Otto Bauer

Zum Maitag des Wahlkampfes

(1. Mai 1911)


Der Kampf, Jg. 4 8. Heft, 1. Mai 1911. S. 337–345.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Festtag und Kampftag zugleich ist uns der 1. Mai: das Fest der Siege sonder Zahl und Gleichen, die wir errungen seit jenem ersten Mai, der vor einundzwanzig Jahren den ersten grossen Aufmarsch des Proletariats gesehen; der Tag des Kampfes, in dem wir stehen, der Kämpfe, denen wir entgegengehen, der Kämpfe, die nicht enden können bis zu jenem letzten Kampfe, von dem das Lied sagt:

„Es ist der letzte Kampf. Brüder, schliesst die Reih’n!
Die Internationale wird die Menschheit sein.“

Ein Tag der Erinnerung ist der 1. Mai. An die Maitage der letzten Jahre denken wir: an den 1. Mai 1905, da namenlose Hoffnung uns ergriff ob des blutgeweihten Erwachens der Brüder in Russland; an den 1. Mai 1906, da wir in Oesterreich mitten im grossen Wahlrechtskampfe standen; an den 1. Mai 1907, da wir im Wahlkampf standen wie heute. Und in die Zukunft schweift der Blick – zu den Maientagen kommender Zeiten, die uns vorwärtstragen müssen, vorwärts bald in zähem Ringen, bald in stürmischem Lauf, vorwärts über Berg und Tal, vorwärts bald mit der sinkenden Welle ringend, bald wieder von der Flut mächtig emporgetragen; aber vorwärts immer, trotz alledem!

Ein Tag der Erinnerung ist uns der 1. Mai. An Siege und an Niederlagen, an Hoffnungen und an Enttäuschungen denken wir. Das Bild der Ereignisse, die wir erlebt, soll heute an uns vorüberziehen! Denken wir uns wieder zurück in die Zeit des grossen Wahlrechtskampfes, in die Zeit der Maitage von 1905, von 1906, von 1907! Suchen wir zu begreifen, was sie uns gebracht haben, was ihnen gefolgt ist, folgen musste kraft der ehernen Gesetze der Geschichte! Aus der Erkenntnis der Vergangenheit quillt uns die Hoffnung unserer Zukunft!
 

Maitage des Sieges

Drei geschichtliche Tatsachen haben den Vorstoss der Demokratie, dessen Erinnerung sich uns mit den Maitagen von 1905, von 1906 und 1907 verknüpft, herbeigeführt: der ungarische Militärkonflikt, die russische Revolution und der Zusammenbruch des österreichischen Privilegienparlaments infolge der nationalen Obstruktion.

In Ungarn war die altliberale Mehrheit gestürzt. Die „Koalition“ hatte die Mehrheit im Parlament erobert. Sie strebte nach der Trennung der ungarischen Truppenkörper von der gemeinsamen Armee. Der König von Ungarn widersetzte sich diesen Plänen. Die Mehrheit des Privilegienparlaments lehnte die Ansprüche der Heeresverwaltung ab. In diesem Konflikt zwischen der Krone und dem Privilegienparlament appellierte die Krone an die vom Reichstagswahlrecht ausgeschlossenen Volksmassen: an die magyarischen Bauern und Arbeiter, an die nichtmagyarischen Nationen. Der König von Ungarn proklamierte das allgemeine Wahlrecht als das Programm der Krone, um den Widerstand des Privilegienreichstages zu brechen. Dadurch wurde die Wahlrechtsfrage auch für Oesterreich auf die Tagesordnung gestellt. Was Ungarn recht, ist Oesterreich billig. Kann der Kaiser von Oesterreich verweigern, was der König von Ungarn verlangt? Mit dieser Parole begann die österreichische Arbeiterschaft im Sommer 1905 den Wahlrechtskampf.

