Otto Bauer

Theorien über den Mehrwert

(1. Mai 1910)


Der Kampf, Jg. 3 8. Heft, 1. Mai 1910, S. 344–350.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das Erscheinen des letzten Bandes der Theorien über den Mehrwert ist ein wichtiges Ereignis im Reiche der Wissenschaft. Marx’ ökonomisches Werk liegt jetzt abgeschlossen vor uns. Jetzt erst lernen wir den letzten Teil des Werkes kennen, dessen ersten Teil Karl Marx im Jahre 1859 veröffentlicht hat, jenen Teil, den Friedrich Engels als vierten Band des Kapital herauszugeben gedachte.

Die Wissenschaft schuldet Kautsky, der das vierbändige Werk herausgegeben hat, innigen Dank. Kautsky hat seine Aufgabe vortrefflich gelöst. Er hat der Marxschen Arbeit den Charakter gelassen, der sie zu einem unschätzbaren Beitrag zur Kenntnis der Persönlichkeit des Meisters macht: den Charakter von Aufzeichnungen zur Selbstverständigung, die uns Marxens Arbeitsweise viel anschaulicher als das Kapital sehen lassen. Er hat aber auch diese Aufzeichnungen so schön geordnet und gegliedert, dass in der Fülle der Einzelheiten, die so manchen Teil des Kapital verdeutlichen und ergänzen, die leitenden Grundgedanken nicht verloren gehen.

Marx gibt uns in diesem Teile seines Werkes eine Geschichte der politischen Oekonomie. Die Eigenart seiner an Hegel geschulten Geschichtschreibung tritt hier plastisch hervor. Wie Hegel alle älteren Systeme der Philosophie dem seinen als seine Bestandteile, als Phasen seiner Entwicklung einordnet und diese Entwicklung der Eigenentwicklung des Geistes überhaupt gleich setzt, so sucht Marx nicht nur die Grundgedanken seiner Lehre, sondern auch jeden einzelnen ihrer Bestandteile bei den Oekonomen zweier Jahrhunderte auf und zeigt, wie die innere Entwicklung dieser Elemente bis zu ihrer systematischen Vereinigung in seinem eigenen Lehrgebäude die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft selbst widerspiegelt. Wenn Marx die Spuren seiner Wert- und Mehrwertlehre bis Petty, seiner Preis- und Profitlehre bis Turgot, seiner Theorie der Akkumulation, der Reservearmee, der Profitrate bis Adam Smith verfolgt, so erscheinen die Lehren dieser Männer freilich in einem Zusammenhang, der ihren Urhebern selbst verborgen bleiben musste. Aber diese Beziehung erst erhebt die Sammlung literarhistorischer Notizen zur Wissenschaft der Geschichte. Die Methode ist es, die Marx von der bürgerlichen Geschichtschreibung scheidet. Sie begründet seine Ueberlegenheit. Die bürgerliche Geschichtschreibung eines halben Jahrhunderts hat kein Werk über die Geschichte der politischen Oekonomie hervorgebracht, das diesem zur Seite gestellt werden könnte.

Die Theorien sind ein schwieriges Werk, das ausgedehnte Vorkenntnisse voraussetzt. Es muss seine Leser im Kreise der Gelehrten, nicht in der Masse des Volkes suchen. Trotzdem ist sein Abschluss auch für uns ein wichtiges Ereignis; denn es enthält eine Fülle fruchtbarster Anregungen für die Popularisierung jener Teile der Marxschen Lehre, die die Grundlagen des modernen Sozialismus sind. Eine Uebersicht über den Inhalt des Werkes wird darum wohl auch manchen Lesern des Kampf willkommen sein. Auf die Unzahl wertvoller Einzelheiten, die es einschliesst, können wir hier nicht eingehen; aber wir wollen den Versuch wagen, mit ein paar groben Strichen den Grundriss des Werkes zu skizzieren.

* * *

Die älteste Auffassung des Mehrwerts ist die der kapitalistischen Unternehmer selbst; der Mehrwert erscheint ihnen als blosser Aufschlag auf den Erstehungs- oder Gestehungspreis. Das ist der Veräusserungsgewinn, der profit upon alienation des Steuart, der profit d’expropriation französischer Merkantilisten. Der Käufer verliert, was der Verkäufer gewinnt. Daher bleibt der Mehrwert innerhalb des einzelnen Wirtschaftsgebietes wie innerhalb der Weltwirtschaft als eines Ganzen unerklärt. Die Nation, der Staat aber werden bereichert, indem sie im auswärtigen Handel solchen Profit erzielen; diese Auffassung mündet also in die Forderung einer Wirtschaftspolitik, die eine aktive Handelsbilanz verbürgt.

