Otto Bauer

Krieg oder Friede?

(1. Oktober 1910)


Der Kampf, Jg. 4 1. Heft, 1. Oktober 1910, S. 7–14.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Aussprechen, was ist – kein Geringerer als Lassalle hat uns diese erste Regel jeder politischen Erörterung gelehrt. Es ist zwecklos, die realen Machtverhältnisse zu verdecken. Es ist verderblich, die Kraft des Gegners zu klein zu zeichnen. Verkleidung gilt auf dem Markte der Geschichte nicht. Wer wirken will, muss aussprechen, was ist.

Darum dürfen und wollen wir nicht verschweigen, dass der gefährlichste unserer Gegner kühner und trotziger denn je sein Haupt erhebt. Der Nationalismus ist auf dem Marsche. Wer es nicht früher erkannt hat, den mag die Nachwahl in Gablonz-Land sein Erstarken erkennen lehren. Wir können der drohenden Gefahr nicht begegnen, wenn wir nicht aussprechen, was ist.

Die Tatsache, die der ganzen Entwicklung unseres öffentlichen Lebens in den letzten Jahren ihr Gepräge aufgedrückt, ist die Verschärfung der Klassengegensätze. Das Erstarken unserer Gewerkschaften und Genossenschaften hat Fabrikanten, Handwerksmeister, Kleinhändler gegen die Arbeiterklasse vereinigt. Die Landflucht und der Kampf gegen die Lebensmittelteuerung haben die Bauern gegen uns mobilisiert. Die wirtschaftlichen Organisationen der besitzenden Klassen – Unternehmerverbände, Gewerbegenossenschaften, landwirtschaftliche Genossenschaften – rufen zum Sturm. Unsere Siege im Wahlrechtskampf und im Wahlkampf haben die besitzenden Klassen gelehrt, dass nur kraftvolle Organisationen den Sieg erringen können. Die besitzenden Klassen zu organisieren, den Zuzug der Arbeiter zu unseren Organisationen zu verhindern, möglichst viele Arbeiter als willenlose Gefolgschaft unter bürgerliches Kommando zu stellen das sind nun die Ziele ihres Strebens. Aber nur die Werbekraft einer Idee, die alle besitzenden Klassen, wie verschieden auch ihre Interessen sein mögen, gegen uns zu vereinigen und möglichst viele Arbeiter zu betören vermag, kann die Bourgeoisie zu ihrem Ziele führen. Diese Idee ist der Nationalismus. Er vereint alles, was gegen uns steht, in den nationalen Schutzvereinen und den nationalen Jungmannschaften. Die Gemeindestuben sind seine Werbekanzleien, die Unternehmer liefern ihm seinen Kriegsschatz, die Betriebsbeamten treiben ihm seine Opfer zu, die Lehrer sind seine Organisatoren, die ganze bürgerliche Presse steht in seinem Dienst. So stehen im ganzen deutschen Gebiet der Sudetenländer Deutschnationale und Sozialdemokraten einander gegenüber – beide in starken Organisationen vereint, beide von Hass gegen den Gegner erfüllt. Der Klassengegensatz verdichtet sich zu persönlicher Feindschaft.