Die Ereignisse in Russland gaben ihm starke Nahrung. Auf den Schlachtfeldern der Mandschurei war der Zarismus zusammengebrochen. In den Städten und Industriebezirken Russlands erhob sich die Revolution. Am 22. Jänner 1905 empfing der Zar mit Maschinengewehrsalven den Bittzug der streikenden Arbeiter, die der Pope Gapon zum Winterpalais führte. Die blutige Lehre rüttelte die Massen auf: die als bittende Untertanen gekommen waren, kehrten als trotzige Revolutionäre zurück. Eine ungeheure Streikwelle ergoss sich über das Riesenreich. Im Oktober 1905 setzte der Generalstreik alle Fabriken, Handelshäuser, Eisenbahnen, Telegraphendrähte still. Die Bauern rebellierten, die Soldaten meuterten. Am 30. Oktober 1905 beugte der Zar zum erstenmal sein Haupt vor der Revolution: die Verfassung wurde proklamiert. Die Verwaltungsmaschinerie war zerrüttet, der Arbeiterdeputiertenrat war für einige Wochen der wahre Herr in Petersburg. Die russischen Ereignisse wirkten auf Oesterreich ein. Sie stärkten den Kampfesmut der Arbeiter, sie versetzten die Herrschenden in Furcht und Schrecken. Am 3. November 1905, drei Tage nach dem Verfassungsmanifest des Zaren, teilte die Regierung Gautsch mit, dass sie dem Parlament die Wahlreform vorlegen werde.

In Oesterreich selbst fand der Wahlrechtskampf, der unter dem Druck der ungarischen und der russischen Ereignisse eingesetzt hatte, schwachen Widerstand. Seit dem Jahre 1897 hatte die nationale Obstruktion die Kraft und das Ansehen des Privilegienparlaments untergraben. Unter Badeni und Thun hatten die Deutschen, unter Koerber die Tschechen die parlamentarische Arbeit gehindert. Alles sehnte sich nach neuen Wegen.

Unter solchen Umständen führte die Arbeiterklasse ihren Wahlrechtskampf. Er begann mit der Demonstration vom 30. Oktober 1905, er empfing zwei Tage später in der Babenbergerstrasse in Wien seine Bluttaufe, er sah Barrikaden am 5. November in Prag, er gipfelte in der Arbeitsruhe vom 28. November in allen Städten Oesterreichs. Er brach schliesslich den letzten Widerstand im Sommer 1906 mit der Drohung des Massenstreiks. Das Wahlrecht wurde erobert. Als Sieger des Wahlrechtskampfes gingen wir in den Wahlkampf. Ein gewaltiger Wahlsieg krönte den grossen Kampf. Siebenundachtzig Sozialdemokraten zogen in das Parlament ein.

Die erste Wirkung der Wahlreform war die Bildung eines parlamentarischen Ministeriums der bürgerlichen Parteien. Hatten bisher Feudale und Bureaukraten uns regiert, so nahm nun die Bourgeoisie der drei grössten Nationen die Regierung des Staates selbst in die Hand. Auf der Ministerbank, wo stets nur hochmütige Adelige, volksfeindliche Bureaukraten gesessen, nahmen nun die Erwählten der Bürger und Bauern Platz: Vertrauensmänner des Bürgertums, wie Prade und Gessmann, Vertrauensmänner der Bauern wie Schreiner und Ebenhoch. Das Ministerium Beck bedeutete den Uebergang der Regierung aus den Händen der kaiserlichen Beamtenschaft in die Hände der Parlamentsmehrheit, den Uebergang der Macht von den Feudalen und Bureaukraten an die Parteien der Bürger und Grossbauern. Die Wahlreform hat das Staatsruder der bürgerlichen Demokratie übergeben. Oesterreich schien mit einem Schlage auf der Höhe der politischen Entwicklung Englands, Frankreichs, Italiens erhoben.

Das Wesen dieser Regierung zeigt deutlich das grösste Gesetzgebungswerk, das sie vorbereitet und dem Parlament vorgelegt hat: die Vorlage über die Sozialversicherung. Sie zeigt uns in vielen Bestimmungen den bürgerlichen, arbeiterfeindlichen Charakter der bürgerlichen Demokratie; so in dem Versuch, die Selbstverwaltung der Versicherten einzuschränken, die Unfallversicherungsanstalten auf Kosten der Krankenkassen zu entlasten, die Lasten der öffentlichen Gesundheitspflege auf die Krankenkassenbeiträge der Arbeiter abzuwälzen. Sie zeigt uns, dass die Parteien, die das Staatsruder ergriffen hatten, im städtischen und im ländlichen „Mittelstand“ ihre stärksten Stützen hatten; davon zeugt der kühne und originelle, aber gefährliche Versuch, mit der Arbeiterversicherung die obligatorische Altersversicherung der „Selbständigen“ zu verknüpfen. Zugleich aber zeigt diese Vorlage doch auch den demokratischen Charakter der Regierung, deren Mitglieder sich den Wählern desgleichen Stimmrechts verantwortlich fühlten; in der weiten Ausdehnung des Kreises der Versicherten, wobei neben Landarbeitern und Heimarbeitern auch die Hausnäherin, die Wäscherin nicht vergessen wurden, in der Höhe des Staatszuschusses zur Altersrente (Oesterreich: 90 K, Deutschland 60 Mk.) übertrifft der Entwurf weitaus die ausländischen Vorbilder.