Der Mehrwert, der in der Warenzirkulation innerhalb eines Wirtschaftsgebietes realisiert wird, kann erst erklärt werden, wenn im Ergebnis der gesellschaftlichen Warenproduktion der Fonds entdeckt wird, aus dem alle durch die Zirkulation vermittelten Einkünfte gedeckt werden. Am anschaulichsten kann dieser Fonds als das Mehrprodukt der landwirtschaftlichen Produktion dargestellt werden. Der Boden bringt uns so grossen Ertrag, dass uns nach Ausscheidung des Saatkorns und jener Menge, die wir zur Ernährung der Arbeiter brauchen, noch ein Ueberschuss übrig bleibt. Der Versuch, alle Formen des Mehrwerts auf den landwirtschaftlichen Reinertrag zurückzuführen, führt die Physiokraten zur ersten systematischen Darstellung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. So werfen schon die Physiokraten die wichtigsten Probleme der politischen Oekonomie auf. Halten wir die Darstellung dieses Systems in den Theorien mit der des Kapital und des Anti-Dühring zusammen, so haben wir jetzt eine tief dringende Analyse der physiokratischen Lehren, die alles übertrifft, was die bürgerliche Geschichtschreibung bis zum heutigen Tage über diesen ersten Versuch einer systematischen Darstellung der Erzeugung und Verteilung der Werte zu sagen wusste.

Während der Mehrwert in dem damals noch überwiegend agrarischen Frankreich zunächst als das Nettoprodukt der Landwirtschaft aufgefasst wurde, haben die englischen Oekonomen, die in dem Zeitalter zwischen der englischen und der französischen Revolution lebten, als die wertbildende Arbeit nicht nur die landwirtschaftliche Arbeit, sondern die Arbeit schlechthin, als den Mehrwert nicht nur das landwirtschaftliche Nettoprodukt, sondern das Nettoprodukt der gesellschaftlichen Arbeit überhaupt erfasst. Wollte die Grundherrenklasse die Rente als legitime Einkommensquelle, den Kapitalzins als sündhaften Wucher hinstellen, so antworten ihr die Theoretiker des Bürgertums, dass Rente und Zins wesensgleich seien, da der Ueberschuss des Arbeitsertrages über den Lohn des Arbeiters die Quelle beider sei. Damit ist der Mehrwert entdeckt. Aber gerade weil der Ausgangspunkt dieser englischen Oekonomen richtiger, entwickelter, also auch komplizierter ist als der der Physiokraten, gelingt es jenen weit weniger als diesen, das Ganze der kapitalistischen Wirtschaft von ihrer Grundlage aus zu erklären. Wohl aber gelangten sie bei der Beschäftigung mit den Wirtschaftsfragen ihrer Zeit zu einer Reihe wertvoller Einzelerkenntnisse, die von den Klassikern übernommen wurden.

Adam Smith bestimmt wie seine englischen Vorgänger den Wert der Ware durch die zu ihrer Erzeugung notwendige Arbeit. Er führt nicht nur die Rente (wie die Physiokraten) und den Kapitalzins (wie Petty, Locke, Hume), sondern auch den Unternehmergewinn auf die Differenz zwischen dem Wert der Ware und dem Lohn des Arbeiters, der die Ware erzeugt, zurück. Nun galt es, von dieser grundlegenden Erkenntnis aus alle Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft zu erklären. Indem Smith dies versucht, verwickelt er sich in Widersprüche. Aber das ist gerade das Bedeutungsvolle! Indem er sich widerspricht, indem er Unvereinbares unvermittelt nebeneinander setzt, stellt er seinen Nachfolgern ihre Probleme.