Die Zeit war dem Unternehmen günstig, breite Massen hinter der schwarz-rot-goldenen Fahne zu sammeln. In ganz Deutschböhmen und Deutschmähren hat das Erstarken und Erwachen der tschechischen Minderheiten die nationale Reibungsfläche verbreitert. Der Klassengegensatz zwischen Unternehmern und Arbeitern, der Gegensatz zwischen dem sesshaften Kleinbürgertum und der fluktuierenden Arbeiterschaft, die Reibungen zwischen dem alt eingesessenen und dem zuwandernden Arbeitervolk, zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern, zwischen Arbeitern auf verschiedenem Kulturniveau und mit verschiedenen Ansprüchen an das Leben – all das gewinnt hier, wo der Kapitalismus tschechische Bauernsöhne in das deutsche Industriegebiet lockt, die Gestalt nationaler Gegensätze. Je höher das Kulturniveau der tschechischen Einwanderer steigt, je stärker die Bande werden, die sie mit ihrer tschechischen Heimat verknüpfen, je stolzer der tschechische Proletarier sein Haupt erhebt, desto deutlicher erkennt der deutsche Bürger, dass sich die einsprachige Stadt des Kleinbürgertums in den zweisprachigen Industrieort verwandelt. Nun scheint ihm seine deutsche Heimat bedroht: Soll Deutschböhmen, dieses Kleinod deutschen Besitztums in Oesterreich, tschechisch werden? Die deutsche Scholle deutsch zu erhalten, wird nun nationale Ehrenpflicht. Während der letzten Prosperitätsperiode ist die Zahl der tschechischen Arbeiter im deutschen Lande schnell gestiegen; der Aufstieg der Arbeiterklasse, das Erstarken der Gewerkschaften, die Demokratisierung des öffentlichen Lebens durch den siegreichen Wahlrechtskampf haben mit ihrem sozialen auch ihr nationales Selbstbewusstsein gestärkt, mit ihrer wirtschaftlichen auch ihre nationale „Begehrlichkeit“ gesteigert. Nun kam die Wirtschaftskrise. Kohlengruben und Eisenwerke, Webereien und Spinnereien, Glas- und Porzellanfabriken hatten für die Arbeitermassen, die sie in den Jahren der Hochkonjunktur herangezogen hatten, keine Beschäftigung mehr. Jetzt schien der Augenblick gekommen, das deutsche Siedlungsgebiet von den tschechischen Arbeitern zu „reinigen“. Unter dem Einfluss der deutschnationalen Agitation begannen die deutschen Unternehmer die tschechischen Arbeiter, die deutschen Bürger das tschechische Gesinde zu entlassen, die deutschen Hausbesitzer den tschechischen Mietern die Wohnungen zu kündigen. Die Tschechen antworteten mit Gegenmassregeln. Tschechische Banken kauften Häuser im deutschen Gebiet, setzten die deutschen Mieter auf die Strasse und Tschechen an ihre Stelle. Der nationale Kampf, dessen Schauplatz bisher nur das Parlament, der Landtag, die Gemeindestuben gewesen, wurde zum Kampf um die Wohnung und um die Arbeitsstelle. Die Liebe zur ererbten Scholle, die ganze Kraft des Heimatsgefühls wurden in den Dienst des Nationalismus gestellt. Tausende, die ehedem von nationalem Hasse frei gewesen, wurden von nationaler Leidenschaft erfasst, da ihnen die deutsche Heimat gefährdet erschien.

Gleichzeitig erstarkten die nationalen Leidenschaften aber auch unter den Tschechen. Seit sechs Jahrzehnten hat die tschechische Nation sich emporgerungen in hartem Kampf. Bald verfolgt von den Schergen des Staats, bald wieder von den Regierungen begünstigt und gefördert, bald von hussitischem Zorn gegen das alte Oesterreich erfüllt, bald wieder mit den Herrschenden paktierend und parlamentierend, immer aber im Kampfe gegen das deutsche Bürgertum, immer von Neid erfüllt ob der älteren, reicheren Kultur des Gegners, immer im erbitternden Gefühl der Ohnmacht gegenüber den starken Waffen, die den Deutschösterreichern die Zugehörigkeit zu einem der drei grossen Weltvölker, die ihnen ihre überlegene wirtschaftliche Macht, ihre stärkere Vertretung in allen herrschenden Klassen, die ihnen die ganze Tradition verleiht, hat die tschechische Nation ihren Kampf geführt. Zuletzt glaubte sie sich unter Badeni endlich auf dem Wege zum Sieg. Die Katastrophe Badenis brachte ihr eine furchtbare Enttäuschung. Da plötzlich, unter dem Einfluss der Revolution in dem slawischen Riesenreich im Osten, schien ihr der Augenblick des Triumphes gekommen. Die Wahlreform sollte nicht nur die sozialen Privilegien, sondern auch das nationale Vorrecht stürzen. Die slawische Mehrheit im Abgeordnetenhause das war die grosse Hoffnung der tschechischen Wahl-rechtskampfer. Aber auch diese Hoffnung brach zusammen. Das Regime Bienerth die Tschechen in die Opposition. Vergebens haben sie von der Strassenrevolte bis zur Herrenhausintrigue alle Mittel in Bewegung gesetzt, die Regierung zu stürzen, gegen die sich der ganze Hass der enttäuschten Hoffnung kehrt. Von dem ganzen Feldzug ist nichts geblieben als das erbitternde Gefühl der Niederlage, die Scham der Enttäuschung, die den Hass nährt. In solcher Stimmung fand die tschechische Nation der Kampf um die Minderheiten: die Schutzgesetze, die alle Hoffnungen der tschechischen Minderheiten ausserhalb der Sudetenländer vernichten; der Terror der Unternehmer und der Hausbesitzer, die die tschechischen Arbeiter aus den Fabriken und aus ihren Wohnungen verjagen, wenn sie für ihre Kinder tschechische Schulen fordern; die Winkelzüge der Gemeinden und Behörden, die tschechische Privatschulen unter dem verlogenen Vorwand baupolizeilicher oder sanitätspolizeilicher Gründe sperren. So erstarkt die Leidenschaft auch hier.

