Otto Bauer

Kopenhagen

(1. September 1910)


Der Kampf, Jg.3 12. Heft, 1. September 1910. S. 529–536.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Am 28. August wird in Kopenhagen der achte internationale Sozialistenkongress eröffnet werden. Die Vertreter aller sozialdemokratischen Parteien der Erde, die Vertrauensmänner aller Gewerkschaften wird die Hauptstadt Dänemarks zu ernster, verantwortungsvoller Arbeit vereinen.

Seinen Vorgängern gleich, wird auch dieser Kongress eine machtvolle Kundgebung sein: ein Zeugnis, dass die Proletarier aller Länder in unlösbarer Kampfgemeinschaft treu zusammenstehen, eine wuchtige Anklage gegen den internationalen Kapitalismus, dessen Druck auf allen Völkern lastet, eine zukunftsfrohe Bürgschaft der Siege, denen wir entgegengehen.

Die grossen Sorgen der Arbeiterklasse wird der Kongress erörtern. Die Frage der Arbeitslosigkeit steht auf seiner Tagesordnung. Wiederum wird der Kongress die furchtbare Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaft erheben, die zwischen Prosperität und Depression, zwischen Ueberfülle und furchtbarster Not, zwischen Ueberarbeit und Arbeitslosigkeit hilflos hin und her schwankt. Er wird die Mittel erörtern, die die Gewerkschaften, die Gemeinden, die Staaten angewendet haben und anwenden sollen, die Arbeitslosigkeit einzudämmen und das Elend der Arbeitslosen zu mildern. Er wird aber auch feststellen, dass nur die Befreiung der gesellschaftlichen Produktivkräfte von den Fesseln des kapitalistischen Privateigentums mit der Lohnarbeit auch die Arbeitslosigkeit aufzuheben vermag – die Arbeitslosigkeit der wenigen, die ihr Eigentum von der Last der Arbeit befreit, und die Arbeitslosigkeit der vielen, denen das Eigentum der anderen den Segen der Arbeit vorenthält.

Der Kongress wird die Entwicklung der internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung erörtern. Er wird feststellen, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus der Widerstand der Kapitalistenklasse gegen den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung erstarkt; er wird seine Anklage erheben gegen die armselige Dürftigkeit der Ergebnisse der internationalen Vereinbarungen über den Arbeiterschutz; er wird Verwahrung einlegen dagegen, dass der Wunsch nach internationalen Vereinbarungen von den Kapitalisten der höher entwickelten Staaten dazu missbraucht wird, die Forderungen der von ihnen ausgebeuteten Arbeiter abzulehnen und sie auf den Tag zu vertrösten, an dem die Diplomaten und Bureaukraten aller Länder irgend ein Konventiönchen über eine Einzelfrage der Arbeiterschutzgesetzgebung abschliessen. Der Kongress wird aber auch, so hoffen wir, der internationalen Aktion für den Ausbau der nationalen Arbeiterschutzgesetzgebung in jedem Staate neuen Anstoss geben. Eben jetzt stehen in vielen Ländern Europas dieselben Fragen auf der Tagesordnung: die Fragen der Verkürzung des gesetzlichen Höchstarbeitstages in allen, der sofortigen Einführung des Achtstundentages in den kontinuierlichen Betrieben. Jeder Sieg, den die Arbeiterklasse eines Landes auf diesem Kampfboden erringt, bahnt den Proletariern der anderen Länder den Weg zum Siege. Beschliesst der Kongress, den Arbeitern der Staaten, in denen diese Fragen heute der Gegenstand der Erörterung sind, ein sozialpolitisches Aktionsprogramm für die nächste Zeit zu geben, so wird er dem Kampf um die Eroberung des Achtstundentages neuen Anstoss, der Kundgebung des 1. Mai neuen Inhalt geben.

Mit der kapitalistischen Ausbeutung ist die politische Unterdrückung eng verbunden. Eine gewaltige Kundgebung für die Demokratisierung der Welt wird der Kongress sein. Wiederum wird er alle Kulturvölker der Erde zum Kampfe gegen den Zarismus, den Erb- und Todfeind der Demokratie, rufen, der die Völker des russischen Riesenreiches mit Blut und Eisen in Fesseln schlägt. Die Kundgebung gegen die Todesstrafe wird eine Kundgebung gegen die blutbefleckte russische Gegenrevolution sein.