Hier greift Ricardo ein. Er reinigt Smith’ Lehre von den Widersprüchen. Smith verwechselt noch die Arbeit, die zur Herstellung einer Ware notwendig ist, mit der Arbeit, die sie „kommandiert“, die sie zu kaufen vermag; Ricardo scheidet beide scharf von einander und bestimmt den Wert der Ware konsequent durch jene. Smith meint noch, dass das Gesetz, der Wert der Ware sei durch die Arbeit bestimmt, nur für die einfache Warenproduktion gelte; mit der Entwicklung des Grundeigentums und des Kapitalbesitzes werde es modifiziert. Ricardo sucht es auch für die entwickelte kapitalistische Produktion festzuhalten; die Rententheorie und die Untersuchung, ob Lohnveränderungen den Wert beeinflussen, stehen im Mittelpunkt seines Systems, weil er zeigen will, dass der Wert auch bei entwickeltem Grundeigentum und Kapitalverhältnis durch die Arbeit bestimmt bleibt. Sind so alle Zweige des gesellschaftlichen Einkommens aus der Arbeit abgeleitet, so erscheint die Entwicklung der Arbeitsverfahren, die Entwicklung der Produktivkräfte als das Ziel alles wirtschaftlichen Strebens. Indem Ricardo diesem Ziel die Interessen aller Klassen mit gleicher Rücksichtslosigkeit zu opfern bereit ist, vertritt er die wahrhaft grosse Seite des Kapitalismus, die Entfaltung der Produktivkräfte. Seine Lehre wird zum Kampfmittel der Bourgeoisie. Einerseits gegen die Grundherrenklasse: die Rente ist blosser Abzug vom Profit, der müssige Grundherr ein Parasit, der den Reichtum der Gesellschaft nicht vermehrt; anderseits gegen die Arbeiter: der Profit ist notwendig, da nur eine vom Mehrwert zehrende, von Profitgier gepeitschte Klasse die Produktivkräfte entwickeln kann; je grösser der Profit, desto schneller wachst das Kapital, desto mehr Arbeiter kann es beschäftigen. Dagegen setzen sich nun die Vertreter sowohl der Grundherrenklasse als auch der Arbeiter zur Wehr.

Als Wortführer der Grundherren, der Bureaukraten, der Pfaffen ergreift Malthus das Wort. Hat Ricardo nur die positive Seite des Kapitalismus, die Entfaltung der Produktivkräfte, im Auge, so stellt Malthus, an Sismondi anknüpfend, die negative dar, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die Gegensätze, die sie entwickelt. Aber er stellt sie dar als Repräsentant der Klassen der Vergangenheit. Das Elend der Arbeiter ist ihm Naturgesetz. Da der Lohn des Arbeiters kleiner ist als der Wert der Ware, kann die Arbeiterklasse die Waren nicht kaufen, die sie erzeugt hat. Die Kapitalistenklasse muss aber ihre Waren verkaufen, um den Profit zu realisieren. Da die Arbeiterklasse sie nicht kaufen kann, könnte die Kapitalistenklasse den Profit nicht realisieren, gäbe es nicht Klassen, die konsumieren, ohne zu produzieren, kaufen, ohne zu verkaufen: Grundherren, Beamte, Pfaffen. Derselbe Mann, der lehrt, die Arbeiter müssten hungern, weil zu wenig Lebensmittel produziert werden, sagt, die Gesellschaft könne nicht bestehen, gäbe es nicht Klassen, die konsumieren, ohne zu produzieren. Die Ricardianer spotten über diese Lehre: „Soll der Profit der Kapitalisten dadurch ermöglicht werden, dass sie müssigen Verbrauchern ihre Waren schenken? Das tun sie ja, wenn sie selbst den Grundherren die Rente, den Beamten den Gehalt, den Pfaffen die Pfründe bezahlen, mit denen dann diese Klassen die Waren kaufen.“ Aber die Vertreter der Arbeiter antworten darauf: „Was ihr bespöttelt, wenn es Malthus zur Rechtfertigung der unproduktiven Klassen sagt, lehrt ihr uns gegenüber selbst. Sagt ihr doch, dass wir uns mit kargem Lohn begnügen, den Ertrag unserer Arbeit den Kapitalisten schenken müssen, damit diese uns dann beschäftigen!“

Als Vertreter der Arbeiter ergreifen die Sozialisten das Wort. Marx nennt den Verfasser eines anonymen Pamphlets von 1821, Ravenstone und Hodgskin. Auf Ricardos Lehre gestützt, sagen sie: Arbeit ist die Quelle des Wertes, das Kapital ist unproduktiv, alles Einkommen der Besitzenden fliesst aus der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Wir brauchen das Kapital nicht, wir wollen die Mehrarbeit abschaffen. Reich ist eine Nation, sagt der Verfasser des Pamphlets, „wenn statt zwölf Stunden sechs gearbeitet wird; Reichtum ist Zeit, über die man verfügt, sonst nichts“.