So hatte uns die Wahlreform einen gewaltigen Fortschritt gebracht. Hoffnungsfroh erwarteten wir am Maitag 1908 eine Aera der bürgerlichen Demokratie und der sozialen Reform. Aber diese Hoffnung ist bald enttäuscht worden. Der Wahlrechtskampf des Proletariats hatte die bürgerliche Demokratie ans Ruder gebracht; aber sie war nicht imstande, das Staatsruder festzuhalten. Dem Vorstoss der Demokratie folgte bald der Gegenzug der volksfeindlichen Mächte. Dem Maitag des Sieges sind stürmische Herbsttage gefolgt.
 

Der Gegenzug der Reaktion

Vom Ausland her war der Anstoss zum Wahlrechtskampf gekommen. Vom Ausland her kam der Anstoss zu der grossen Wendung der letzten Jahre.

In Ungarn hat die Parole des allgemeinen Wahlrechts ihre Schuldigkeit getan. Die Grundherrenklasse, die eben noch dem König getrotzt hatte, zog es nun vor, sich mit der Krone zu versöhnen, um der drohenden Wahlreform zu entgehen. Das Koalitionsministerium fiel. Die neugebildete „Nationale Arbeitspartei“ übernahm unter Khuens und Tiszas Führung die Regierung. Der König von Ungarn hatte das gleiche Wahlrecht gefordert, der Kaiser von Oesterreich hatte es bewilligt, als die magyarische Grundherrenklasse sich seinem Willen widersetzte; jetzt, da das ungarische Parlament die Forderungen des Militarismus wieder gehorsam bewilligt, brauchen die Herrschenden den Bund mit der Demokratie nicht mehr. In Ungarn wird die Wahlreform verschleppt, in Oesterreich regiert wieder der § 14.

Als in Russland die Revolution triumphierte, gaben die Herrschenden auch in Oesterreich dem Willen des Volkes nach. Heute ist die russische Revolution geschlagen. Der zarische Galgen regiert wieder die Völker Russlands. In Oesterreich regiert der § 14.

So haben die Triebkräfte, die von aussen her die Demokratisierung Oesterreichs förderten, zu wirken aufgehört. Statt ihrer wirken nun vom Ausland neue Kräfte ein, die der Demokratie feindlich entgegentreten.

Die persische und die türkische Revolution haben den ganzen Orient in einen Zustand der Unruhe versetzt. Die kapitalistischen Grossmächte blicken gierig nach dem Osten, wo neue Möglichkeiten grosskapitalistischer Raubpolitik sichtbar werden. Sie beschleunigen ihre Rüstungen, um im entscheidenden Augenblick mit dem Schwerte in der Hand neue Märkte, neue Anlagegebiete ihrem Kapital erobern zu können. England und Deutschland beginnen mit dem Bau der Dreadnoughts, die anderen Staaten folgen. Die Grossmächte stärken ihre Bündnisse: Russland schliesst sich England und Frankreich an, Oesterreich-Ungarn festigt seinen Bund mit dem Deutschen Reich. In dieser kriegsschwangeren weltpolitischen Lage greift auch Oesterreich-Ungarn tatkräftiger als im früheren Jahrzehnt in die europäische Politik ein. Es bewirbt sich um den Bau der Sandschakbahn, es annektiert Bosnien, es demütigt Serbien. Es stärkt seine Rüstung an der italienischen, der serbischen, der albanischen Grenze, es rüstet sein Landheer mit Maschinengewehren und neuen Kanonen aus, es beginnt den Bau der Dreadnoughts.