Bei den Deutschen wie bei den Tschechen sind breitere Massen als jemals zuvor von nationalen Leidenschaften erfasst. Der nationale Hass ist auf beiden Seiten erstarkt. Der Nationalismus ist mächtiger, als er jemals gewesen. Es nützt nicht, den Feind zu unterschätzen. Wir müssen aussprechen, was ist.

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Wie wirkt diese Entwicklung auf die Massen der Arbeiter?

Mit wachsender Erbitterung sieht der klassenbewusste deutsche Arbeiter das Erstarken des Nationalismus. Was bedeuten die nationalen Kämpfe, von deren Getöse das öffentliche Leben widerhallt? Sie haben schon im Sturmjahr 1848 die Armee der Revolution gespalten und alle Nationen der Gegenrevolution ausgeliefert. Sie haben von 1860 bis 1897 das Bürgertum kampfunfähig gemacht, bald die Deutschen, bald die Tschechen zu Bundesgenossen der Feudalen, zu Stützen des bureaukratischen Absolutismus erniedrigt. Sie haben das erste Parlament, in das wir unsere Vertreter entsenden konnten, zum Schauplatz wüster Obstruktionsszenen gemacht und alle Hoffnung auf sozialpolitische Arbeit begraben. Sie haben auch jetzt wieder, nach dem grossen Siege im Wahlrechtskampf, die furchtbare Enttäuschung herbeigeführt: der Nationalismus ist verantwortlich dafür, dass wir auf die Altersversicherung warten müssen, dass die sozialpolitische Arbeit stockt, dass der Kampf um Sprachenfragen unsere ernste Sorge um Arbeit und Brot in den Hintergrund drängt. Und wie ist es ausserhalb des Parlaments? Sind die nationalen Kämpfe nicht das Mittel, unsere Brüder zu betören, sie von uns zu trennen, sie in das Lager des Feindes zu führen? Die schwarz-rot-goldene Fahne deckt die gelbe Ware. Unser Unglück sind die nationalen Kämpfe. Darum wollen wir keinen Teil haben an ihnen. Wir wollen uns nicht in das Getümmel der Kämpfenden mengen, die seit sechs Jahrzehnten den fruchtlosen Kampf um die Sprache führen. Wir wollen das Getöse des Kampfes übertönen mit unserem Rufe nach Arbeit und Brot. Krieg dem nationalen Kriege! Friede den Nationen! – das ist der Schlachtruf des deutschen Arbeiters. So interpretiert er den Internationalismus.