Von den Malthusianern auf der einen, von den Sozialisten auf der anderen Seite bedrängt, bemühen sich die Schüler Ricardos um den Ausbau der Lehre ihres Meisters. Sie stossen auf Widersprüche. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte wächst das Elend der von der Maschine freigesetzten Arbeiter, sinkt aber auch die Profitrate; wie ist dies möglich, da nach Ricardos Lehre die Profitrate desto höher ist, je niedriger der Arbeitslohn? Gleiches Kapital bringt gleichen Profit, mag es viel oder wenig Arbeit beschäftigen; wie ist dies möglich, da doch nach Ricardo nur die Arbeit Werte schafft? Unfähig, diese Widersprüche zu lösen, geben die Schüler die Grundlage der Lehre des Meisters auf. Kapital und Boden werden neben der Arbeit zu Quellen des Wertes. Die Auflösung der Schule Ricardos schafft der Vulgärökonomie Raum. Nun hat das Kapital die geheimnisvolle Eigenschaft, Zins zu hecken, wie der Boden selbst die Rente, die Arbeit den Lohn erzeugt. Das Wirtschaftsleben erscheint nicht mehr als die Gesamtheit der Beziehungen der Menschen zueinander; leblose Dinge beherrschen die Menschen und teilen ihnen ihr Einkommen zu. Die Kapitalsherrschaft ist notwendig, weil wir ohne Produktionsmittel und ohne aufgehäufte Vorräte von Rohstoffen nicht produzieren können; das Grundeigentum ist notwendig, weil der Boden die Basis aller Arbeit ist. Die Ausbeutung ist ein Naturgesetz, der Profit ist der Aufsichtslohn derer, die die Produktion leiten, die kapitalistische Produktion ist die Produktion schlechthin, die einzig mögliche Produktion. Je lauter die Kritik des Kapitalismus wird, desto mehr wird die Oekonomie zu seiner Apologie, seiner Verteidigung und Verherrlichung.

Mit der Ableitung der Rente, des Kapitalzinses, des Unternehmergewinnes aus der Produktion wurde die politische Oekonomie begründet. Aber indem die Oekonomen von der Zirkulation auf die Produktion zurückgingen, den Mehrwert nicht mehr aus dem Preisaufschlag, dem „profit upon alienation“, sondern aus dem Nettoprodukt erklärten, haben sie die Güterproduktion nur als kapitalistische Warenproduktion ins Auge gefasst. Diese erschien ihnen als die „absolute“ Produktion. Die technisch-natürlichen Bedingungen der Produktion überhaupt wurden mit den besonderen sozialen Bedingungen, unter denen eine bestimmte, historisch entstandene und historisch vergängliche, nämlich die kapitalistische Produktion vor sich geht, verwechselt. Das Kapital ist ihnen nichts anderes als die Gesamtheit der Arbeitsmittel und der Vorräte; der Lohn der Arbeiter ist bestimmt durch die Menge der Lebensmittel, die eben produziert werden können, er ist niedrig, weil nicht mehr produziert werden kann; die Anhäufung des Kapitals wird gleichgesetzt der Erweiterung der Betriebe und Arbeitsmittel, die die Gesellschaft braucht, und ist daher gleich notwendig wie diese. Je schärfer aber die Klassengegensätze sich entwickeln, desto schneller reift die Erkenntnis, dass der Kapitalismus nicht das Gesetz der Produktion überhaupt, sondern nur eine vergängliche, durch besondere soziale Beziehungen der Menschen zueinander bestimmte Form der Produktion ist. Hat schon Ricardo Profit, Zins und Rente in der Arbeit aufgelöst, so geht Hodgskin über ihn hinaus, indem er das umlaufende Kapital, das die älteren Oekonomen als Warenvorrat auffassen, auf das Nebeneinanderbestehen von Arbeiten verschiedener Art zurückführt. Indem er zeigt, dass die Wirkungen, die einem Warenvorrat zugeschrieben wurden, in Wahrheit der Koexistenz verschiedener Arbeiten zuzuschreiben seien, tritt an die Stelle des Dings ein Verhältnis arbeitender Menschen zueinander. Hier liegt eine Wurzel von Marxens Auflösung des Fetischcharakters der Ware und des Kapitals. Ramsay geht noch weiter: Er sagt, das Kapital sei nicht notwendig, sondern nur der Armut der Volksmassen geschuldet, und spricht damit schon aus, dass das Kapital eine historische Kategorie ist, nicht eine Bedingung jeder Produktion, sondern nur ein Verhältnis der produzierenden Menschen zueinander unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Jones endlich fasst die kapitalistische Produktion, indem er sie mit den zahlreichen vorkapitalistischen Produktionsweisen vergleicht, nur noch als eine vergängliche Phase in der Entwicklung der Menschheit auf, eine Entwicklungsstufe, der andere folgen können, in denen die Arbeiter selbst die Besitzer der Arbeitsmittel und Vorräte sein werden, die zur Arbeit notwendig sind. Indem er die Veränderungen der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse überblickt, erkennt er zugleich, wie sich mit ihnen der „ideologische LJeberbau“ verändert. So spricht Jones bereits den Grundgedanken der materialistischen Geschichtsauffassung aus:

„In dem Masse, in dem ein Gemeinwesen seine Produktivkräfte ändert, ändert es notwendigerweise auch seine Sitten und Gewohnheiten. Im Laufe ihrer Entwicklungfinden alle die verschiedenen Klassen eines Gemeinwesens, dass sie mit anderen Klassen durch neue Beziehungen verknüpft sind, neue Positionen einnehmen, von neuen moralischen und sozialen Gefahren und neuen Bedingungen sozialen und politischen Gedeihens umgeben sind ... Grosse politische, soziale, moralische und intellektuelle Veränderungen begleiten die Aenderungen in der ökonomischen Organisation der Gemeinwesen und in den Kräften und Mitteln, seien sie reichlich oder dürftig, mit denen die Aufgaben der Produktion ausgeführt werden. Diese Veränderungen üben notwendigerweise einen beherrschenden Einfluss auf die verschiedenen politischen und sozialen Elemente der Bevölkerung aus, in deren Schoss jene Aenderungen vor sich gehen. Dieser Einfluss erstreckt sich auf den intellektuellen Charakter, auf Gewohnheiten, Gebräuche, Sitten und das Glück der Nationen.“

Mit vollem Rechte sagt Kautsky, dass Karl Marx einsetzt, wo Richard Jones aufgehört hat.

* * *

Marx hat die Grundlagen seiner Mehrwertlehre von den Klassikern übernommen. Seine Aufgabe war zunächst, zu entfalten, was schon bei seinen Vorgängern im Keime enthalten war. Der Wert war bereits durch die Arbeit bestimmt. Ricardo hatte bereits gelegentlich diese Arbeit näher als die gesellschaftliche bestimmt und gesagt, die gesellschaftliche Arbeit sei das gemeinsame Mass der Waren, weil alle Waren Produkte gesellschaftlicher Arbeit seien. Marx hat diesen Gedanken ausgeführt, indem er die konkreten individuellen Arbeiten auf die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit als die wertbildende Substanz zurückgeführt hat.

Die Klassiker fassen den Arbeitslohn als den Geldausdruck des „Wertes der Arbeit“ auf. Wenn aber aufgespeicherte gegen unmittelbare Arbeit ausgetauscht wird, wie kann es dann geschehen, dass nicht gleiche Quanten Arbeit ausgetauscht werden ? Wie ist dann der Mehrwert möglich? Die Schüler Ricardos sind unfähig, das Problem zu lösen. James Mill gibt die Werttheorie auf, indem er den „Wert der Arbeit“ nur durch Angebot und Nachfrage zu bestimmen weiss; Bailey weist auf das Problem hin, Mac Culloch weiss sich nur mit Phrasen über die Schwierigkeit hinüberzuhelfen. Marx löst das Problem, indem er an die Stelle des „Wertes der Arbeit“ den Wert der Arbeitskraft setzt.

Damit ist die Mehrwerttheorie abgeschlossen. Schon die Klassiker hatten Profit und Rente auf die Arbeit zurückgeführt. Der Verfasser des Pamphlets von 1821 hatte beide bereits unter dem Begriff des „Kapitalzinses“ zusammengefasst. Marx begreift sie nun als Formen des Mehrwertes. Jetzt aber war erst die wichtigste und schwierigste Aufgabe zu lösen: Marx musste zeigen, wie sich aus dem Mehrwert die konkreten empirischen Formen des Profits und der Rente ableiten lassen.