Aber unsere Kongresse sind keine Stätten blosser Demonstrationen. Sie werden nicht einberufen, um mit tönendem Pathos die inneren Schwierigkeiten zu verdecken, die den Vormarsch des grossen Heeres hemmen, das längst Deutsche, Vlamen, Holländer, Dänen, Schweden, Norweger, Angelsachsen dreier Erdteile, Franzosen, Italiener, Spanier, Rumänen, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen, Südslawen, Armenier, Letten, Finnen, Magyaren umfasst und dem sich immer neue Heerkörper aus neuen Ländern, neuen Erdteilen angliedern. Ernste Parlamente der Arbeit, müssen sie gerade die strittigen Fragen erörtern, gerade den Schwierigkeiten, den inneren Widerständen des grossen gemeinsamen Befreiungskampfes die grösste Aufmerksamkeit schenken.

Die Internationale wird auch auf diesem Kongresse zunächst ihr eigenes Haus bestellen. Sie wird die Mittel und Methoden der Durchführung der Beschlüsse der internationalen Kongresse erörtern. Es wird wohl vor allem besprochen werden müssen, wie internationale Kundgebungen den besonderen Bedingungen jedes einzelnen Landes am zweckmässigsten angepasst werden können. Noch wichtiger scheint uns die Organisation der internationalen Solidarität. Der Kapitalismus zwingt die Arbeiterklasse zu immer gewaltigeren Massenkämpfen, die Zeit der isolierten Einzelkämpfe in jeder einzelnen Werkstätte ist vorüber. Der schwedische Massenstreik, die grosse Aussperrung der deutschen Bauleute zeigen uns die Zukunft der proletarischen Kämpfe. Hier muss sich die internationale Solidarität bewähren. Das leuchtende Beispiel opferfreudiger Solidarität, das vor allen die Arbeiterklasse Deutschlands der Internationale gegeben hat, hat leider nicht immer und nicht überall Nachahmung gefunden. Insbesondere die reichen englischen Gewerkschaften haben ihre Mitkämpfer in anderen Ländern nicht immer nach ihren Kräften unterstützt. Der Kongress muss daher die gegenseitige Hilfe im gemeinsamen Kampfe so organisieren, dass jeder Zweig der grossen Internationale stets seine Pflicht erfülle.

Neben diesen Problemen der inneren Organisation der Internationale wird der Kongress auch einige Fragen erörtern, die bisher von den Arbeiterparteien, aus denen sich die Internationale zusammensetzt, in verschiedenem Sinne beantwortet worden sind. So wird das Verhältnis zwischen den Genossenschaften und den politischen Parteien ein Gegenstand seiner Beratungen sein. In Belgien und in Oesterreich sind die Genossenschaften der Arbeiterpartei eng verbunden. In England, wo die Genossenschaftsbewegung viel älter ist als die Arbeiterpartei, verknüpft sie nur ein sehr loses Band. Im Deutschen Reiche sind die führenden Männer der Genossenschaftsbewegung Anhänger vollständiger politischer Neutralität, während anderseits viele Parteigenossen den Genossenschaften kühl, nicht ohne Misstrauen gegenüberstehen. Soll der Kongress den Versuch unternehmen, allgemeine Regeln für die Beziehungen der Partei zu den Genossenschaften festzustellen, so wird er die historischen und gesetzlichen Verschiedenheiten in den Daseinsbedingungen der Genossenschaften nicht ausser acht lassen dürfen.

Der Kongress wird zunächst die Genossenschaften der Unternehmer aus seiner Erörterung ausscheiden müssen: die Produzenten-, Einkaufs- und Verkaufsgenossenschäften der kleinen gewerblichen Unternehmer und der Landwirte, deren Interessen denen der Arbeiterklasse oft entgegengesetzt sind, kommen nicht in Frage. Die Erörterung muss sich auf die proletarischen Genossenschaften beschränken, unter denen die Konsumvereine, die Produktivgenossenschaften und die Pachtgenossenschaften landwirtschaftlicher Arbeiter die wichtigsten sind. Die Aussichten der Produktivgenossenschaften sind nicht zu hoch zu werten: zu je höherer organischer Zusammensetzung das Kapital fortschreitet, je mehr Sachkapital also auf gleiche Mengen Lohnkapital entfällt, desto schwerer ist es möglich, dass Genossenschaften der Arbeiter das Eigentum der Betriebe erwerben, in denen die Arbeiter beschäftigt sind. Anders die Konsumvereine. Für sie streitet die ganze ökonomische Entwicklung.