Als die Herrschenden die Bahn dieser Politik betraten, erschien ihnen die Regierung Beck als ein unbrauchbares Werkzeug. Aus der bürgerlichen Demokratie hervorgegangen, um die Stimmung der Wählerschaft besorgt, hätte die Regierung Beck die neuen Heereslasten und die zu ihrer Bedeckung erforderlichen neuen Steuern nur gegen gewichtige Zugeständnisse an die Völker durchsetzen können. Bei ihrem ersten Versuch, militärische Forderungen durchzusetzen, hat sich das deutlich gezeigt. Wohl hat die bürgerliche Mehrheit im Juli 1908 die Erhöhung des Rekrutenkontingents der Landwehr um 4.700 Mann beschlossen. Aber der Militarismus musste diese Bewilligung teuer bezahlen: die Abschaffung der Waffenübungen im elften und zwölften Dienstjahr, die Bewilligung von dreiwöchigen Ernteurlauben an die aktive Mannschaft und die Bewilligung von Unterhaltsbeiträgen an die zu Waffenübungen einberufenen Reservisten und Ersatzreservisten – das war der Preis, den der Militarismus im Juli 1908 für die Stärkung der Landwehrkaders zugestehen musste. Die Herrschenden waren davon nicht erbaut. Die Stellung Becks war erschüttert. Die Herrschenden sahen sich nach einer Regierung um, die Maschinengewehre, Kanonen, Dreadnoughts ohne Zugeständnisse an die Demokratie zu liefern bereit wäre. Beck fiel, Bienerth wurde Ministerpräsident. Seine Regieeng ist keine parlamentarische Regierung mehr, wie die Regierung Beck es gewesen, sondern eine altbureaukratische Regierung, die dem Parlament fremd, feindlich gegenübersteht. Sie regiert mit dem Parlament, solange es ihr pariert; sie schickt es nach Hause, wenn es widerspenstig wird. Sie hat die Schatzscheine ohne die Bewilligung des Parlaments begeben, die Dreadnoughts bauen lassen, ohne das Parlament zu fragen, sie hat schliesslich das Parlament aufgelöst und sich mit dem § 14 Steuern und Rekruten selbst bewilligt. Die bürgerliche Demokratie, die durch die Wahlreform zur Macht geführt wurde, ist entthront; die altösterreichische Bureaukratie sitzt wieder am Staatsruder. Die Maitage der Jahre 1909 und 1910 sahen uns wieder im Kampfe gegen die Bureaukratie.
 

Der Bankerott der bürgerlichen Demokratie

Der Kampf zwischen der Fürstengewalt und ihren Stützen, dem Heere und der Bureaukratie, auf der einen, dem Volk auf der anderen Seite, war der politische Inhalt der bürgerlichen Revolution von 1789 bis 1870. In diesem Kampfe war überall das System der parlamentarischen Regierung das Ziel der bürgerlichen Demokratie.

In England, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern hat die bürgerliche Demokratie dieses Ziel erreicht; dort ist die Regierung nichts anderes mehr als ein Ausschuss der Parlamentsmehrheit. Durch diesen Ausschuss regiert die Bourgeoisie den Staat.

In Preussen hat die Bourgeoisie, in der Fortschrittspartei organisiert, in den Sechzigerjahren den Kampf für das parlamentarische Regierungssystem geführt. Sie ist in diesem Kampf von Bismarck geschlagen worden. Das Junkertum und die Bureaukratie hielten die Verwaltung mit eiserner Hand fest, dem Zugriff der Parlamentsmehrheit entzogen. Der König von Preussen lehnt die Zumutung ab, sich seine Minister von der Parlamentsmehrheit bestellen zu lassen. Aber gerade in den letzten Jahren erneuert der deutsche Liberalismus wieder den Versuch, das parlamentarische Regierungssystem zu erringen. Nach dem Zusammenbruch des Bülow-Blocks ist die Herstellung eines „Blocks der Linken“, der im Reiche und in Preussen die Herrschaft ergreifen soll, die Hoffnung der bürgerlichen Demokratie Deutschlands.

So ist das System der parlamentarischen Regierung die klassische Regierungsform der bürgerlichen Demokratie: das Ergebnis ihrer Siege in den Staaten des Westens, das Ziel ihrer Kämpfe in Deutschland und Russland. In Oesterreich hat die bürgerliche Demokratie dieses Ziel erlangt als die Frucht unseres Wahlrechtskampfes: das Proletariat hat sie in den Sattel gehoben! Aber sie hat nicht zu reiten vermocht. Fast ohne Widerstand hat sich die bürgerliche Demokratie nach Becks Sturze die Regierungsgewalt wieder entreissen lassen.