Die Tendenz zur Ausgleichung der Profitraten war schon Turgot bekannt. Adam Smith stellt sie ganz unvermittelt neben das Wertgesetz hin. Ricardo wirft zuerst die Frage auf, wie Gleichheit der Profitraten verschiedener Kapitalien, die verschiedene Mengen Arbeit in Bewegung setzen, mit dem Gesetz vereinbar sei, dass nur die Arbeit den Wert bestimmt, den Mehrwert erzeugt. Doch fasst Ricardo das Problem noch nicht allgemein; er untersucht nur zwei besondere Fälle. An ihnen zeigt er bereits das Abweichen des Preises vom Wert. Er meint, Veränderungen des Arbeitslohnes und Verschiedenheiten der Umlaufszeit bewirkten „Ausnahmen“ vom Wertgesetz. James Mill fügt diesen „Ausnahmen“ andere hinzu. Die Ausnahme erscheint bald als Regel. Malthus spielt diese Schwierigkeit gegen Ricardos Wertlehre aus. Bailey wird durch sie verleitet, den Begriff eines „absoluten“ Wertes preiszugeben. Torrens sucht sich zu helfen, indem er annimmt, dass nicht nur unmittelbare, sondern auch akkumulierte Arbeit wertbildende Kraft habe. Mac Culloch setzt die „Aktionen“ der Produktionsmittel der menschlichen Arbeit gleich. Damit ist die Wertlehre überhaupt aufgegeben, die den Wert als ein dinglich ausgedrücktes Verhältnis der produktiven Tätigkeiten der Menschen zueinander auffasst. Das Problem, an dem die Klassiker gescheitert sind, findet seine Lösung bei Marx. Er löst es, indem er den Produktionspreis vom Wert scheidet, den gesellschaftlichen Mehrwert, durch die Differenz des Wertproduktes der gesellschaftlichen Arbeit und des Wertes der Gesamtarbeitskraft bestimmt, als den Fonds auffasst, der nach dem die Preisbildung beherrschenden Gesetz der Durchschnittsprofitrate auf die einzelnen Kapitalien verteilt wird. Nicht in der Entdeckung des Mehrwerts, sondern in dem Nachweis, wie die scheinbar dem Wertgesetz widerstreitenden Erscheinungen des Profits nur als Quoten des Mehrwerts begriffen werden können, sah Marx seine neue selbständige Leistung; damit war ja erst das Problem wirklich gelöst, das schon die Physiokraten gestellt hatten, das Problem, alle durch die Zirkulation vermittelten Einkommen auf das Nettoprodukt der gesellschaftlichen Arbeit zurückzuführen. Dieses historischen Zusammenhanges muss man sich erinnern, um die ganze Albernheit der landläufigen Marx-Kritik zu erkennen. Worin Marx’ eigenste Leistung liegt, in der Unterscheidung des Produktionspreises vom Wert, des Profits vom Mehrwert, darin sieht sie ein Auskunftsmittel der Verlegenheit. Und da sie unfähig ist, die Lösung des Mehrwertproblems in der Produktion zu finden, kehrt sie mit der Grenznutzenlehre wieder in die Zirkulation zurück und verkündet den alten „profit upon alienation“ unter neuem Namen als neue Entdeckung.

Mit der Scheidung der Produktionspreise vom Wert waren aber auch der Lehre von der Grundrente neue Bahnen gewiesen. Die Physiokraten hatten die Rente als den Ueberschuss des Bodenertrages über das Nahrungsbedürfnis der Bodenbebauer aufgefasst. Aber schon Petty und Locke leiteten die Rente nicht mehr aus dem Boden ab, sondern aus der Arbeit. Die Rente erscheint jetzt als der Ueberschuss des Preises der Bodenprodukte über ihren Wert. Von Anderson entwickelt, wird sie von West und Malthus übernommen, von diesem zur Bevölkerungstheorie, von Ricardo zur Arbeitswertlehre in systematische Beziehung gesetzt. Das theoretische Interesse Ricardos an der Rententheorie bestand darin, zu beweisen, dass die Rente dem Wertgesetz nicht widerspricht; da bei ihm Preis und Wert zusammenfällt, kann er die Rente nur als Differenzialrente einführen, als den Ueberschuss des Marktwertes über den individuellen Wert. Indem Marx die Produktionspreise von den Werten unterscheidet, gewinnt er Raum für die absolute Rente; sie erscheint nun gerade dort, wo die Bodenfrüchte zu ihrem Wert verkauft werden, als die Differenz des Wertes und des Produktionspreises. Die Differentialrenten erscheinen nur noch als verschiedene Grössen der absoluten Rente. Das theoretische Interesse Marx’ an der absoluten Rente ist aus diesem historischen Zusammenhang zu begreifen. Trotzdem scheint mir gerade dies der sterbliche Teil in Marxens Lehre. Auf die Frage, ob der Preis des Getreides nicht auch über seinen Wert steigen oder unter ihn fallen kann — eine Frage, die Marx selbst aufwirft (Theorien, II., 2, Seite 111) — gibt die umständliche Darstellung der Theorien ebensowenig eine vollständig befriedigende Antwort wie die kürzere des Kapital. Es scheint mir, dass Marx hier selbst in den von ihm eben überwundenen Irrtum zurückfällt, Preis und Wert in unmittelbare, nicht in vermittelte Beziehung zu setzen. Wäre der Marx-Kritik nicht um politische Wirkung, sondern um theoretische Erkenntnis zu tun, dann würde sie hier, an der schwächsten Stelle des Marxschen Systems einsetzen.