Die Entwicklung des Kapitalismus treibt zur Ausschaltung des Zwischenhandels. Die Kartelle und Trusts schalten die Händler aus oder sie verwandeln die Händler in ihre Agenten – das Ziel des Petroleumtrusts: „Vom Rohölschacht bis zur Lampe in einer Hand!“ ist das Ideal aller monopolistischen Organisationen des Kapitals. Denselben Weg haben die Genossenschaften der Landwirte betreten: die Lagerhausgenossenschaften, die Viehverwertungsgenossenschaften, die Milch-, Eier-, Butterverwertungsgenossenschaften treten an die Stelle der Händler. Auf der anderen Seite verdrängen die Konsumentenorganisationen den Detailhandel, ihre Grosseinkaufsgesellschaften auch den Grosshandel. Die Tage des Zwischenhandels sind gezählt. Mächtige Organisationen der Produzenten und der Konsumenten treten einander gegenüber. Ihre Interessen sind einander entgegengesetzt. Hat die Entwicklung der Warenproduktion, die Verwandlung der Gebrauchswerte in Waren den Gegensatz zwischen Erzeugern und Verbrauchern erzeugt, so tritt dieser Gegensatz nun im Preiskampfe der organisierten Produzenten und Konsumenten gegeneinander in Erscheinung.

Dieselbe Entwicklung vermehrt aber auch das Proletariat. Die Arbeiter bilden die Mehrheit der organisierten Konsumenten. Sie allein stehen allen Produzentenorganisationen feindlich gegenüber, während alle besitzenden Klassen an den Kartellen und Trusts, den Genossenschaften der Landwirte und den Preisverabredungen der kleinen gewerblichen Unternehmer ein stärkeres Interesse haben als an den Organisationen der Konsumenten. Sobald der Zwischenhandel verdrängt ist und Produzenten- und Konsumentenorganisationen einander feindlich gegenübertreten, scharen sich daher alle Unternehmerklassen um jene, die Arbeiter um diese. Je weiter die Entwicklung fortschreitet, je mächtiger die Kartelle und die landwirtschaftlichen Genossenschaften auf der einen, die Konsumvereine auf der anderen Seite werden, desto schärfer wird sich also der proletarische Charakter der Konsumentenorganisation ausprägen.

Diese Entwicklung lässt es als wünschenswert erscheinen, dass Partei und Genossenschaft möglichst eng miteinander verknüpft werden, wo immer die gesetzlichen Daseinsbedingungen der Genossenschaften dies gestatten. Die erstarkenden Konsumvereine werden der Partei, die erstarkende Partei wird den Genossenschaften eine starke Stütze sein. Doch könnte den Konsumvereinen nichts mehr schaden als ihre Ueberschätzung. innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft bleiben natürlich auch die Konsumvereine den Gesetzen des Kapitalismus unterworfen; so nützlich sie sind, so bleibt doch ihr Nutzen sowohl für die organisierten Konsumenten als auch für die in den genossenschaftlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter durch die unerbittlichen Gesetze des Kapitalismus begrenzt. Die „Aushöhlung“ des Kapitalismus durch die Konsumentenorganisation ist ebenso eine Utopie wie das friedliche Zusammenwirken der Konsumvereine mit den Unternehmerorganisationen, mit den landwirtschaftlichen Genossenschaften ebenso wie mit den Kartellen und Trusts. Die Entwicklung treibt vielmehr zu gewaltigen Machtkämpfen zwischen Konsumenten- und Produzentenorganisationen, die nur mit der Enteignung der organisierten Produzenten durch den von der Arbeiterklasse eroberten Staat enden können, mit der Verwandlung der ganzen Gesellschaft in eine einzige ungeheure Konsumenten- und Produzentenorganisation.

Für uns Oesterreicher ist die Frage, wie das Verhältnis der Genossenschaften zur Partei gestaltet werden soll, längst gelöst. Wir glauben, dass in einer Zeit, in der die Lebensmittelteuerung alle Klassengegensätze und alle wirtschaftspolitischen Kämpfe verschärft, die engste Verbindung der Partei mit den Genossenschaften notwendig ist. Die separatistische Aktion in der Genossenschaftsbewegung zwingt uns aber dazu, uns gegen falsche Schlüsse aus diesem Grundsatz zu schützen: es geht nicht an, dass die Partei den Genossenschaften Organisationsformen aufzwingt, die ihr, aber nicht ihnen angemessen sind. Wir erwarten, dass der Kongress aussprechen wird, dass auch dort, wo die Arbeiterpartei sich in nationale Teile gliedert, die internationale Einheit der wirtschaftlichen Organisation erhalten bleiben soll.

