Otto Bauer

Eine Parteischule für Deutschösterreich

(1. Jänner 1910)


Der Kampf, Jg. 3 4. Heft, 1. Jänner 1910, S. 173–175.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Unsere Bildungstätigkeit hat in den letzten Jahren sehr erfreuliche Fortschritte gemacht. Wir haben heute Arbeiterschulen in Wien, Linz und Brünn, Vortragszyklen und Unterrichtskurse in vielen grösseren Städten, Einzelvorträge und Redeunterrichte auch in manchen kleineren Orten. Die Mängel dieser Tätigkeit zu beheben, ihr immer wieder neue Anregungen zu geben, wird die Aufgabe der neuen „Zentralstelle für das Eildungswesen“ und ihres Organs, der Bildungsarbeit, sein. Die Organisation unserer Jugendlichen sorgt für bildungsfähigen und lerneifrigen Nachwuchs. Wo geeignete Kräfte vorhanden und die sachlichen Bedingungen zu erlangen sind, könnte das System unserer Erziehungsorganisation noch durch Nachahmung des prächtigen Beispiels der Grazer Genossen, über das Afritsch im Novemberheft des Kampf berichtet hat, ausgestaltet werden. Aber noch fehlt uns die Krönung des ganzen Gebäudes. Wir brauchen – natürlich nicht an Stelle unserer Arbeiterschulen, sondern neben ihnen – eine Parteischule mit Tagesunterricht, die Genossen aus der Provinz, die keine unserer drei Arbeiterschulen besuchen können, eine systematische Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus geben soll. Das Bedürfnis nach einer solchen Anstalt ist auf dem letzten Parteitag in einem Antrag der Teplitzer Genossen ausgedrückt worden. Wir wollen versuchen, zu zeigen, dass und wie dieses Bedürfnis befriedigt werden kann.

Wir können uns freilich keine Anstalt schaffen, wie sie die reichsdeutschen Genossen in der Berliner Parteischule haben. Dazu fehlt es uns an Mitteln und, da die zur Lehtätigkeit befähigten Genossen mit Parteiarbeit bereits belastet sind, auch an Lehrkräften. Wollen wir eine Parteischule haben, dann müssen wir innerhalb der Grenzen des Erreichbaren bleiben. Wir wollen zu beweisen versuchen, dass eine Parteischule möglich ist, wenn wir uns entschliessen, die Dauer des jährlichen Unterrichtskurses auf einen Monat zu beschränken.

Der halbjährige Unterrichtskurs der Berliner Parteischule umfasst 814 Unterrichtsstunden. An der Wiener Arbeiterschule hören die Schüler in vier Semestern zusammen 256 Unterrichtsstunden. An einer Parteischule, wie wir sie vorschlagen, können wir nur mit 26 Unterrichtstagen, mit höchstens 148 Unterrichtsstunden rechnen. Es ist daher unmöglich, an einer solchen Anstalt den umfassenden Lehrstoff der Berliner Parteischule zu bewältigen. Selbst der kleinere Lehrstoff der Wiener Arbeiterschule wird in einem Monat nicht ganz durchgenommen werden können. Doch darf nicht übersehen werden, dass eine Parteischule, in die in jedem Jahre nur etwa 30 von den deutschen Organisationen des ganzen Reiches ausgewählte Genossen aufgenommen würden, ein unvergleichlich besser und gleichmässiger vorgebildetes Schülermaterial hätte als die Wiener Arbeiterschule, die allen organisierten Arbeitern offen steht. Auch können an die Genossen, die die Parteischule in den Tagesstunden besuchen und während des Unterrichtsmonats von aller anderen Arbeit befreit sind, ganz andere Anforderungen gestellt werden als an die Hörer der Wiener Arbeiterschule, die, von neun- oder zehnstündiger Arbeit erschöpft, in den Abendstunden die Vorträge hören. Schliesslich ist der intensive Unterricht während eines Monats gewiss vorteilhafter als die Ausdehnung des Unterrichts über zwei Jahre, in denen doch zusammen nur 256 Unterichtsstunden gegeben werden können. Darum bin ich überzeugt, dass der einmonatige Tagesunterricht an der Parteischule trotz der kleineren Stundenzahl weit günstigere Unterrichtsergebnisse zeitigen würde als der vier Semester umfassende Kursus der Wiener Arbeiterschule. Freilich, was die Berliner Parteischule leistet, ist in einem Monat nicht zu erreichen; aber dass wir das Bessere nicht leisten können, darf uns nicht hindern, das Gute zu schaffen.

