Otto Bauer

Bücherschau

Marx-Literatur

(1. April 1911)


Der Kampf, Jg. 4 7. Heft, 1. April 1911, S. 333–336.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Vorländer, der durch seine schon in dritter Auflage erschienene Geschichte der Philosophie [1] in breiteren Kreisen bekannt geworden ist, hat seinen älteren Studien über das Verhältnis des wissenschaftlichen Sozialismus zur kritischen Philosophie eine neue angereiht. Sie stellt das Thema „Kant und Marx“ [2] historisch dar; Vorländer verspricht, in einer späteren Arbeit seine eigene Stellung zu dem Problem ausführlich zu begründen.

Kant ein Philosoph des Sozialismus? so lautet die Ueberschrift des ersten Kapitels. Die Antwort ist natürlich negativ: Finden sich auch in Kants Schriften viele Gedanken, die später zum Besitz des Sozialismus geworden sind, so war doch Kant kein Sozialist und konnte es nicht sein. Leider führt Vorländer den Nachweis nur mit Zitaten aus Kants Werken. Eine tieferdringende Untersuchung, die Kant mitten in die Gedankenwelt seiner Zeit hineinstellen müsste, gibt Vorländer nicht. Und doch wäre eine solche Untersuchung sehr nötig zur Belehrung derer, die das Problem „Kant und Marx“ schon mit der Feststellung erledigt zu haben glauben, dass Kant ein Philosoph der Bourgeoisie gewesen sei. Denn eine solche historische Untersuchung würde erst zeigen, in welchem Sinne er es war. Sie würde es uns erst ermöglichen, den Schatz Kantscher Gedanken in zwei ihrem Werte nach sehr verschiedene Gruppen einzuteilen, von denen die eine die konkret-stofflichen Vorstellungen Kants über Sittlichkeit, Sitte und Recht umfasst, in denen er in der Tat nichts als ein Kind seiner Zeit, seines Landes, seiner Klasse ist und uns daher wenig mehr zu sagen hat, während die andere Gruppe aus den formal-analytischen Bestandteilen seines Gedankenschatzes gebildet wird, die zwar gleichfalls nur unter konkreten historischen Umständen entstehen konnten – nämlich erst dann, wenn mit dem Aufstieg des Bürgertums die moderne Naturwissenschaft eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht und die Zersetzung der alten gesellschaftlich-sittlichen Bindungen neue ethisch-politische Probleme aufgeworfen hatte – aber, einmal entstanden, weiter gelten und weiter wirken, die Bedingungen ihrer Geburt überleben können. Vorländer hätte das Misstrauen, das immer noch der grösste Teil der Marxschen Schule dem Kritizismus entgegenbringt, leichter überwunden, wenn er diese beiden Gruppen noch schroffer, als er es tut, voneinander geschieden und die Art und den Grad ihrer Abhängigkeit von den sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen die kritische Philosophie herangewachsen ist, in einer allgemeinen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung aufgedeckt hätte.

Vorländer geht nun von Kant zu Marx und Engels über und schildert ihre philosophische Entwicklung. Leider bricht diese Darstellung dort ab, wo sie am interessantesten würde: bei dem Kapital. Ich habe in einer Abhandlung in der Neuen Zeit, die Vorländer exzerpiert und sehr wohlwollend beurteilt, darauf hingewiesen, dass im Kapital eine Unzahl methodologisch interessanter Bemerkungen zu finden ist, aus denen deutlich hervorgeht, wie der reife, der schaffende Marx über das Wesen und die Bestandteile der Wissenschaft (Kant würde sagen: der Erfahrung) geurteilt hat. Leider hat Vorländer das Verhältnis dieser im Kapital zerstreuten methodologischen Bemerkungen zu den Grundgedanken der kritischen Philosophie nicht dargestellt. Leider! Denn hier ist für das Problem Marx und Kant am meisten zu holen!

Vorländer bespricht dann die „idealistischen Nebenströmungen im Sozialismus“. Neben Lassalle, Lawrow, Jaurès wird hier auch Dietzgen behandelt. Vorländer zeigt zutreffend, wie viel der Arbeiter-Philosoph mit der kritischen Philosophie gemein hat; aber er hebt nicht scharf genug hervor, was Dietzgen von Kant unterscheidet, so dass Dietzgens Verwandtschaft mit neueren positivistischen Strömungen verborgen bleibt.

Sodann bespricht Vorländer die Sozialphilosophie des Neukritizismus. Cohen, Stammler, Natorp, Staudinger werden hier ausführlich besprochen, Tönnies und Lipps kurz gestreift. Wir vermissen in dieser Darstellung nur die historische Einleitung von Cohens Kants Theorie der Erfahrung, die, in bewusster Auseinandersetzung mit Hegel (2. Auflage, Seite 6), ein paar Gedanken andeutet, deren Entwicklung für die Auseinandersetzung zwischen dem Kritizismus und der materialistischen Geschichtsauffassung vielleicht grosse Bedeutung erlangen könnte.

Nun erst geht Vorländer an die Darstellung der Beziehungen des heutigen Sozialismus zur kritischen Philosophie. Zuerst werden die Revisionisten vorgenommen, wobei Vorländer mit Recht darauf hinweist, dass Eduard Bernstein, so eifrig er auch das Studium Kants propagiert hat, selbst doch dem Geiste der kritischen Philosophie fremd geblieben ist. Dann folgen die Marxisten. Vorländer polemisiert gegen Kautsky, Mehring, Plechanow, aber er polemisiert mit dem Wunsche, über dem Trennenden das Einigende nicht zu vergessen. Das Schlusskapitel handelt von den „Wiener Jungmarxisten“. Da Vorländer hier neben den Werken Max Adlers auch meinen bescheidenen Ausflügen in das Reich der Philosophie seine Aufmerksamkeit schenkt, will ich meine Stellung zu seinem Problem mit ein paar Sätzen verdeutlichen, um Missverständnisse zu verhüten.