Ganz andere Vorstellungen gestalten das Urteil des tschechischen Arbeiters über die nationalen Kämpfe. Es gab eine Zeit, in der nur Bureaukraten und Offiziere, Grossgrundbesitzer und Kapitalisten Einfluss im öffentlichen Leben besassen. Diese Herrenklassen waren aber auch im tschechischen Lande deutsch oder germanisiert. Kleinbürger, Bauern, Arbeiter waren rechtlos; aus den entrechteten Klassen setzte sich die tschechische Nation zusammen. Die Rechtlosigkeit der arbeitenden Klassen bewirkte hier die Rechtlosigkeit der ganzen tschechischen Nation; das soziale Privileg der Herrenklassen bedeutete die Vorherrschaft des Deutschtums. Das letzte Jahrhundert brachte uns nun das Erwachen, den wirtschaftlichen Befreiungskampf, den kulturellen und politischen Aufstieg der arbeitenden Klassen. Und mit den Klassen, aus denen sie sich zusammensetzt, stieg auch die Nation empor. Aber immer noch bestehen die Reste der alten deutschen Fremdherrschaft fort. Das erstarrte Recht entspricht den lebendigen Bedürfnissen der emporsteigenden Nation nicht mehr. Die nationalen Privilegien müssen fallen. Die Nationen müssen ihr gleiches Recht erringen. Darum können wir nicht abseits stehen, wenn die tschechische Nation darum kämpft, dass sie in allen Vertretungskörpern und im Beamtenkörper nach ihrer Volkszahl vertreten sei, dass sie ihren Anteil an der Regierungsgewalt erlange, dass die Behörden mit den Tschechen überall in ihrer Sprache verkehren, dass die tschechischen Eltern überall tschechische Schulen für ihre Kinder finden. Krieg dem nationalen Unrecht! Gleichberechtigung der Nationen! – das ist der Schlachtruf des tschechischen Arbeiters. So interpretiert er den Internationalismus.

Deutsche und tschechische Arbeiter nennen sich international. Aber dasselbe Wort deckt verschiedene Begriffe. Wohl wünscht auch der deutsche Arbeiter die nationale Gerechtigkeit, auch der tschechische den nationalen Frieden. Aber die Grundstimmung angesichts der nationalen Kämpfe ist doch da und dort verschieden. Diese Verschiedenheit wird nun zum taktischen Problem der Partei. Sollen wir um des Friedens willen von den nationalen Kämpfen uns auch dann fernhalten, wenn das Ziel des Kampfes eine berechtigte Forderung ist? Oder sollen wir um des Rechtes willen uns in die nationalen Kämpfe mengen und unsere Kraft dem Streitteil verbünden, dessen Forderungen wir für berechtigt halten, auch wenn dieser Kampf uns hindert, die unmittelbaren wirtschaftlichen Forderungen der ganzen Arbeiterklasse auf die Tagesordnung zu setzen?

Es gibt gewiss in der internationalen Sozialdemokratie weit schwierigere, weit tiefer greifende Streitfragen. Die Gegensätze zwischen der revolutionären und der revisionistischen Taktik, die sich auf entgegengesetzte Auffassungen der ganzen kapitalistischen Entwicklung und des ganzen proletarischen Klassenkampfes stützen, die gegensätzlichen Auffassungen über die Agrarfrage, ja zuweilen selbst Gegensätze der Anschauungen über praktische Gegenwartsfragen (die zahllosen sachlichen und taktischen Einzelfragen der Sozialversicherung zum Beispiel!) sind an sich noch schroffer, sie sind vielleicht noch schwerer zu überwinden als das taktische Problem, wie wir uns zu den nationalen Kämpfen verhalten sollen. Aber dieses nationalpolitische Problem soll nun gelöst werden, Tag für Tag in grossen parlamentarischen und kleinen lokalen Kämpfen immer von neuem gelöst in einer Atmosphäre, die vergiftet ist durch den erstarkenden nationalen Hass, durch die sich steigernden nationalen Leidenschaften um uns. So wird die Einheit der österreichischen Gesamtpartei selbst zum Problem. Sie kann in einer Zeit der Verschärfung aller nationalen Kämpfe nicht erhalten werden, wenn nicht die Massen selbst das, was uns eint, als viel, viel stärker empfinden als alle Einzelheiten, die uns scheiden.

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Von mächtigeren Feindep als jemals bedroht, vor schwere innere Fragen gestellt, sind wir aller Schwierigkeiten doch überraschend leicht Herr geworden. Vor wenigen Monaten noch konnte Genosse Nemec sagen, dass unser Verband im Abgeordnetenhause, der aus Deutschen, Tschechen, Polen, Italienern und Ruthenen besteht, mit weniger inneren Schwierigkeiten zu kämpfen habe als unsere Genossen im deutschen Reichstag, in der französischen und in der italienischen Kammer. Da wurde die Organisationsfrage in die Massen geworfen. Und mit einemmal hat sich das Bild völlig verändert.