Diese sonderbare Erscheinung, der die ganze Geschichte der bürgerlichen Demokratie wenig Aehnliches zur Seite zu stellen vermag, ist zunächst darauf zurückzuführen, dass der mächtigste Teil der Bourgeoisie sich der bürgerlichen Demokratie überhaupt entfremdet hat. Das Grosskapital und der Grossgrundbesitz fühlten sich durch die bürgerliche Demokratie bedroht. Was konnte sie ihnen geben? Ihre Steuerreformen hätten dem Grossbesitz grössere Lasten auferlegt, ihre Sozialpolitik sollte ihn mit Beiträgen zur Sozialversicherung belasten, ihre Wirtschaftspolitik hätte seine Kartellprofite gefährdet. Bei einer bureaukratischen Regierung, die vom Parlament wenig, von den grossen Gläubigern des Staates weit mehr abhängig ist, glaubt das Grosskapital seine Interessen besser geborgen. So begannen die Organe dieser Klassen den Kampf gegen die Regierung Beck. Die Neue Freie Presse, das Organ des Grosskapitals, und das Vaterland, das Organ des Grossgrundbesitzes, haben den Kampf gegen Beck eröffnet, sie sind die treuesten Stützen Bienerths.

Aber warum ist die Masse der mittleren und kleinen Bourgeoisie, die Masse der Kleinbürger und Bauern der Parole gefolgt, die das Grosskapital und der Grossgrundbesitz ausgegeben haben? Warum finden die Losungen der grosskapitalistischen Presse und des feudalen Vaterland so bereitwillige Aufnahme in den Blättern des deutschen Kleinbürgertums in allen Ländern Oesterreichs? Warum hat in Oesterreich die bürgerliche Demokratie selbst das parlamentarische Regierungssystem preisgegeben, das doch sonst überall ihr höchstes Ziel ist?

Wir kennen alle die Antwort auf diese Fragen. Es ist der nationale Kampf, der die Regierung der bürgerlichen Demokratie in Oesterreich unmöglich macht.

Die Verantwortung für das Scheitern der bürgerlichen Demokratie tragen zunächst die tschechischen und die slowenischen bürgerlichen Parteien. Sie haben nach Becks Sturze die Neubildung eines parlamentarischen Ministeriums scheitern lassen, weil man ihnen nicht um einen Ministerposten mehr gewähren wollte. Sie haben später die Neubildung eines parlamentarischen Ministeriums mit den Waffen der Obstruktion erpressen wollen und haben dadurch die Macht des Parlaments erst recht geschwächt, die bureau-kratische Regierung nur befestigt. Weil ihr Anteil an der gemeinsamen Regierung der bürgerlichen Demokratie ihnen zu klein erschien, haben sie, die Demokraten, die Regierung der Demokratie überhaupt unmöglich gemacht und die Macht der Bureaukratie ausgeliefert.

Nicht minder schwere Schuld belastet die deutschen und die polnischen bürgerlichen Parteien. Weil die bureaukratische Regierung den Tschechen verfeindet war, haben die Deutschen sie für eine „deutsche Regierung“ erklärt und sie rückhaltlos unterstützt, mochte sie die wirtschaftlichen, die kulturellen, die politischen Interessen des deutschen Bürgertums noch so oft verletzen. Weil sie die parlamentarische Regierung mit den Tschechen teilen müssten, ziehen sie es vor, sich von der Bureaukratie regieren zu lassen. Die Bewilligung aller Forderungen der „deutschen“ Regierung der Bureaukratie gilt jetzt als nationale Pflicht: wenn die Deutschen die Dreadnoughts nicht bewilligen, würde ja Bienerth fallen und ein anderer Bureaukrat von einer tschechisch-polnisch-slowenischen Mehrheit die Dreadnoughts bekommen. So haben die Herrschenden zwei Eisen im Feuer: sie können heute jede Forderung bei der deutsch-polnischen Mehrheit durchsetzen mit der Drohung, sonst würde eine neue tschechisch-polnisch-slowenische Regierungsmehrheit gebildet; sie werden morgen von einer tschechisch-polnisch-slowenischen Mehrheit alles erlangen können, wenn sie ihr drohen, eine deutsch-polnische Mehrheit werde sie wieder ablösen. Die Herrschenden haben ihr Ziel erreicht: sie brauchen Militärforderungen nun nicht mehr so teuer zu bezahlen, wie Beck die Stärkung der Landwehrkaders bezahlen musste. Die deutsch-polnische Mehrheit liefert die Dreadnoughts umsonst.

