aber gerade diese günstigen Wirkungen sind dem Imperialismus nicht genehm. In Großbritannien wollen gerade die Imperialisten Getreide und Fleisch mit Einfuhrzöllen belegen. Im Deutschen Reich stehen gerade die Industrien, die am Imperialismus am meisten interessiert sind, im engsten Bunde mit den Agrariern und erkaufen ihre Stimmen für die Kartellschutzzölle, indem sie den Junkern die Agrarschutzzölle bewilligen.

Aber das Gut, nach dem nicht nur der einzelne Kapitalist, sondern die gesamte Kapitalistenklasse mit größter Leidenschaft begehrt, ist das Gold. Entdeckung neuer Goldschätze war immer ein wichtiges Ziel imperialistischer Politik. Sie hat die günstigen Wirkungen der Expansion immer am schnellsten hervorgerufen: neue Goldfunde bedeuten immer neue riesige Anlagesphären, neue reiche Absatzmärkte, schnelle Vermehrung der kapitalistischen Produktion. Aber indem der Imperialismus neue Goldbergwerke erschließt, indem er sie durch Straßen, Eisenbahnen, Telegraphen, Dampfschifflinien Europa näher bringt, indem er die moderne Bergtechnik in den Goldminen einführt, indem er schließlich für billige Arbeitskräfte sorgt, senkt er die Produktionskosten des Goldes. Sinkt aber der Produktionspreis des Goldes, so steigt der Produktionspreis aller Waren. Wenn in den letzten Jahren das schnelle und dauernde Steigen der Warenpreise die Kaufkraft des Geldlohnes stetig senkt, wenn das Steigen der Lebensmittelpreise den Arbeitern wieder raubt, was die Gewerkschaften ihnen erobert haben, so danken dies die europäischen Arbeiter zweifellos zu nicht geringem Teile der Tatsache, dass die Politik des britischen Imperialismus die Produktionskosten des Goldes gesenkt hat. Ist es nicht ein überraschendes Beispiel der internationalen Solidarität der Arbeiterinteressen, dass die Ausbeutung des elendesten und meist verachteten Arbeiters der Welt, des chinesischen Kuli, hier ganz unmittelbar die Arbeiter aller Länder geschädigt hat?

So erhalten wir, wenn wir die Wirkungen der kapitalistischen Expansionspolitik auf die Lage der Arbeiterklasse untersuchen, ein recht buntes Bild. Einerseits fördert der Imperialismus den Wohlstand der Arbeiterklasse: indem er den Abfluss des Kapitals in die Produktionssphäre beschleunigt, die Umlaufszeit des Kapitals verkürzt, indem er durch einen Teil der Akkumulationsdifferenz die Masse des in der Gesellschaft tätigen Kapitals vermehrt, steigert er die Nachfrage nach Arbeitskräften; indem er die unterjochten Völker Getreide und Fleisch, Baumwolle und Wolle an die kapitalistischen Herrennationen abtreten lässt, steigert er in Europa die Kaufkraft des Arbeitslohnes. Aber andererseits wird die Arbeiterklasse durch den Imperialismus wieder empfindlich geschädigt: durch den Schutzzoll, hinter dessen Schutz sich mächtige Kartelle und Trusts aufbauen, durch Finanzzölle und indirekte Steuern, die die Kosten der Eroberungspolitik tragen müssen, endlich durch die Verringerung der Produktionskosten des Goldes steigert diese Politik die Preise der Lebensmittel der Arbeiter, senkt sie also die Kaufkraft ihres Geldlohnes; durch den Abfluss gewaltiger Kapitalien in das Ausland, den sie ermöglicht, durch die Förderung der Produktionszweige mit geringem Arbeitsfassungsvermögen, sowohl mittels der Schutzzölle als auch mittels der Erschließung neuer fremder Märkte, verringert sie die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt; durch die Verschiebung des Kapitals in jene Produktionszweige, in denen die Konzentration am weitesten gediehen ist, durch die Förderung dieser Konzentration mittels der Zölle erschwert sie den gewerkschaftlichen Kampf.