Marx’ Theorie der Produktionspreise beruht auf der Erkenntnis der Verschiedenheit der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Der aus der Zirkulationssphäre stammenden Unterscheidung des fixen vom zirkulierenden Kapital, die die Physiokraten den Klassikern übermittelt hatten, stellt Marx die im Wertbildungsprozess selbst begründete Unterscheidung des konstanten vom variablen Kapital gegenüber. In dem Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals findet die Entwicklung der Produktivkräfte ihren spezifisch ökonomischen Ausdruck. Damit geht die Theorie von dem alten statischen Problem der Wertverteilung zur Aufsuchung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft über. Die schon von den Aelteren gestellten Probleme der Akkumulation und der Profitrate gewinnen nun neue Gestalt.

Smith glaubte, dass sich der Wert restlos in die Revenuen der Arbeiter, Kapitalisten und Grundbesitzer auflöse. Er stellte daher die Akkumulation des Kapitals der Beschäftigung einer wachsenden Zahl produktiver Arbeiter gleich und nahm an, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften in demselben Masse wachse wie das Kapital. Die Entwicklung des Fabrikssystems erzeugte nun trotz der schnellen Akkumulation die industrielle Reservearmee. Malthus glaubte dies daraus erklären zu können, dass die Akkumulation des Kapitals nicht so schnell vor sich gehe wie das Wachstum der Bevölkerung. Barton hat zuerst darauf hingewiesen, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht mit der Akkumulation des Kapitals überhaupt, sondern nur mit dem Wachstum des zirkulierenden Kapitals steige. Damit war bereits die Bedeutung der Zusammensetzung des Kapitals entdeckt, Smith und mit ihm Malthus überwunden. Ricardo übernimmt die Lehre Bartons. Endlich schränkt Ramsay den Begriff des zirkulierenden Kapitals auf das Lohnkapital ein und entdeckt damit bereits die richtige Bestimmung der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Doch bleibt auch bei Barton, Ricardo, Ramsay noch ein Missverständnis. Sie glauben nämlich, das zirkulierende Kapital bilde einen kleineren Teil des Gesamtkapitals, die Arbeit, die zur Erzeugung der notwendigen Lebensmittel verwendet wird, einen kleineren Teil der Gesamtarbeit bilde — als ob die Lebensmittel, wenn sie nur in genügender Menge erzeugt würden, den Weg zu den durch die Maschine freigesetzten Arbeitern finden müssten. Sie fassen als Ursache veränderter organischer Zusammensetzung des Kapitals auf, was in Wirklichkeit ihre Wirkung ist. Darin liegt ein Rückfall in das Grobstoffliche, Physiokratische, eine Verwechslung der besonderen Gesetze kapitalistischer Produktion mit den allgemeinen Gesetzen der Produktion überhaupt, ein Rest der Anschauung Malthus’, die das Elend der Arbeiterklasse darauf zurückführt, dass die Produktion nicht imstande sei, die wachsende Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Derselbe Irrtum bei Cherbuliez. Dagegen weist schon das Pamphlet von 1821 darauf hin, dass der auswärtige Handel stets erlaubt, notwendige Lebensmittel in Luxusgüter und Elemente des konstanten Kapitals zu verwandeln. Das Einkommen der Arbeiterklasse hängt nicht von der Masse der Lebensmittel ab, die in variables Kapital verwandelt werden können, sondern von jener Masse, die tatsächlich in variables Kapital verwandelt werden. Der Irrtum wird systematisch überwunden durch Marx’ Darstellung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Er widerlegt zunächst Smith’ Irrtum, dass der Wert in die Revenuen aufgelöst werden könne. Damit ist die Gleichstellung der Akkumulation mit dem Wachstum der Beschäftigung der produktiven Arbeiter aufgehoben. Kapital kann nicht nur gegen Revenuen, sondern auch gegen Kapital ausgetauscht werden. Die Revenue der Arbeiter wächst nicht mit der Kapitalsakkumulation überhaupt, sondern nur mit dem variablen Kapital. Die Verteilung der Arbeit auf die Produktionszweige passt sich dem Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital und dieses zum Mehrwert an; die Anpassung ist vollzogen, wenn das konstante Kapital und der akkumulierte Teil des Mehrwerts der Konsumtionsgüterindustrien umgesetzt werden gegen das variable Kapital und den konsumierten Teil des Mehrwerts der Produktionsmittelindustrien. Diese Anpassung kann sich allerdings immer nur als das Ergebnis von Störungen und Krisen vollziehen. Das Problem findet so seine Lösung in einem neuen Tableau economique.