Handelt es sich hier um das Verhältnis proletarischer Organisationen zueinander, so greift eine andere Streitfrage, die der Kongress erörtern wird, in das weite Feld der internationalen Politik. Wenn der Kongress über Schiedsgericht und Abrüstung sprechen wird, so werden einander sehr verschiedene Ansichten gegenüber-stehen: die französischen Hervéisten, die alle Friedensbürgschaften der internationalen Verträge und Schiedsgerichte verschmähen und nur auf den Generalstreik und die Dienstverweigerung der Soldaten ihre Hoffnung setzen; die französischen Reformisten mit Jaurès an der Spitze, die durch den Ausbau der Staatsverträge den Weltfrieden sichern zu können glauben; der englische Genosse Hyndmann, der die Kriegsrüstungen Englands für notwendig hält, da heute das Deutsche Reich der gefährlichste Feind der europäischen Demokratie sei, und die englische Arbeiterpartei, die diese Rüstungen ebenso energisch bekämpft wie die deutsche Sozialdemokratie; die Revolutionäre Fraktion der Polnischen Sozialistischen Partei, die einen Weltkrieg herbeiwünscht, der die Befreiung Polens herbeiführen könnte – etwa im Geiste der englischen Chartisten, die am Anfang des Krimkrieges die Friedensdemonstrationen der Freihändler mit dem Rufe sprengten: „Der Friede ist ein Verbrechen, ehe die Freiheit errungen ist.“ Auch unser Verhältnis zur bürgerlichen Friedensbewegung muss erörtert werden. Die Genossen der romanischen Länder beteiligen sich an dieser Bewegung, während die deutsche Sozialdemokratie im Reiche wie in Oesterreich sich von ihr fernhält.

Die Entwicklung des Kapitalismus führt zur Ausdehnung der Weltwirtschaft, zu immer engerer Verknüpfung aller Wirtschaftsgebiete. Die Notwendigkeiten des internationalen Verkehrs erzeugen das Völkerrecht, ein schnell wachsendes System internationaler Verträge, Bureaux, Aemter, Schiedsgerichte. Anderseits verschärfen die Kämpfe der Kapitalisten um Absatzmärkte und Anlagesphären die Gegensätze der Völker; die Nationen wappnen sich gegeneinander; die technische Entwicklung selbst macht den Militarismus und Marinismus zu einer drückenden Last für alle Staaten. Notwendig entstehen daher überall Bestrebungen, die Rüstungen einzuschränken, die Kriegsgefahr durch den Ausbau des Völkerrechtes zu verringern, durch die Entscheidung internationaler Schiedsgerichte das blutige Urteil des Krieges zu ersetzen. Es ist gewiss unsere Pflicht, diese Bestrebungen zu unterstützen. Mit Recht fordern die englische Arbeiterpartei und die deutsche Sozialdemokratie ein Uebereinkommen, das dem Wettrüsten, insbesondere dem Bau der Dreadnoughts eine Schranke setzen soll. Der Kongress wird diese Bemühungen gewiss billigen – Hyndmann und Leuthner werden nicht die Zustimmung des Kongresses finden. Auch hier erschliesst sich uns ein Feld fruchtbarer Wirksamkeit; so hätten die österreichische und die italienische Partei wohl die Pflicht, sich zu einer ähnlichen gemeinsamen Aktion zu vereinigen. Aber der Kongress wird auch die Grenze feststellen, die allen solchen Bemühungen gesetzt ist, und uns dadurch von allen bürgerlichen Friedensschwärmern scharf scheiden: Solange der Kapitalismus immer wieder Gegensätze zwischen den Völkern erzeugt, solange die ganze Staatsgewalt in den Dienst der kapitalistischen Konkurrenzkämpfe gestellt wird, solange im ganzen Osten Europas ganze grosse Nationen ihre Einheit und Freiheit noch nicht errungen haben, solange Hunderte Millionen Menschen in fremden Erdteilen der europäischen Kapitalistenklasse unterworfen sind und die kapitalistischen Weltmächte nach immer neuen Eroberungen gieren, ist der Friede eine Utopie. Nur die Freiheit bringt uns den Frieden, nur die soziale Revolution die Abrüstung.