So hat die bürgerliche Demokratie abgedankt. Die Krone ernennt die Minister wieder, ohne die Parlamentsparteien zu befragen. Die Heeresverwaltung setzt ihre Forderungen mühelos durch, ohne den Volksmassen Zugeständnisse machen zu müssen. Eine Parlamentsmehrheit ist stets zur Stelle – die deutsch-polnische so gut wie die tschechisch-slowenische Koalition der nationalen Bourgeoisien ist bereit, alle Regierungsforderungen zu erfüllen, um nur die andere nationale Koalition ausserhalb der Regierungsmehrheit zu erhalten. Die Episode der bürgerlichen Demokratie ist beendet. Die Krone, der Generalstab und die Bureaukratie regieren wieder Oesterreich.
 

Klassenkampf!

Der Bankerott der bürgerlichen Demokratie ist keine neue Erscheinung. Die Geschichte der Bourgeoisie ist die Geschichte ihres Verrates an der Demokratie.

Im Jahre 1848 hat die österreichische Bourgeoisie den Kampf gegen den altösterreichischen Absolutismus begonnen. Sie hat am 13. März triumphiert. Aber am Tage nach ihrem Sieg ging sie in das Lager der Besiegten über. Die besitzenden Klassen flüchteten unter den Schutz der Bajonette Windischgrätz’ und Radetzkys, als das Proletariat seinen Teil an den Früchten der Revolution forderte. Deutsche und Tschechen, Polen und Ruthenen, Südslawen und Italiener, Magyaren und Rumänen banden ihre Kräfte im nationalen Kampf, weil keine Nation der anderen ihren Teil an den Errungenschaften der Revolution gönnte. Bo hat die Bourgeoisie die Kraft der Revolution gebrochen. Die Reaktion triumphierte. Mit zehn Jahren des klerikalen Absolutismus haben die Völker den Verrat der Bourgeoisie gebüsst.

Im Jahre 1859 brach der Absolutismus zusammen. Aber die Bourgeoisie begann wieder das alte Spiel. Die deutsche Bourgeoisie verbündete sich unter Schmerling, unter dem Bürgerministerium und unter dem Doktorenministerium mit der Bureaukratie, sie stützte ihre Macht auf Wahlrechtsprivilegien, sie behauptete sie mit brutaler Polizeigewalt. Die tschechische Bourgeoisie verbündete sich unter Goluchowski, unter Hohenwart, unter Taaffe mit den Feudalen, sie stützte den Klerikalismus, sie machte die Polizeigewalt, die sich gestern noch gegen sie selbst gekehrt hatte, zum Werkzeug ihrer eigenen Macht.

Dasselbe Spiel hat sich seit 1907 zum drittenmal wiederholt. Wieder war die Bourgeoisie zur Macht geführt. Wieder hat sie die Macht in die Hände der altösterreichischen Reaktion zurückgelegt. Zum drittenmal hat sie die Sache der Demokratie verraten.

Der Kampf gegen die Reaktion- muss geführt werden als ein Kampf gegen den Verrat der Bourgeoisie. Der Kampf um die Demokratie wird zum Klassenkampf.

Die Verschärfung der Klassengegensätze, die Frucht der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre, ist die Basis dieses Kampfes.

Die Kapitalisten sind sich ihrer Macht bewusst geworden. Ihre Unternehmerverbände treten unseren Gewerkschaften gegenüber. Mit brutalem Terrorismus suchen sie die Kraft der Arbeiter zu brechen. Sie pressen die Arbeiter in die gelben Gewerkschaften, sie organisieren die Ueberläufer des Proletariats in „nationale Arbeiterparteien“, sie betreiben gegen den bescheidensten Fortschritt der sozialen Gesetzgebung eine leidenschaftliche Agitation.

Breite Schichten des „Mittelstandes“ wurden dem Kapital näher gerückt. Die Bankfilialen verlocken Gewerbetreibende, Landwirte, Beamte zur Börsenspekulation; als Aktionäre fühlen sich die Mittelklassen am Kapitalprofit beteiligt. Vom Steigen und Sinken der Skoda-Aktien sieht ein beträchtlicher Teil der Mittelklassen seine Interessen berührt. Die Vertreter der Gewerbetreibenden werden Bankgründer und Verwaltungsräte. Landwirtschaftliche Genossenschaften verwenden die Ersparnisse der Bauern zu den kühnsten Börsenspekulationen. So sammelt der Kapitalismus in den Mittelklassen ein zahlreiches Gefolge um sich.