Der Separatismus dringt in die Fabrik ein. Er spaltet die Arbeiter, trennt die Tschechen von den Deutschen. Mit welchem Gefühl mag der deutsche Arbeiter die Spaltung seiner Gewerkschaft betrachten? Er hat Jahrzehnte für die Organisation gearbeitet. Er hat ihr die Ruhe seines Feierabends, die Heller von seinem spärlichen Lohn geopfert. Er hat ihretwegen die Verfolgungen der Unternehmer und Behörden ertragen. Nun ist das Werk, sein Werk, herrlich gross geworden. Es ist sein Stolz, dass es rastloser Arbeit gelungen ist, auch die tschechischen Arbeiter der Organisation zu gewinnen. Nicht mehr Lohndrücker und Streikbrecher wie einst, sondern treue Kampfgenossen sind die tschechischen Mitglieder der Organisation. Mag deutschnationale Torheit uns des nationalen Verrates zeihen – wir wollen mit den tschechischen Brüdern treu zusammenstehen, um im gemeinsamen Kampf die Kapitalsherrschaft zu brechen. Vergebens locken uns die Sendboten der deutschnationalen Gewerkvereine, uns von den tschechischen Klassengenossen zu trennen – nur die Gemeinschaft, nicht die Spaltung verbürgt uns den Sieg. Wir haben es erfahren: Haben wir nicht Schulter an Schulter gekämpft in vielen Schlachten? Hat uns die gemeinsame Organisation nicht Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung gebracht? Haben wir nicht im gemeinsamen politischen Kampfe die Wahlrechtsprivilegien, die Willkür der Behörden gebrochen? Und nun, mit einemmal, kommt die Spaltung! Die Organisation wird zerstört. Vom Kampfe zwischen Zentralisten und Separatisten angewidert, bleiben Hunderte unorganisiert. Unsere Werbekraft ist gelähmt. Der Unternehmer triumphiert. Und die das Unheil bringen, sind nicht die Söldlinge der Unternehmer, nicht die Agenten der Gelben, sondern die eigenen Genossen. Ist es wunderbar, dass der deutsche Arbeiter erbittert und enttäuscht aus der Fabrik heraustritt? Hier harrt schon seiner der deutschnationale Agitator. Habt ihr die Tschechen endlich kennen gelernt? Seht ihr jetzt endlich ein, dass keine Gemeinschaft mit ihnen möglich ist? Haben wir euch nicht immer gepredigt, dass ihr euch auf nationaler Grundlage, ohne die Tschechen und gegen sie, organisieren sollt? Und seht, die Tschechen, die eure Organisation zerstören, sind dieselben, die das Parlament obstruieren, die in unsere Heimat den nationalen Kampf tragen, die unsere Stadt tschechisieren wollen! Wird der deutsche Arbeiter, durch die Zerstörung seiner Organisation erbittert, nicht empfänglich werden für diese verführerischen Worte? Muss nicht der Hass gegen die Tschechen in seinem Flerzen zu keimen beginnen?

Gleichzeitig bestürmt der Separatismus den tschechischen Arbeiter: In den internationalen Gewerkschaften herrschen die Deutschen. Nur aus Herrschsucht, nur um die deutsche Herrschaft über euch zu erhalten, verweigern sie euch die Selbständigkeit eurer gewerkschaftlichen Organisation. Ihr fordert die Gleichberechtigung im Staat; könnt ihr den deutschen Despotismus in der eigenen Organisation ertragen? Und sind denn die Deutschen so treue Genossen, dass ihr in ihrer Gemeinschaft bleiben könnt? Haben sie nicht, als sie gegen den Antrag Stanek stimmten, gezeigt, dass sie den tschechischen Arbeiterkindern tschechische Schulen verweigern wollen? Ihnen ist die tschechische Arbeiterschaft zu stark, zu mächtig geworden; darum wollen sie euch durch die mit dem Wiener Gelde gekauften Gewerkschaftssekretäre beherrschen oder, wenn ihnen das nicht gelingt, unsere Partei, die tschechische Sozialdemokratie, die euch von Sieg zu Sieg geführt hat, spalten! Jetzt haben sie die Internationale gegen uns gehetzt; natürlich gehen Legien, ein Deutscher aus dem Reich, und Greulich, ein Deutscher aus der Schweiz, mit den Deutschösterreichern! Und was der nationalen Solidarität aller Deutschen nicht gelingt, das bewirken dann die falschen Informationen, die die Deutschösterreicher der Internationale gegeben haben. Wie wäre es möglich, dass die Internationale gegen uns entscheidet, wenn sie nicht irregeführt worden wäre? Und habt ihr nicht gelesen, dass Adler sich auf dem Kongress darauf berufen hat, dass 118.000 tschechische Arbeiter Mitglieder der von den Deutschen kommandierten Reichsgewerkschaften sind? Welche Dreistigkeit, dass ein Deutscher im Namen von 118.000 tschechischen Arbeitern spricht! Brauchen wir Tschechen denn Deutsche als unsere Wortführer? Und hört ihr es, tschechische Arbeiter in den Zentralorganisationen, dass ihr dazu missbraucht werdet, von den Deutschen gegen eure tschechischen Volksgenossen ausgespielt zu werden? Wollt ihr die Judasrolle derer spielen, die um eines wirtschaftlichen Vorteils willen sich von der eigenen Nation trennen und sich von Fremden missbrauchen lassen? So spricht der tschechische Separatismus zu den Arbeitern. Er kann nicht anders sprechen – wer die tschechischen Arbeiter überzeugen will, dass die Gemeinschaft mit den deutschen Klassengenossen ihnen schädlich ist, muss ihnen ja die Deutschen als ihre Feinde hinstellen.