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Aber auf die Erörterung der Gegenstände, die das internationale Bureau auf die Tagesordnung des Kongresses gestellt hat, beschränkt sich seine Aufgabe nicht. Die Stärke der Bande, die die Proletarier aller Länder verknüpfen, das Vertrauen, das die Arbeiter aller Nationen der Internationale entgegenbringen, erweisen sich gerade darin, dass alle die Hilfe der Internationale anrufen, wenn im eigenen Lande innere Schwierigkeiten ihren Vormarsch hemmen, alle die Entscheidung der Internationale heischen, wenn innere Streitigkeiten ihre Kampfreihen spalten.

Gegensätze verschiedenen Ursprungs und Wesens birgt die Internationale in ihrem Schosse. Zwei Grundauffassungen des Sozialismus stehen einander überall gegenüber: die eine hofft, die Arbeiterklasse auf allmählich ansteigendem Wege, von Reform zu Reform fortschreitend, zur Macht führen zu können; die andere erkennt, dass der Kapitalismus allen Bemühungen der Arbeiterklasse, in seinem Rahmen ihre Lebenshaltung zu verbessern, eine Schranke setzt, die nur in einer revolutionären Periode gewaltiger Umwälzungen niedergerissen werden kann. So scheidet der Gegensatz zwischen dem Marxismus und dem Revisionismus alle sozialdemokratischen Parteien der Erde. Auch wir haben unsere „Radikalen“ und unsere Revisionisten: in unserer deutschen Partei unsere Hueber, Beer, Winarsky, Strasser, die Wiener Marxisten auf der einen, die Pernerstorfer und Leuthner auf der anderen Seite. Nicht anders die Tschechen. Sie haben zwar, von dem jungen Burian abgesehen, noch kaum einen in der theoretischen Arbeit wurzelnden Marxisten, wohl aber nicht wenige „Radikale“; sie haben aber auch ebenso wir wir ihre Revisionisten: die Hudec, Modráček, Tomášek. Indessen sind diese Gegensätze in der österreichischen Partei noch latent: da die Voraussetzungen einer ernsten opportunistischen Politik, die im Bunde mit einem Teil der Bourgeoisie der Arbeiterklasse innerhalb des Klassenstaates einen Anteil an der Regierungsgewalt sichern wollte, in Oesterreich nicht gegeben sind, kann sich hier die radikale wie die revisionistische Neigung in der Regel nicht anders als in den Sympathien mit dem einen oder dem anderen Flügel unserer Bruderparteien in anderen Staaten ausdrücken. [1]

Aber wenn unser Verhältnis zum Staate noch kein umstrittenes Problem unserer Taktik ist, so ist es um so mehr unser Verhältnis zu den nationalen Bourgeoisien. In den Nationalstaaten decken sich beide Probleme: Wer den Anteil an der Regierungsgewalt sucht, muss sich mit einem Teil der Bourgeoisie verbünden. Anders in Oesterreich. Hier steht die anationale Staatsgewalt – die Dynastie, der Generalstab, die Bureaukratie, die national geschlechtslosen Schichten des Grossgundbesitzes und des Grosskapitals – den nationalen Bourgeoisien gegenüber. Hier kämpfen die nationalen Bourgeoisien um den Einfluss auf den Staat, um den Anteil an der Staatsgewalt. Hier entsteht unser taktisches Problem: Sollen wir unsere Kräfte den gegen einander kämpfenden nationalen Bourgeoisien verbünden oder sollen wir einheitlich und geschlossen ihnen" allen gegenübertreten mit der revolutionären Losung der völligen Umgestaltung des Staatsgebäudes, in das wir eingezwängt sind? Sollen wir bald die eine, bald die andere der kämpfenden nationalen Bourgeoisien in ihren Einzelkämpfen unterstützen, heute im Bunde mit der tschechischen Bourgeoisie für die Subventionierung tschechischer Schulen in Wien, morgen an der Seite der deutschen Bourgeoisie für die Erhaltung deutscher Schulen in Prag, übermorgen vielleicht wieder für die Ernennung von drei tschechischbürgerlichen Ministern unsere ganze Kraft einsetzen oder sollen wir all den Kämpfen um nationale Einzelfragen die revolutionäre Forderung nach dem Ganzen, unser Programm der nationalen Selbstregierung gegenüberstellen?

Starke Argumente sprechen für jede der beiden Möglichkeiten.