Gewerbetreibende, durch die Erfolge der Gewerkschaften geschreckt, die auch ihnen höhere Löhne abringen; Kleinhändler, die die Konkurrenz der Konsumvereine fürchten; Landwirte, die höheren Lohn bezahlen müssen, weil die Leutenot ihnen die Arbeiter entzieht – sie alle suchen die Bundesgenossenschaft des Grosskapitals zum Kampfe gegen die Arbeiter.

Die bürgerlichen Parteien haben die Macht der Reaktion wieder ausgeliefert. Die besitzenden Klassen haben sich in der Gefolgschaft des Grosskapitals vereinigt. Politisch und sozial steht uns der Heerbann der Regierung, die Gefolgschaft des Grosskapitals geeint gegenüber. Im Zeichen des Klassenkampfes feiern wir den 1. Mai. Der Klassenkampf wird der Inhalt des Wahlkampfes sein.
 

Für den Sozialismus!

Mit dieser Entwicklung tritt auch das letzte Ziel des proletarischen Klassenkampfes anschaulicher als jemals zuvor uns vor Augen.

Der Kapitalismus steigert seine Macht. Er vollendet sein ungeheures Werk der Umwälzung. Er bereitet die Bedingungen seiner Ueberwindung vor.

Wir brauchen bloss die Geschichte eines einzigen Jahres zu überblicken – des Jahres vom letzten bis zu diesem Maitag – um zu erkennen, wie schnell auch in Oesterreich die Konzentration des Kapitals fortschreitet.

Werfen wir einen Blick auf die Eisenindustrie! Die Prager Eisenindustriegesellschaft hat im letzten Jahre die Böhmische Montangesellschaft vollends aufgesaugt. Die Alpine Montangesellschaft hat ihren dritten Hochofen in Donawitz errichtet, sie nimmt heuer den vierten in Bau; das Donawitzer Stahlwerk wird erweitert, ein neues Walzwerk ist im Bau, die Anlagen für die Erzförderung in Eisenerz, für die Kohlenförderung in Fohnsdorf und Seegraben werden erweitert. Die Investitionsausgaben werden ohne Vermehrung des Aktienkapitals aus den Erträgnissen der Werke bestritten. Die Oesterreichische Berg- und Hüttenwerksgesellschaft hat die Kuxe der Kohlengewerkschaft Marie Anne gekauft. Sie ist zum grössten Steinkohlenproduzenten Oesterreichs geworden. Das Witkowitzer Werk, das Rothschild und Gutmann gehört, wurde mächtig ausgestaltet; seine neue Panzerplattenfabrik liefert den neuen Riesenkriegsschiffen ihre Wehr.

Mit dem Erstarken der grossen Eisenwerke wächst die Macht des Eisenkartells. Seine Kraft hat sich in diesem Jahre bewährt. Ein paar Wochen lang schien es von Gefahren bedroht. Einige Aussenseiter – die Freistädter Stahl- und Eisenwerke, das Traisener Werk, die böhmischen Werke in Rokitzan, Hradek und Gross-Osseg – bereiteten ihm unerwünschte Konkurrenz. Die Firma Albert Hahn in Oderberg, durch den Kartellvertrag nur bis 1912 gebunden, drohte, sie werde aus dem Kartell ausspringen und das Roheisen, das sie von Witkowitz bezieht, selbst zu erzeugen beginnen, wenn ihr nicht ein grösserer Anteil an der Stabeisenerzeugung zugewiesen und billigeres Roheisen geliefert würde. Das Auftauchen neuer Aussenseiter schien zu drohen: ein rheinisch-westfälisches Werk wollte in Freistadt ein neues Eisenwerk errichten. Aber das Eisenkartell ist mit diesen Gefahren schnell fertig geworden. Es stellte seinen Aussenseitern das Ultimatum: wenn ihr nicht bis zum 1. Juli 1910 unsere Bedingungen annehmt, setzen wir die Preise herab und zwingen euch im Konkurrenzkampf zu Boden. Die Drohung wirkte. Die Aussenseiter traten dem Kartell zu den von ihm diktierten Bedingungen bei, die Firma Hahn verlängerte den Kartellvertrag bis 1917, der Bau des neuen Freistädter Werkes unterbleibt. Bis zum Jahre 1917 ist dem Kartell die Alleinherrschaft auf dem Markte gesichert.