Mit dieser Lehre hängt die Theorie der Profitrate zusammen. Schon Smith hat beobachtet, dass die Profitrate sinkt; er freut sich dessen und hält es für eine Triebkraft des wirtschaftlichen Fortschritts. Seinen Nachfolgern aber erscheint das Sinken der Profitrate schon als ein Verhängnis, das die kapitalistische Gesellschaft bedroht. Da Ricardo den Profit dem Mehrwert gleich setzt, kann er das Sinken der Profitrate nur aus dem Sinken der Mehrwertrate erklären; er meint, die Mehrwertrate müsse sinken, weil die wachsenden Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung den Wert der Arbeitskraft erhöhen. So berührt sich auch diese Lehre wieder mit der Bevölkerungstheorie. John Stuart Mill sucht Ricardos Ansicht umständlich zu beweisen. Je deutlicher sich aber zeigt, dass die Profitrate gerade mit der Entfaltung der Produktivkräfte sinkt, desto näher kommen die Späteren der richtigen Lösung. Das Pamphlet von 1821 und Hodgskin leiten bereits das Sinken der Profitrate aus der Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals ab, freilich noch nicht allgemein, sondern an einem besonderen Falle: das Kapital wachse schneller als die Arbeiterschaft, so dass gleiche Mengen lebendiger Arbeit immer grösserer Kapitalsmasse gegenüberstehen; damit die Rate des „Kapitalszinses“ unverändert bleibe, müsste die Mehrarbeit immer mehr auf Kosten der notwendigen Arbeit ausgedehnt werden; sobald dies nicht mehr möglich, beginnt die Rate zu sinken. Noch näher kommt Ramsay der allgemeinen Lösung, indem er die Profitrate nicht nur durch die Mehrwertrate, sondern auch durch den Umfang des konstanten Kapitals bestimmt und ihr Sinken daraus ableitet, dass der Teil des Wertproduktes wächst, „der zurückgelegt werden muss, um das fixe Kapital zu ersetzen“. Marx schliesst die Reihe ab. Die gegen Smith entwickelte Erkenntnis, dass Kapital nicht nur gegen Revenuen, sondern auch gegen Kapital eingetauscht werde, erklärt, dass die Revenuen langsamer wachsen können als das Kapital, dass also bei gleicher Mehrwertrate, gleicher Verteilung der Revenuen, die Profitrate sinkt, wenn das konstante Kapital schneller wächst als das variable.

So finden die Probleme, die die klassische Oekonomie aufgeworfen hat, in Marx’ entwickeltem System ihre Lösung. Das Werkzeug, dessen Marx sich zu ihrer Bewältigung bedient, ist die Erkenntnis der Gegensätzlichkeit des konstanten und des variablen Kapitals, deren mathematisch ausgedrücktes Verhältnis die Entwicklung der Produktivkräfte ökonomisch widerspiegelt. So entdeckt die Oekonomie, wie sich unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit den Produktivkräften die Gegensätze und Widersprüche entwickeln, die das Kapitalverhältnis selbst aufheben und an seine Stelle andere Produktionsverhältnisse setzen müssen. Die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise schlägt um in ihre Kritik. Indem die bürgerliche Oekonomie in Marx’ System die Lösung ihrer Probleme findet, hört sie auf, bürgerliche Oekonomie zu sein und wird sozialistische Oekonomie.

 


Leztztes Update: 6. April 2024