Daraus geht zunächst hervor, dass die Arbeiterklasse an den aus den Kolonialgebieten strömenden Reichtümern weit geringeren Anteil hat als die besitzenden Klassen. Die Kapitalistenklasse eignet sich den allergrößten Teil des Reichtumszuwachses an: alle günstigen Wirkungen der imperialistischen Politik fördern sie, von allen oder fast allen ungünstigen Gegenwirkungen bleibt sie verschont. Dagegen steht jeder günstigen Wirkung der Expansionspolitik für das Proletariat eine Reihe ungünstiger Gegenwirkungen gegenüber. Man sieht, wie wenig die imperialistische Politik wirklich dem Zwecke dient, dem sie zu dienen vorgibt: der wachsenden Volksmasse der großen kapitalistischen Wirtschaftsgebiete Nahrung zu schaffen. Gerade die Klasse, deren Zahl am schnellsten steigt, hat an den wachsenden Reichtümern den geringsten Teil. Aber nicht nur die aus den Kolonien in das Mutterland fließenden Mehrwertsummen werden zwischen Kapitalisten und Arbeitern ungleich geteilt, auch, im Mutterlande selbst verändert sich die Verteilung des Wertproduktes; wenn der Schutzzoll die Bildung von Unternehmerverbänden möglich macht, die den vereinigten Kapitalisten gewaltige Mehrwertsummen in die Hand spielen, während sie gleichzeitig die Lebensmittel des Arbeiters verteuern und seinen gewerkschaftlichen Kampf erschweren; wenn das Sinken der Produktionskosten des Goldes den Reallohn senkt, während die Warenpreise und daher auch die kapitalistischen Profite steigen, so bedeutet dies, dass auch im Inland vom jährlichen Zuwachs des Ertrages der inländischen Produktion der Löwenanteil auf die besitzenden Klassen fällt. Wie immer andere Ursachen die Verteilung des Wertproduktes bestimmen mögen, betrachten wir die Wirkungen der imperialistischen Wirtschaftspolitik isoliert, so sehen wir, dass sie sowohl an den aus den Kolonialgebieten zuströmenden Reichtümern den Kapitalisten weit größeren Anteil gewährt als den Arbeitern, als auch die Verteilung des Wertproduktes der inländischen Produktion zum Nachteil der Arbeiter verändert. Der Imperialismus verkleinert also den Anteil der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, er verschiebt das Verhältnis der Wertsummen, die den besitzenden Klassen zufallen, zu den Wertsummen, die die Arbeiterklasse sich aneignet, zum Nachteile des Proletariats, er steigert also die Ausbeutung der Arbeiter.

Fragen wir nach den Wirkungen des Imperialismus auf den Anteil der Klassen am gesellschaftlichen Reichtum, so erhalten wir eine bestimmte, nicht zu bezweifelnde Antwort. Anders, wenn wir seinen Wirkungen auf die absolute Größe des Wohlstandes der Arbeiterklasse nachgehen. Hier kann es geschehen, dass die ungünstigen Wirkungen der kapitalistischen Expansionspolitik den günstigen eben die Wage halten: dass also der Wohlstand der Arbeiterklasse unverändert bleibt, der ganze Reichtumszuwachs den besitzenden Klassen zufällt. Es kann geschehen, dass die günstigen Wirkungsreihen kräftiger sind als die ungünstigen, dass also auch die Arbeiterklasse einen Vorteil aus der kapitalistischen Expansionspolitik zieht, wenn auch weit geringeren Vorteil als die Kapitalistenklasse. Endlich ist auch das Gegenteil möglich, dass der Wohlstand der Arbeiterklasse unter dem Einfluss des Imperialismus nicht nur relativ, sondern auch absolut sinkt, dass die ungünstigen Wirkungen stärker sind als die günstigen.

