O. B.

Bücherschau

Parteiliteratur

(1. April 1911)


Der Kampf, Jg, 4 7. Heft, 1. April 1911, S. 332–333.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Im Jahre 1893 hat Karl Kautsky sein Büchlein Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie veröffentlicht. Von dieser Schrift hat nun der Stuttgarter Parteiverlag eine neue Ausgabe unter dem Titel Parlamentarismus und Demokratie herausgegeben. Die neue Ausgabe wird gewiss auch unseren Genossen im Deutschen Reich willkommen sein; für uns in Oesterreich aber ist sie geradezu die Erfüllung eines dringenden Bedürfnisses. Denn die Enttäuschung, die das erste Parlament des gleichen Wahlrechts uns gebracht hat, hat viele österreichische Arbeiter am Parlamentarismus überhaupt irre werden lassen. Darum empfehlen wir unseren Organisationen, Kautskys eindringlicher, für jeden Arbeiter verständlichen Darstellung eine möglichst weite Verbreitung in der österreichischen Arbeiterschaft zu schaffen.

Kautskys Büchlein polemisiert gegen den Vorschlag, den Parlamentarismus zu ersetzen durch die direkte Gesetzgebung durch das Volk. Darum ist es Kautskys wichtigste Aufgabe zu zeigen, dass der Parlamentarismus unentbehrlich ist. Damit sind die Schranken bestimmt, die Kautsky sich in dieser Arbeit gesetzt hat. Er musste die Utopie bekämpfen, die an die Stelle des Parlamentarismus die direkte Volksgesetzgebung setzt; aber darüber ist der Nachweis, dass die direkte Volksgesetzgebung eine wertvolle Ergänzung des Parlamentarismus sein kann, ein wenig zu kurz gekommen. Uns scheint das sehr bedauerlich zu sein. Denn in dem einzigen Land, in dem die Frage der direkten Volksgesetzgebung eben jetzt erörtert wird, in England, hat die Arbeiterpartei zu dieser Frage eine, wie wir glauben, den Interessen des Sozialismus nicht entsprechende Stellung gewählt; Kautsky hätte der Sache des Sozialismus in England vielleicht einen grossen Dienst erwiesen, wenn er die fadenscheinigen Argumente Ramsay Macdonalds zerrissen und den Nachweis geführt hätte, dass gerade in England alles, was die Starrheit des parlamentarischen Parteiensystems bedroht, also wohl auch das Referendum, die Loslösung der Arbeiterklasse von den bürgerlichen Parteien fördern würde.

Im Deutschen Reich und in Oesterreich ist die Frage des Referendums nicht aktuell. Hier empfinden wir viel mehr eine andere Lücke in Kautskys Arbeit. Kautsky weist nämlich zwar die Unentbehrlichkeit des Parlamentarismus überzeugend nach, aber er hat darauf verzichtet zu zeigen, wie sich die Funktion des Parlamentarismus im Laufe der jüngsten kapitalistischen Entwicklung verändert. Im Zeitalter des Imperialismus trägt der Parlamentarismus ganz andere Charakterzüge als im Zeitalter des Liberalismus. Ein Nachweis dieser inneren Umgestaltung wäre eine wertvolle Ergänzung zu Kautskys Arbeit.

Kautsky schickt der Neuausgabe seiner Schrift eine Vorrede voraus, die zu den Problemen der Partei- und der Gewerkschaftsorganisation, zu den Verfassungsproblemen der Arbeiterorganisationen selbst in einer, wie wir glauben, überaus glücklichen Weise Stellung nimmt. Seit einigen Monaten wird im Deutschen Reich eine lebhafte Diskussion über das Verhältnis der „Masse“ zu den „Führern“ in den Arbeiterorganisationen geführt. Diese Diskussion ist durch mannigfache Irrtümer irregeleitet worden. Zunächst hat man nicht selten den Gegensatz zwischen lokalen Sonderinteressen und dem allgemeinen Brancheninteresse fälschlich als einen Gegensatz zwischen Demokratie und Bureaukratie hingestellt. Uns dünkt dieser Irrtum sehr bedenklich und wir waren sehr erstaunt, die Verfechtung lokaler Selbstbestimmung gegenüber dem Gesamtwillen der grossen nationalen oder internationalen Gesamtorganisation gerade als „marxistisch“ hingestellt zu sehen. Denn der Marxismus ist – das zeigt seine ganze Geschichte – von Geburt aus zentralistisch. Die Interessen der Gesamtbewegung gegen alle lokalen, nationalen und beruflichen Sonderinteressen zu vertreten, macht schon das Kommunistische Manifest zu unserer Aufgabe. Und gerade der Marxist darf nicht verkennen, dass die Verschärfung der Klassengegensätze, die Ausweitung der gewerkschaftlichen Kämpfe, die Tendenz zu immer gewaltigeren Massenkämpfen ganz unvermeidlich dazu führt, die lokale und die berufliche Autonomie in den Gewerkschaften einzuengen. Kautsky hat nun die irregeleitete Diskussion erst auf den rechten Boden geführt, indem er das Problem nicht darin sieht, die Autonomie des einzelnen Ortes oder des einzelnen Berufes gegen die Leitung der Gesamtorganisation zu stärken, vielmehr darin, die Leitung der Gesamtorganisation möglichst wirksam unter die Kontrolle der gesamten Mitgliedschaft zu stellen. Und wir teilen ganz seine Ansicht, dass dies nur durch den Ausbau parlamentarischer Institutionen innerhalb unserer Organisation geschehen kann.

Auch für uns in Oesterreich haben diese Organisationsfragen eine grosse Bedeutung, und zwar, wie ich glaube, für die Partei noch mehr als für die Gewerkschaften. Die Demokratisierung unseres Parteilebens wird immer mehr ein Bedürfnis unserer Bewegung. Wir dürfen die Entscheidung über wichtige Parteifragen nicht einer kleinen Zahl noch so bewährter Parteigenossen überlassen; jedes einzelne Parteimitglied muss bei wichtigen Entscheidungen mitberaten und mitbeschliessen. Darum ist es notwendig, dass sich unsere Genossen für die Probleme der Parteiverfassung mehr als bisher interessieren. Die Lektüre von Kautskys Schrift wird ihnen dazu zweifellos viele wertvolle Anregungen geben.

 


Leztztes Update: 6. April 2024