Dass ein Kursus in der Dauer eines Monats den Genossen viel Belehrung und noch viel mehr Anregung zu selbständiger Fortbildung geben kann, mag die Skizze des Lehrplanes beweisen, den wir für die zu schaffende Parteischule vorschlagen.

Die vier Hauptlehrgegenstände unserer Parteischule sollen die Volkswirtschaftslehre, die Staatslehre, die Sozialpolitik und die Rechtskunde sein. An jedem Vormittag soll je eine Unterrichtsstunde jedem dieser Lehrgegenstände gewidmet werden. Bleiben die Sonntage frei, dann kann jeder Lehrer seinen Unterrichtsstoff auf 26 Lehrstunden verteilen. Natürlich kann keiner dieser Gegenstände in 26 Stunden erschöpfend behandelt werden; wohl aber ist es möglich, aus jedem Wissensgebiet diejenigen Kapitel auszuwählen, die für das Verständnis unseres Parteiprogramms und für die praktischen Aufgaben unserer Vertrauensmänner die wichtigsten sind. Nach meinen Erfahrungen wird es möglich sein, folgenden Lehrstoff in einem Monat durchzunehmen:

Volkswirtschaftslehre: Der Untergang des Handwerks. Die Entwicklung des Kleinhandels. Kapitalismus und Landwirtschaft. Der industrielle Grossbetrieb. Aktiengesellschaften, Kartelle und Trusts. Die Banken und die Börse. Die Schutzzölle und die Kolonialpolitik. Die Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel.

Staatslehre: Die Entstehung des modernen Staates. Die bürgerliche Revolution in England, Frankreich, Deutschland und Oesterreich. Die Entwicklung der österreichischen Verfassung und der politischen Parteien seit dem Jahre 1848.

Sozialpolitik: Theorie und Praxis der Gewerkschaften. Die Grundsätze und Entwicklungsziele der Arbeiterschutzgesetzgebung und Arbeiterversicherung.

Rechtskunde: Das österreichische Arbeiterrecht.

Die Nachmittagsstunden bleiben Schülern und Lehrern zur Erholung. Gegen Abend treffen sie einander wieder im Unterrichtszimmer. Zwei Stunden an jedem Abend (ausser am Samstag und Sonntag) werden zu Seminarübungen benützt. Im Seminar sollen die Lehrer den Schülern einen Ueberblick über die Literatur des Sozialismus erschliessen. Sie sollen sie zur Sammlung des Agitationsmaterials, zum Aufsuchen und Lesen statistischer Tabellen anleiten. Die Schüler sollen es lernen, Vor träge auszuarbeiten, Diskussionen zu veranstalten, Redeunterrichte zu leiten, kurze Versammlungsberichte zu verfassen. Vielleicht wird auch einmal einer unserer Organisationspraktiker unsere Seminarübungen besuchen und eine Diskussion über die Fragen unserer politischen Organisation einleiten. So wird in den Seminarübungen in den Abendstunden praktisch ergänzt werden, was die Schüler im theoretischen Unterricht am Vormittag hören.

Diese Skizze eines Lehrplanes beweist wohl, dass auch in einem Monat sehr viel gelehrt werden kann, ohne dass den Schülern zu viele Unterrichtsstunden zugemutet werden müssen. Vier Unterrichtsstunden und eine Seminarübung in der Dauer von zwei Stunden täglich sind sicherlich nicht zu viel.