Durch all das bestimmt sich nun die Stellungnahme der Arbeiterklasse zum Imperialismus. Sie steht dem Imperialismus überall nüchtern gegenüber. Sie will in jedem einzelnen Falle berechnen, ob die günstigen Wirkungen des Imperialismus ihr auch wirklich die Opfer lohnen. Ihre Besonnenheit wird zu Misstrauen, da sie sieht, dass es im einzelnen Falle schwer ist, im voraus zu berechnen, welche Kraft die einzelnen, durch Erschließung neuer Absatzmärkte und Anlagesphären ausgelösten Wirkungsreihen haben werden. So bleibt die Arbeiterklasse nüchtern, während sich die Kapitalistenklasse an der Vorstellung der Ströme von Gold berauscht, die ihr aus den fernen Ländern zufließen sollen; so bleibt das Proletariat besonnen, während die herrschenden Klassen jubelnd taumeln bei der Vorstellung ihrer Herrschaft über die Millionen und aber Millionen der wehrlosen Völker, die der Imperialismus der kapitalistischen Ausbeutung unterwirft.

Dieses Misstrauen der Arbeiterklasse gegen den Imperialismus steigert sich zu bewusster Feindschaft, sobald sie die politischen und allgemein kulturellen Wirkungen des Imperialismus erwägt.

Der Imperialismus verringert zunächst die Macht der Gesetzgebung gegenüber der Verwaltung. Wenn heute selbst in England wieder die Macht des Königs steigt, so liegt das daran, dass das Vereinigte Königreich immer mehr zu einem bloßen Teil des großen Weltreiches wird, das kein Parlament mehr beherrschen kann. Gleichzeitig aber gib der Imperialismus den Herrschenden furchtbare Machtmittel in die Hand. Er zwingt alle Nationen zu gewaltigen Rüstungen. Die Heere, die er aufstellt, müssen den Herrschenden gefügig sein: sie müssen bereit sein, sich heute in Afrika und morgen in Indien willig verwenden zu lassen, heute einen Negerstamm mit Stumpf und Stiel auszurotten und morgen mit weißen Soldaten anderer Nationen zu kämpfen, sie müssen heute die Besitzer großer Goldminen gegen die Rebellion ihrer fremden Arbeiter schützen und morgen die ägyptischen Bauern blutig dafür bestrafen, dass sie die übermütigen Eroberer gezüchtigt. Solche Heere können keine Volksheere sein, die sich aus Menschen mit eigenem Denken und freiem Willen zusammensetzen. Darum ist das Ideal des imperialistischen Heeres eine Armee von beutelustigen, abenteuerfrohen Söldnern. Wo aber der Wettbewerb der Staaten den Imperialismus zwingt, seine Heere zu vermehren, so dass Söldnertruppen ihm nicht mehr genügen können, dort muss er freilich die Jugend des ganzen Volkes bewaffnen; aber durch die mechanische Kraft des Drills und die Suggestivkraft seiner Ideologie sorgt er dafür, dass aus den bewaffneten Volksmassen kein Volksheer werde, dass das bewaffnete Volk den Herrschenden ein gefügiges Werkzeug bleibe. Einerseits zwingt der Imperialismus zu immer größeren Rüstungen; andererseits aber verträgt er kein Volksheer, hindert er jede Demokratisierung der Wehrverfassung. So stellt er immer größere Massen bewaffneter Männer als willenloses Instrument den Herrschenden zur Verfügung. Dadurch wird er zur Gefahr lür die Demokratie.