Die Erhaltung der Einheit unserer internationalen Gesamtpartei ist durch die ganze politische Entwicklung der letzten Jahre zu einem ernsten Problem geworden. Dieses Problem wird unlösbar, wenn der Kampf um die Gewerkschaften nationale Empfindlichkeit in den Massen auslöst, deutsche und tschechische Arbeiter einander als Feinde gegenüberstellt! Stärker als alle parlamentarischen Fragen berührt ja die Frage der gewerkschaftlichen Organisation die proletarische Masse. Und je länger der Kampf dauert, je schroffer die Gegensätze werden, desto stärker wird das Bedürfnis der Separatisten, nationale Konflikte in der Partei heraufzubeschwören, aufzubauschen, auszunützen, um die tschechischen Arbeiter von der Notwendigkeit, sich von den deutschen Genossen zu trennen, zu überzeugen. Was innerlich auseinanderwächst, ist mit äusseren Mitteln nicht zusammenzubinden. Keiner Kunst wird es gelingen, die Einheit der Gesamtpartei zu erhalten, wenn der Kampf um die Gewerkschaften nicht bald ein Ende nimmt. Der Versuch, den Bruderkrieg zu beenden, muss bald und energisch gemacht werden: jeder Tag bringt unersetzbaren Schaden, jeder Tag bringt neue Gefahr für die internationale Gesinnung der Arbeiterklasse und die internationale Einheit der Partei.

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Der Beschluss des Internationalen Kongresses erlegt uns die Pflicht auf, die Wiederherstellung einheitlicher internationaler zentralisierter Gewerkschaften anzustreben. Diese Pflicht müssen wir erfüllen. Es ist keine Verabredung möglich, deren letztes Ziel ein anderes wäre als die Auflösung der separatistischen Organisationen und die Rückführung ihrer Mitglieder in die internationalen Verbände.

Anderseits muss unseren tschechischen Genossen der Weg zu einem solchen Entschluss gebahnt werden. Die Eingliederung der 40.000 Mitglieder der tschechischen Sonderorganisationen in unsere internationale Gesamtorganisation ist nicht zu erreichen, wenn nicht gleichzeitig organische Aenderungen im Aufbau unserer Gewerkschaften vorgenommen werden. Wollen wir den Bestand internationaler Organisationen sichern, dann müssen wir den Arbeitern jeder Nation in ihrem Rahmen einen Kreis autonomer Selbstverwaltung einräumen, der so weit gezogen werden muss, als dies mit den Aufgaben und der Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften vereinbar ist.

Ich habe schon in meiner „Nationalitätenfrage“ (§ 33), ausführlicher in meiner Broschüre Krieg oder Friede in den Gewerkschaften? untersucht, mit welchen Mitteln dieses schwierige organisatorische Problem gelöst werden kann. Die Aufnahme dieser Broschüre scheint mir zu zeigen, dass ein Versuch, auf dieser oder einer ähnlichen Grundlage eine Verständigung herbeizuführen, vielleicht doch nicht ganz aussichtslos ist.