Nach meiner Ueberzeugung brauchen die von Marx begründete politische Oekonomie und die ihr zugrunde liegende Geschichtsauffassung keine philosophische „Grundlegung“ oder „Ergänzung“, so wenig wie etwa die Physik oder die Physiologie einer solchen „Grundlegung“ oder „Ergänzung“ bedürfen. Die Philosophie ist nicht die Grundlage, auch nicht die Ergänzung irgendeiner Wissenschaft; vielmehr muss erst die Wissenschaft gegeben sein, damit die Philosophie aus der kritischen Analyse ihrer Elemente entstehen könne. Kants Philosophie war nicht die „Grundlegung“ und nicht die „Ergänzung“ von Newtons Principia mathematica; vielmehr hat Kant Newtons Begriffe nur kritisch analysiert. Nicht die Philosophie ist die Grundlage der Wissenschaft, sondern die Wissenschaft Grundlage der Philosophie. Die Wissenschaft bleibt davon unberührt, ob man nun dies oder jenes philosophische System ihr überbaut. Die Philosophen unserer Zeit mögen die Elemente von Marxens Sozialwissenschaft analysieren, wie Kant die Elemente von Newtons Naturwissenschaft analysiert hat; aber sie dürfen sich nicht anmassen, über sozialwissenschaftliche Fragen zu entscheiden, so wenig wie die kritische Philosophie über naturwissenschaftliche Fragen entscheiden kann. Insofern ist also Marx von aller Philosophie unabhängig. Wenn sich der einzelne Marxist zu Kant oder zu Mach, zum Materialismus oder zu Dietzgens Positivismus bekennt, ist diese Verknüpfung blosse Personalunion, für die Geltung des Marxschen Lehrsystems ganz gleichgültig.

Eine dichtere Verknüpfung entsteht erst, wenn die Methode der Wissenschaft überhaupt oder eines ihrer Zweige in Frage gestellt wird. Dieses Missgeschick ist dem Marxismus oft widerfahren. Man denke an den Ansturm gegen den Marxismus, den die historische Schule, die Grenznutzler, Teleologen vom Schlage Stammlers und Historiker vom Schlage Windelbands und Rickerts versucht haben! In der Abwehr solcher Angriffe werden wir zur Erörterung philosophischer Probleme gezwungen. Hier nun kann uns allerdings die kritische Philosophie wertvolle Dienste leisten –, wertvolle Dienste zumal gegen ihre eigenen Anhänger! Das also ist der einzige Dienst, den die kritische Philosophie (und die Philosophie überhaupt!) dem Marxismus leisten kann: sie ist unsere Grenzwache, die den Ansturm des die Methode bekämpfenden Skeptizismus abzuwehren hat.

Aber die Sicherung der Methode und mit ihr der Ergebnisse des Marxismus macht uns noch nicht zu Sozialisten. Die Erkenntnis, dass der Sozialismus sein wird, macht mich noch nicht zum Kämpfer für ihn. Der Entschluss, für ihn zu kämpfen, ist (oder kann wenigstens sein) sittliche Entschliessung. Zu dieser Entschliessung brauche ich keine philosophische Ethik, – so wenig ich erst die Lehrbücher der Logik studieren muss, um denken zu können. Aber wenn diese Entschliessung von dem ethischen Skeptizismus angefochten wird, dann werden wir allerdings zur Erörterung der Probleme der Ethik gezwungen. Hier nun leistet uns die Ethik des Kritizismus wertvollen Dienst, – gerade deshalb, weil sie nur das formale Prinzip aller ethischen Wertung aufdeckt, von aller konkreten Moral und allem konkreten „Naturrecht“ geschieden ist, uns also zeigt, dass dem formalen, im Bewusstsein überhaupt begründeten Prinzip in der Zeit des entwickelten Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat ganz andere konkrete Maximen entsprechen, als etwa im Zeitalter Kants, ohne dass dadurch die Geltung des Prinzips selbst in Frage gestellt werden kann. Wie für die Marxsche Theorie, so besorgt auch für den kämpfenden Sozialisten die kritische Philosophie nicht mehr als den bescheidenen Dienst einer Grenzwache gegen den Einbruch des Skeptizismus.

Vorländer scheint das Verhältnis der kritischen Philosophie zum Sozialismus anders zu beurteilen, den Kreis ihrer Aufgaben weiter zu ziehen als ich. Aber so verschieden auch unsere Ansichten sein mögen, – inwiefern dies der Fall, wird erst der zweite Teil seines Werkes deutlich zeigen, – so freuen wir uns doch, seine gründliche, dank ihrer schlichten Darstellungsweise für den philosophisch Gebildeten leicht lesbare Arbeit allen empfehlen zu können, denen die Beschäftigung mit Marx und Kant „am Herzen lieget“.

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Anmerkungen

1. Vorländer, Geschichte der Philosophie. 2 Bände 3. Auflage. Leipzig 1911. Dürr.

2. Vorländer, Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus. Tübingen 1911. J. C. B. Mohr.

 


Leztztes Update: 6. April 2024