Es ist eine sonderbare Zumutung, dass die Arbeiterklasse, wie man ihr so oft geraten hat, auf den Kampf um die Demokratisierung des Heeres verzichten soll, um dafür demokratische Reformen einzutauschen; ist doch die demokratische Wehrverfassung ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil aller Demokratie, nicht minder wichtig als das allgemeine Wahlrecht und die autonome Lokalverwaltung. Denn hinter dem Gesetz steht die Macht der Waffen. Volle Demokratie besteht erst dort, wo nicht nur des Volkes Wille Gesetz wird, sondern das gesetzgebende Volk allein auch die Macht hat, dem Gesetze Geltung zu sichern. Darum gibt es in den entwickelten großen Klassenstaaten kein wahres Volksheer. Wenn einst die modernen Volksheere die Hülle der Klassenherrschaft sprengen, die ihr Wesen verkleidet, dann streift auch die gesellschaftliche Produktion die kapitalistische Form ab, die sie heute verbirgt. Indem der Imperialismus die Demokratisierung der Wehrverfassung hemmt, mindert er die Macht der .Arbeiterklasse, bedroht er die Zukunftshoffnungen des Proletariats.

Aber nicht nur das politische Klasseninteresse des Proletariats, auch die ihm eigentümliche, durch seine Stellung in der Gesellschaft bestimmte Ideologie widerstreitet dem Imperialismus. Wir kennen bereits die Ideologie des Imperialismus: den Machttaumel, den Herrenstolz, den Gedanken des Rechtes der höheren Kultur. Wir wissen aber auch schon, dass die Arbeiterklasse notwendig im Gegensatz zu dieser Ideenwelt steht. In den Gedanken, die die Knechtung der fremden Völker begründen sollen, findet die Arbeiterklasse dieselben Beweisgründe wieder, die im Klassenkampfe innerhalb der Nation die Waffen ihrer Gegner sind, die ihre eigene Ausbeutung und Unterdrückung rechtfertigen sollen. Die Ideologie des Imperialismus ist zugleich die Ideologie des Scharfmachertums.

So wird die Arbeiterklasse durch ihr wirtschaftliches und politisches Klasseninteresse wie durch ihre Klassenideologien in Gegensatz gegen die imperialistische Wirtschaftspolitik gesetzt. Dadurch wird sie aber auch befähigt, die allgemein menschlichen Interessen gegen die spezifisch kapitalistischen Interessen zu vertreten. Die .lugend der Arbeiterschaft bildet den Kern der modernen Volksheere; wie könnten die Arbeiter an die Frage vergessen, ob denn die Mehrung der Profite wirklich ein so kostbares Gut ist, dass sie erkauft werden dürfte mit dem Tode von Tausenden und Abertausenden hoffnungsvoller Junger Menschen r Die Arbeiterklasse hasst kapitalistisches Profitstreben als die furchtbare Macht, die ihrem eigenen Kampfe um Anteil an den Gütern unserer Kultur fortwährend seine Grenzen setzt, die ihre Kinder ausbeutet und ihre Greise hungern lässt, die sie heute zu maßloser Überarbeit zwingt und morgen arbeitslos auf die Straße wirft, die ihre Löhne senkt und ihre Lebensmittel verteuert; wie sollte die Arbeiterklasse nicht die Frage aufwerfen, ob es wirklich billig ist, dieser grausamen, ewig hungrigen Macht ganze Länder, ganze Nationen zu opfern?

So ward die Arbeiterklasse überall des Imperialismus Feind. Dies gilt nicht nur von der Sozialdemokratie, sondern auch von der Arbeiterschaft jener Länder, die dank einer sonderbaren Verkettung von Umständen dem Eindringen des Sozialismus bisher noch unüberwindlichen Widerstand geleistet haben. So waren es in England die Arbeiter, die mitten im Waffenlärm des südafrikanischen Krieges ihre Stimmen für die Buren erhoben, die Arbeiter, die die Sklaverei der Chinesen am Rand verdammten, die Arbeiter, die die Zollpläne Chamberlains niedergestimmt haben, die Arbeiter, die in den Tagen nach der furchtbaren Niederlage Russlands, des gefährlichsten Gegners Großbritanniens, nicht imperialistische Nutzung der günstigen Situation, sondern Einschränkung der britischen Rüstungen zu Lande und zur See forderten.