Eine solche Parteischule können wir der Partei sehr leicht schaffen. Das finanzielle Opfer wäre nicht allzu gross. Die Schule würde mit drei oder vier Lehrkräften leicht ihr Auslangen finden. Da sie Lehrkräfte verwenden wird, die auch anderes Einkommen beziehen, brauchen wir für die Honorare der Lehrer und für ihre Reisekosten nicht mehr als 1.000 K zu veranschlagen. Die sachlichen Unterrichtserfordernisse können mit 500 K gewiss bestritten werden. Diese Ausgaben soll die Reichspartei übernehmen. Eine jährliche Ausgabe von 1.500 K für diesen Zweck übersteigt wohl nicht ihre Kräfte. Die Kosten der Erhaltung der Schüler und ihrer Familien während des Unterrichtsmonats müssen diejenigen Landes- und Kreisorganisationen, Gewerkschaftsverbände und Konsumvereine übernehmen, die von dem Rechte, Hörer in die Parteischule zu schicken, Gebrauch machen: jede Organisation erhält den von ihr entsandten Schüler. Welcher Unterhaltsbeitrag dem Schüler gegeben werden muss, hängt natürlich von seinen persönlichen Verhältnissen ab. Arbeiter aus der Fabrik werden mehr brauchen als Partei- und Gewerkschaftsbeamte, die auch während des Unterrichtsmonats ihren Gehalt beziehen, Verheiratete mehr als Ledige. Durchschnittlich wird der Schüler mit 150 K wohl sein Auskommen finden können. Es werden sich gewiss in jedem Jahre 30 politische und gewerkschaftliche Organisationen finden, die gerne 150 K opfern, um einen ihrer Vertrauensmänner in der Parteischule ausbilden zu lassen.

Auch an Lehrkräften fehlt es uns nicht. Wohl wären sie im Winter schwer zu finden, da das Parlament und die Presse die Genossen, die zur Leitung der Schule geeignet sind, in Anspruch nehmen. Im Sommer aber, in der politisch ruhigen Zeit, werden wir Lehrkräfte leicht finden. Darum raten wir, den Unterrichtskurs in einem Sommermonat abzuhalten. Die Schule muss nicht und soll nicht in Wien ihren Sitz haben. Wir empfehlen, sie in jedem Jahre in einem anderen Provinzstädtchen abzuhalten, im ersten Jahre in einer Stadt Deutschböhmens, im zweiten Jahre in Mähren oder Schlesien, im dritten Jahre in Steiermark oder Kärnten. Der Aufenthalt in einem schön gelegenen Städtchen wird Schülern und Lehrern angenehm und er wird, was nicht unwichtig ist, billiger sein als in Wien. In einer Kleinstadt wird sich leichter als in Wien freundschaftlicher Verkehr zwischen Schülern und Lehrern entwickeln, der gewiss beiden fruchtbare Anregungen geben wird.

Eine solche Parteischule ist kein Wunsch für spätere Zeiten, sie ist heute schon möglich. Sie übersteigt nicht unsere finanziellen Kräfte. Die Personen, die sie leiten können, stehen uns zur Verfügung. Der erste Versuch, der gewiss sehr lehrreich sein wird, kann schon im nächsten Sommer gemacht werden. Wenn die Parteivertretung die Mittel bewilligt, kann der erste Kursus unserer Parteischule im Juli 1910 in einem Städtchen Deutschböhmens eröffnet werden.

Die Absolventen unserer Parteischule werden, wenn der Unterrichtskurs geschlossen, zu ihrer Arbeit zurückkehren, jeder von ihnen von dem Wunsche erfüllt, das, was er in der Schule gelernt hat, zu der Masse seiner Arbeitskollegen zu tragen. So wird unsere Bildungsarbeit in allen Teilen des Reiches wertvolle Arbeitskräfte, geschulte Vortragende und geschickte Organisatoren gewinnen. Die Parteischule wird nicht nur einigen wenigen auserwählten Genossen ein geordnetes Wissen vermitteln; sie wird uns die Kräfte heranziehen, die in allen Städten, in allen Industriegebieten Deutschösterreichs der Erziehung der breiten Massen im Geiste des wissenschaftlichen Sozialismus dienen werden.

 


Leztztes Update: 6. April 2024