Die nationalen Kämpfe in Oesterreich waren stets das furchtbarste Hindernis jedes sozialen und politischen Fortschritts. Sie haben 1848 der Gegenrevolution den Weg zum Siege gebahnt. Sie haben den Herrschenden stets die Macht gegeben, die durch den nationalen Gegensatz geschwächte Demokratie niederzuringen. Schmerling und Beicredi, Auersperg und Hohenwart, Taaffe und Windischgrätz, Badeni und Bienerth – diese Namen erinnern an die einzelnen Etappen der Politik der Herrschenden, bald die Deutschen, bald die Tschechen durch nationale Zugeständnisse zur Stütze ihrer Herrschaft zu machen. Soll auch die Arbeiterklasse Oesterreichs sich an den nationalen Kämpfen beteiligen, aus denen immer nur die soziale und politische Reaktion ihre Kraft schöpft ?

Anderseits aber: Von den Forderungen, die der Gegenstand des Kampfes sind, sind sehr viele berechtigt. Können Demokraten zur Seite stehen, wenn um die Gleichberechtigung der Nationen gekämpft wird? Kann eine Arbeiterpartei untätig bleiben, wenn Schulen für Proletarierkinder gefordert werden? Müssen wir nicht die nationalen Bourgeoisien unterstützen, die für nationale Rechte kämpfen, die auch den Arbeitern ihrer Nation zugute kommen werden?

Die einen sagen: Die heutigen Machtverhältnisse machen jede Aenderung des geltenden Nationalitätenrechtes schlechthin undenkbar; es wird erst im Rahmen einer völligen Umgestaltung des ganzen Staatsgebäudes geändert werden können. Wir vergeuden die Kraft der Arbeiterklasse, wenn wir uns an hoffnungslosen Kämpfen beteiligen. Die anderen antworten: Können wir die Arbeiter auf den fernen Tag vertrösten, an dem die nationale Selbstregierung verwirklicht werden wird?

Es sind sehr ernste Probleme der Taktik, die hier auftauchen. Man wird dem schweren Ernst dieser Probleme nicht gerecht, wenn man den redlichen Willen des Gegners verdächtigt, wenn man, statt seine sachlichen Argumente zu prüfen, die Festigkeit seiner Gesinnung bezweifelt, wenn man, was in der Grundauffassung der ganzen Entwicklung der sozialen und nationalen Kämpfe wurzelt, als opportunistische Nachgiebigkeit gegenüber den bürgerlichen Parteien hinstellt. Nein, es bestehen ernste Gegensätze über eine Reihe nationaler Fragen innerhalb der Sozialdemokratie – Gegensätze der Grundauffassung, die nicht mit einem Schlage beseitigt werden können. Hinter den Meinungsverschiedenheiten über Fragen der parlamentarischen Taktik bergen sich weit allgemeinere Probleme des Klassenkampfes.

Die grosse Periode der sozialen Revolution der Bourgeoisie, die Periode von 1789 bis 1870, war zugleich eine Periode nationaler Revolutionen: die Zeit der Einigung Deutschlands, der Befreiung Italiens, der Wiederherstellung des ungarischen Staates, der Trennung Belgiens von den Niederlanden, der drei Erhebungen Polens. Auch die herannahende Periode der sozialen Revolution des Proletariats wird nationale Revolutionen auslösen: Wenn das ganze Staatensystem des Kapitalismus im Innersten erschüttert wird, werden auch die ungelösten nationalen Probleme in Oesterreich, in Ungarn, im russischen Reiche, auf der Balkanhalbinsel, in den fremden Erdteilen, die die kapitalistischen Weltmächte ihrer Herrschaft unterworfen haben, nach ihrer Lösung drängen. Das Verhältnis der sozialen Revolution des Proletariats zu den nationalen Revolutionen, die sie begleiten und durchkreuzen werden, wird eines der grossen Probleme unserer Zukunft sein. Soll die Arbeiterklasse die Trägerin der nationalen Revolutionen sein? Oder soll das ganze internationale Proletariat einheitlich und geschlossen der ganzen alten Welt gegenübertreten und alle nationalen Revolutionen nur darnach bewerten und behandeln, ob sie den Befreiungskampf der ganzen Arbeiterklasse fördern oder hemmen – so folgerichtig, so mitleidslos bewerten und behandeln, wie Marx und Engels im Jahre 1848, 1859, während des Krimkrieges, während des Russisch-Türkischen Krieges die nationalen Revolutionen behandelt haben? In den kleinen, oft kleinlichen Streitigkeiten des Tages keimen die weltgeschichtlichen Probleme der Zukunft.