Die zentralistischen Gewerkschaftsblätter haben mir allerdings viele sehr schwerwiegende Einwände gemacht. Ich leugne nicht, dass die von mir entworfene und jede ähnliche Organisation komplizierter, schwerfälliger und kostspieliger arbeiten würde als eine Gewerkschaft, die ganz nach dem Beispiel einsprachiger Länder aufgebaut ist. Aber der ruhige und wohlwollende Ton der Kritik, die die zentralistische Presse an meiner Broschüre geübt hat, scheint mir doch zu beweisen, dass auch die Leiter unserer internationalen Gewerkschaften nicht verkennen, dass eine noch so komplizierte internationale Organisation immer noch besser wäre als die nationale Zersplitterung der Organisation. Die Beendigung des Kampfes wäre ein Opfer wert!

Und die Separatisten? In seiner Broschüre Das Recht auf die Selbständigkeit der Gewerkschaftsbewegung behauptet Genosse Tayerle, dass sich meine Vorschläge von den Forderungen, die die tschechischen Genossen im Jahre 1905 gestellt haben und durch deren Annahme der Konflikt hätte verhindert werden können, nicht wesentlich unterscheiden, in mancher Hinsicht sogar noch weiter gehen als sie. [1]

Diese Behauptung hat auch in den Bericht der tschechoslawischen Gewerkschaftskommission an den Internationalen Kongress Eingang gefunden. Sind die Separatisten dieser Meinung, dann können sie eine Verhandlung über meinen oder einen ähnlichen Vermittlungsvorschlag nicht ablehnen. Wenn sie überhaupt den Frieden wollen, dann können sie ja nach dem Kopenhagener Beschluss nicht mehr die volle Selbständigkeit ihrer Gewerkschaften, sondern nur die Autonomie innerhalb internationaler Verbände anstreben!

Ist also wirklich der Wille zum Frieden da, dann muss darüber verhandelt werden, wie der innere Aufbau unserer internationalen Gewerkschaften fortentwickelt werden muss, um den tschechischen Separatisten die Auflösung ihrer und den Eintritt in die internationalen Verbände zu erleichtern. Diese Verhandlungen müssen zunächst die Organisation der einzelnen Berufe und Industriegruppen ins Auge fassen; gelingt es uns, hier ein für beide Teile erträgliches Kompromiss zu finden, dann werden wir uns über die Frage der Zusammenfassung der Fachverbände (Gewerkschaftskommission u. s. w.) leichter verständigen. Nur die Politiker, die vor allem die Fragen der äusseren Repräsentation im Auge haben, interessieren sich für den Aufbau der Gesamtorganisation mehr als für den des einzelnen Fachverbandes. Die englische Gewerkschaftsbewegung beweist, dass die Gewerkschaftsbewegung auch bei schlechter Gesamtorganisation gedeihen kann, wenn nur die einzelnen Fachverbände gesund sind. Es wäre ein arger Fehler, wenn wiederum alle Aufmerksamkeit darauf konzentriert würde, wie das Verhältnis der Prager zur Wiener Gewerkschaftskommission gestaltet oder wie die Reichskommission zusammengesetzt werden soll; sind diese Fragen nicht unwichtig, so ist doch unendlich wichtiger die Frage, wie die einzelnen Verbände aufgebaut werden sollen.

Gewiss wird das neue Organisationsprinzip nur in schweren, langwierigen Verhandlungen gefunden und noch schwerer durchgeführt werden können. Solche Verhandlungen sind nun natürlich in einer Atmosphäre des Kampfes undenkbar. Darum sollte ein Waffenstillstand den Verhandlungen über den definitiven Friedensschluss vorausgehen. Ein solcher Waffenstillstand setzt zunächst die Lokalisierung des Konfliktes voraus: Es dürfen nicht weitere Verbände gespalten werden und es darf der Kampf nicht in Orte getragen werden, die bisher verschont geblieben sind. Soll der Waffenstillstand längere Zeit dauern, soll wirklich eine friedliche Stimmung erzeugt werden, dann wäre freilich mehr erforderlich: es müsste das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Organisationen aufgehoben werden, es müsste verhindert werden, dass die Spaltung in den einzelnen Betrieben noch länger dauert. In Kopenhagen hat Genosse Nĕmec gesagt: „Wir wollen die Trennung nicht bis in jede einzelne Werkstätte, bis zum letzten Mann tragen; aber wir haben grosse geschlossene Sprachgebiete, deutsche und tschechische, und da muss sich eine zweckmässige Organisationsform finden.“ Nun, wenn sich die separatistischen Organisationen auf das geschlossene tschechische Sprachgebiet beschränken wollten, dann könnten die Zentralisten meiner Ansicht nach sehr wertvolle Gegenkonzessionen für dieses Zugeständnis bieten. Dann vzäre ein Waffenstillstand möglich, der die Stimmung so beruhigen würde, dass die langwierigen und schweren Verhandlungen über den Umbau der internationalen Gewerkschaften und die Rückführung der tschechischen Separatisten in sie sehr erleichtert würden. [2]