So ist auch im Deutschen Reich der von tüchtigen Männern unternommene Versuch, die deutschen Arbeiter dem Gedanken des Imperialismus zu gewinnen, schmählich gescheitert. Naumann war ausgezogen, die Sozialdemokratie abzulösen, die Arbeiterklasse dem Gedanken der kapitalistischen Machtpolitik zu erobern; er landete in der „Freisinnigen Vereinigung“, der Partei der deutschen Banken, Börsen und Großhändler. [2]

Was man in den großen kapitalistischen Nationalstaaten die antinationale Politik der Arbeiterklasse nennt, das ist nichts anderes als ihre antiimperialistische Politik. Aber gerade durch diese „antinationale“ Politik gewinnt die Arbeiterklasse ein enges Verhältnis zum Nationalitätsprinzip. Die Arbeiterklasse wird zur Beschützerin aller Völker, deren Freiheit der Imperialismus kapitalistischem Profitstreben opfern will. Im Kampfe gegen den gewalttätigen völkermordenden Imperialismus, der ihre Ausbeutung vermehrt, ihre politische Macht mindert, ihre Klassenmoral verletzt, verkündet die Arbeiterklasse die Forderung der Freiheit und Selbstbestimmung aller Nationen.

So stehen wir wieder vor einer neuen Wendung in den Geschicken des Nationalitätsprinzips. Die Entwicklung der modernen Produktivkräfte hat die Methoden der kapitalistischen Wirtschaftspolitik verändert. Gierig, die neuen Mittel zu nutzen, ihre Profite zu vermehren, hat die Bourgeoisie ihr altes Ideal des Nationalstaates verraten. Nicht mehr der Nationalstaat, sondern der imperialistische Nationalitätenstaat ist das Ziel ihres Strebens. Aber darum geht der Gedanke der nationalen Freiheit und Einheit nicht verloren. Er entsteht wieder auf dem entgegengesetzten Pole der Gesellschaft. Im Kampfe gegen den Imperialismus schreibt nun die Arbeiterklasse die großen Fordenmgen der Freiheit, Einheit und Selbstbestimmung der Nationen auf ihre Fahnen. Von der Bourgeoisie verraten, wird das Nationalitätsprinzip im Zeitalter des reifen Kapitalismus, im Zeitalter der Kartelle, der Trusts, der Großbanken, zum sicheren Besitztum der Arbeiterklasse.

Fußnoten

1. Die Entwicklung der deutschen Seeinteressen im letzten Jahrzehnt, zusammengestellt im Reichs-Marine-Amt, Berlin 1905, S.173.

2. Der Imperialismus Naumanns war übrigens freihändlerisch, wie es der Imperialismus der Börse, des Handels, der Reedereien stets war. Der moderne Imperialismus aber ist regelmäßig schutzzöllnerisch; er wird getragen vom modernen Finanzkapital, das, dank der Tatsache, dass die Beziehungen zwischen den Banken und der Industrie immer intimer werden, an Industrieschutzzöllen interessiert ist; er entspricht einer Zeit, in der der Schutzzoll zur Angriffswaffe im Kampfe um den Weltmarkt geworden ist. Die Konsequenz, die Naumann nicht zog, hat Schippel gezogen. Wenn er Schutzzölle befürwortet, wenn er die „Milizgläubigen“ verhöhnt, über die „dogmatische“ Ablehnung der Kolonialpolitik spöttelt, rät er den Deutschen Arbeitern zu einer imperialistischen Politik. Im Vergleich zu Naumann hat seine Politik den Vorzug der Konsequenz; nur wäre sie freilich nicht proletarische, sondern kapitalistische, nicht sozialdemokratische, sondern nationalliberale Politik. Er begründet sie mit dem „Produzenteninteresse“ der Arbeiter; aber er sieht nur darum in den Veränderungen der Umschlagszeit des Kapitals das einzige Produzenteninteresse, weil er gewohnt ist, die ganze Wirtschaft ausschließlich vom Standpunkt der Zirkulation des Kapitals aufzufassen, die primären Wirkungen in der Produktionssphäre selbst aber gar nicht sieht.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008