Noch ist die Internationale zur Lösung, ja selbst zur Erörterung dieser grossen Probleme nicht reif. Zwischen der russischen Sozialdemokratie und den Sozialisten-Revolutionären Russlands, zwischen der Sozialdemokratie des Königreiches Polen und der Polnischen Sozialistischen Partei bestehen vielleicht noch tiefer greifende Gegensätze über nationale Probleme als zwischen der deutschen und der tschechischen Sozialdemokratie in Oesterreich. Das Problem, ob wir selbst den Krieg wollen, wenn es gilt, der Nation die Einheit und Freiheit zu erobern, oder ob wir um des Friedens willen selbst den Kampf um das nationale Recht zurückstellen sollen – das Problem also, ob uns die Völkerfreiheit höher als der Völkerfrieden oder der Friede hoher als die Freiheit steht, drückt sich nicht nur im Gegensatz der deutschen und der tschechischen Sozialdemokratie aus (von denen heute jene für den nationalen Frieden, diese für nationale Gerechtigkeit kämpft), es ist vielmehr ein Grundproblem unserer ganzen internationalen Politik.

Es gibt französische Genossen, die die Eroberung Elsass-Lothringens durch die deutschen Heere für ein Unrecht an ihrer Nation halten. Sollen diese Genossen im Namen des nationalen Rechtes den Krieg gegen Deutschland fordern? Sollen sie erklären, vom Frieden zwischen der deutschen und der französischen Nation könne erst dann die Rede sein, wenn Elsass-Lothringen wieder französisch sein werde? Unsere französischen Genossen haben sich bekanntlich anders entschieden.

Unsere südslawischen Genossen leiden schwer darunter, dass die südslawischen Volksmassen drei fremden Staaten unterworfen und in drei machtlose nationale Zwergstaaten zersplittert ist. Sollen sie im Namen des nationalen Rechtes den Krieg gegen Oesterreich-Ungarn und die Türkei fordern? Oder sollen sie, wie dies unsere serbischen Genossen im Februar 1909 getan, die Erhaltung des Friedens fordern – des Friedens auch mit den Mächten, die grosse Teile der südslawischen Volksmasse ihrer Herrschaft unterworfen haben?

So wiederholt sich in weltgeschichtlichem Massstab der Gegensatz, der, im kleinen Format der parlamentarischen Kämpfe ausgedrückt, zwischen der Resolution Stanek und der Resolution Adler besteht. Wir können von dem Kongress in Kopenhagen nicht erwarten, dass er durch sein Urteil solchen Streit schlichte. Noch sind diese Probleme den Arbeitern aller Nationen zu fremd, zu neu, als dass sie über das Verhältnis der Nation zum Staate und der Arbeiterklasse zu beiden schon ihr Urteil sprechen könnten. Aber eines kann der Kongress tun: dem obersten Grundsatz der Internationale treu, der das gemeinsame Klasseninteresse über allen nationalen Sonderinteressen steht, kann er und wird er feststellen, dass Meinungsverschiedenheiten über nationale Einzelfragen die Einheit des wirtschaftlichen und des politischen Klassenkampfes nicht durchbrechen sollen. Das ist es, was nicht nur die deutschen Sozialdemokraten in Oesterreich, sondern auch die tschechischen, polnischen, italienischen, ruthenischen und slowenischen Angehörigen der internationalen gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen vom Kongress erwarten.

Im politischen Leben geniessen alle nationalen Glieder der österreichischen Internationale volle Autonomie: wo es nicht gelingt, volle Uebereinstimmung über eine nationale Einzelfrage herzustellen, entscheiden und handeln deutsche und tschechische, polnische und ruthenische, italienische und südslawische Sozialdemokraten selbständig nach ihrer Ueberzeugung. Aber die nationale Autonomie innerhalb der Arbeiterbewegung muss ihre Grenze finden im gemeinsamen Klasseninteresse: Wo deutsche und tschechische Arbeiter in einer Stadt, in einer Fabrik zusammen arbeiten, müssen sie auch in einer Gemeinsamen Gewerkschaft, in einer gemeinsamen Genossenschaft ihre wirtschaftlichen Interessen verfechten: die nationale Autonomie im Kulturleben findet an der internationalen Einheit im Wirtschaftsleben ihre Grenze. Die internationale Einheit unserer wirtschaftlichen Organisationen ist für uns nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Notwendigkeit: sie bildet das notwendige Gegengewicht gegen die nationale Autonomie in der Partei; sie setzt allen Tendenzen zur nationalen Zersplitterung der Arbeiterbewegung eine starre Schranke; sie verbürgt uns, dass das Bewusstsein der Einheit der Klasseninteressen in den Arbeitermassen lebendig bleibt, wenn auch nationale Meinungsverschiedenheiten uns zuweilen scheiden.