Das Problem ist gewiss sehr schwer zu lösen. Aber wenn die Separatisten den ernsten Wunsch haben, den Beschluss des Internationalen Kongresses durchzuführen, dann ist es nicht unlösbar.

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Und wenn der Versuch misslingt? Wenn die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen? Dann freilich befürchten wir das Schlimmste: das Schlimmste für die Gewerkschaften wie für die Partei. Dann werden wir erst in langem selbstmörderischen Bruderkrieg erringen müssen, was heute schon die Einsicht in die Notwendigkeiten unseres Kampfes uns geben könnte. Bringt uns der Schiedsspruch des Kongresses nicht den Frieden, dann wird er uns stärken im Kampf.

Der Gewerkschaftskonflikt ist zur Lebensfrage unserer Gesamtpartei geworden. Der heutige Zustand ist unerträglich. Die Entscheidung über diese Frage muss sehr bald fallen und nur die Gesamtpartei selbst kann sie entscheiden. Wir schenken den Exekutivorganen der Partei und der Gewerkschaften volles Vertrauen; sie allein sind berufen, die vorbereitenden Verhandlungen zu führen. Aber was immer das Ergebnis dieser Verhandlungen sein mag: die Entscheidung muss möglichst bald vor den Augen der ganzen proletarischen Oeffentlichkeit fallen, das letzte Wort kann nur ein internationaler Gesamtparteitag sprechen. Können die Exekutivorgane sich nicht einigen, dann muss die österreichische Gesamtpartei selbst die Entscheidung fällen. Der heutige Zustand ist unerträglich; so oder so – der oberste Vertretungskörper unserer Partei muss über die Streitfrage entscheiden, die längst mehr als eine Gewerkschaftsfrage ist.

Was immer aber die nächsten Wochen uns bringen mögen: kleinmütig zu werden, haben wir auch im schlimmsten Falle keinen Grund. Keine Gesellschaftsordnung stirbt, ehe sie nicht alle Gegensätze, die in ihr enthalten sind, vollständig entfaltet hat. So muss auch das Staatensystem, das auf dem internationalen Kapitalismus ruht, nicht nur alle sozialen, sondern auch alle nationalen Gegensätze entfalten, ehe die Zeit seines Falles kommt. Das Völkerchaos, das im ganzen Osten Europas zusammengezwängt ist, muss in Bewegung geraten, die sozialen und die nationalen Gegensätze müssen so schroff werden, dass die Mittelchen überlieferter Staatskunst ihnen gegenüber vollständig versagen: dann erst sind wir reif für die nahende Zeit grosser Umwälzungen. Dann werden die Völker in Wochen erlernen, was Jahrzehnte sie nicht zu lehren vermochten. Die Zukunft bringt uns noch ganz anderer Probleme Lösung als der, um die wir heute uns bemühen. Darum fürchten wir den Vormarsch des Nationalismus nicht. Je schneller er den Gipfel ersteigt, desto näher ist er dem Abgrund. Mag der Nationalismus marschieren! Er marschiert in sein Verderben.

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Anmerkungen

1. Tayerle, Právo na samostatnost odborového hnutí, Prag 1910, Seite 20.

2. Nochmals: all das ist nicht mehr als meine persönliche Ansicht. Weder die deutsche Partei noch die internationalen Gewerkschaften haben mich ermächtigt, in ihrem Namen zu sprechen. Ob ihre leitenden Körperschaften meine Ansichten teilen, ist mir vollständig unbekannt.

 


Leztztes Update: 6. April 2024