Solange die separatistische Aktion nur zu inneren Kämpfen innerhalb der Gewerkschaften und der Konsumvereine führte, konnte die innere Organisationsfrage kein Gegenstand internationaler Entscheidung sein. In den letzten Monaten aber hat sich das Bild völlig verändert. Die tschechische Sozialdemokratie hat für den Separatismus innerhalb der Gewerkschaften und der Genossenschaften Partei ergriffen. Sie schliesst die Anhänger der internationalen Organisationen aus ihren Reihen aus. Sie hat ganze Organisationen, die aus den Anhängern der internationalen Gewerkschaften zusammengesetzt waren, suspendiert. Sie hat aus nichtigem Anlass einen Feldzug gegen die deutsche Sozialdemokratie inszeniert, dessen Zweck es ist, Misstrauen gegen die deutschen Genossen in der tschechischen Arbeiterschaft zu verbreiten, damit sich die tschechischen Arbeiter von den gemeinsamen wirtschaftlichen Organisationen abwenden. Es besteht die ernste Gefahr, dass die tschechische Sozialdemokratie selbst in zwei feindliche Fraktionen gespalten und dass das Verhältnis der separatistischen Fraktion zur deutschen Sozialdemokratie gelöst wird. Eine solche Zersplitterung der österreichischen Sozialdemokratie wäre nicht nur eine schwere Schädigung der österreichischen Arbeiterschaft, nicht nur ein gefährliches Beispiel für andere Nationalitätenstaaten, sondern auch eine Niederlage des Gedankens der internationalen Solidarität selbst. In dieser Gefahr wenden wir uns an die Internationale. Sie wird das Grundprinzip ihres eigenen Daseins verfechten, wenn sie gegen die nationale Absonderung, für die internationale Einheit ihr Urteil spricht.

Der internationale Kongress wird unseren Streit nicht schlichten, unser grosses Problem nicht lösen: Kongressbeschlüsse können nicht entscheiden, wo Massen sich in schwerem Entwicklungsprozess nur allmählich zur Befreiung von überlieferten Vorurteilen, zur Erkenntnis ihrer eigenen Interessen emporringen müssen. Wohl aber kann der Kongress den Entwicklungsprozess erleichtern und beschleunigen. Um das Ergebnis dieser Entwicklung aber ist uns nicht bange. Die ganze Entwicklung unseres Wirtschaftslebens streitet für die Zentralisation aller wirtschaftlichen Kräfte. Ein Gebiet nach dem anderen wird dem industriellen Kapitalismus untertan; die Konzentration des Kapitals greift über alle Sprachgrenzen hinaus, sie vereinigt deutsche und tschechische, polnische und italienische Betriebe in denselben Unternehmungen, sie stellt sie unter das Kommando derselben Grossbanken, sie unterwirft die Arbeiter aller Nationen der Herrschaft desselben Finanzkapitals. Die Zeit der nationalen Zersplitterung ist vorbei. Nationaler Separatismus ist nur noch ein Anachronismus. Der internationalen einheitlichen Macht des Grosskapitals kann nur noch die geschlossene internationale Armee des Proletariats gegenübertreten.

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Anmerkung

1. Das Právo Lidu hat allerdings gelegentlich die lustige Geschichtsklitterung produziert, unsere inneren Kämpfe hätten darin ihre Wurzel, dass die „opportunistische“ Führung der deutschen Partei die „radikale“ tschechische Sozialdemokratie unterdrücken wolle. Nun, über den prinzipientreuen „Radikalismus“ unserer tschechischen Genossen wollen wir heute lieber nicht sprechen ; aber wie mag es wohl kommen, dass nicht etwa unsere Revisionisten, sondern gerade unsere Radikalen Tag für Tag im Kampfe gegen die Separatisten stehen und am heftigsten von ihnen befehdet werden ? Sind etwa auch Hueber, Strasser, Braun und ich Opportunisten? Und sollen wir, um den einzig wahren Radikalismus endlich zu erlernen, zu Hudec und Modráček in die Schule gehen?

 


Leztztes Update: 6. April 2024