Nicht minder schnell als in der Eisenindustrie vollzieht sich die Konzentration des Kapitals in der Maschinenindustrie. Zunächst wurde die Prager Maschinenbau-Aktiengesellschaft, vormals Ruston u. Komp., mit der Firma Bromowsky, Schultz und Sohr verschmolzen. Der Rustonsche Betrieb in Karolinenthal-Lieben wird aufgelassen, die Produktion nach Königgrätz übertragen. Dann hat die auf diese Weise entstandene Firma die Maschinenfabrik der Firma Ringhoffer, die gleichzeitig in eine Aktiengesellschaft verwandelt wurde, gekauft; auch dieser Betrieb wird eingestellt, die Produktion nach Königgrätz und Adamsthal übertragen. Zugleich wurden von Ringhoffer auch die Aktien der Maschinenfabriks-Aktiengesellschaft Tanner, Laetsch und Komp, übernommen, die Ringhoffer von der Kreditanstalt erworben hatte. So wurde aus vier Maschinenbauunternehmungen (Ruston, Bromowsky, Ringhoffer, Tanner) eine einzige zusammengeschweisst, die jetzt über nicht weniger als 24 Prozent der ganzen Produktion des Maschinenkartells verfügt. Neben ihr bestehen in der Maschinenindustrie noch zwei grosse Unternehmungen: die Maschinenbau-Aktiengesellschaft Breitfeld, Danek u. Komp., mit 20 Prozent und die Erste Brünner Maschinenfabriksgesellschaft mit 15 Prozent der kartellierten Produktion. 59 Prozent der ganzen Maschinenproduktion sind bereits in den Händen der drei grössten Unternehmungen!

Die österreichische Maschinenindustrie befindet sich auf dem Wege zum Trust, zur vollständigen Aufsaugung aller Betriebe durch ein einziges Riesenunternehmen. Dabei sind die Grossbanken, die als Grossaktionäre und grosse Gläubiger die Maschinenfabriken regieren, gleichzeitig auch die Beherrscher der grossen Eisenwerke. Ein Riesentrust, der die ganze Eisen- und Maschinenindustrie vom Erzbergbau und Hochofen bis zum Bau der vollkommensten Maschine umspannt, bereitet sich allmählich vor.

Aehnliche Ereignisse haben wir in anderen Industriezweigen erlebt. Die gewaltigste Umwälzung hat im letzten Jahre die Zuckerindustrie erfahren. Zunächst hat die Bodenkreditanstalt die Zuckerfabriken zweier grosser Privatunternehmungen, der Firma Schoeller u. Komp, und der Firma Redlich und Berger, in Aktiengesellschaften verwandelt. Gleichzeitig haben die anderen Grossbanken ihre .Macht in der Zuckerindustrie gestärkt. Die Kreditanstalt hat die Aktien der Nestonitzer Zuckerraffinerie vom Londoner Rothschild übernommen und die Rohzuckerfabrik in Kaaden in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung verwandelt. Die gleichfalls von der Kreditanstalt beherrschte Peceker Raffinerie hat die Liechtensteinschen Rohzuckerfabriken in Böhmisch-Brod und Pecek gekauft. Die Anglobank gründet im Verein mit der Firma Benies eine neue Zuckergesellschaft, während gleichzeitig die von ihr beherrschte Modraner Zuckerraffinerie die Aktien der Saazer Zuckerfabrik übernommen und die Luzecer Fabrik gekauft hat. Während auf diese Weise die Raffinerien Rohzuckerfabriken erwerben, wird auch der entgegengesetzte Weg betreten: einige Rohzuckerfabriken vereinigen sich in der Absicht, eigene Raffinerien zu erbauen, um den Rohzucker selbst zu verarbeiten. Nun greift das Kartell der Raffinerien ein: es droht, es werde den Zuckerpreis herabsetzen, die „Spannung“ zwischen Raffinade- und Rohzuckerpreis auf 45 K herabdrücken, damit jedem die Lust vergehe, neue Zuckerraffinerien zu bauen. Die Drohung wirkt. Die Rohzuckerfabriken vereinigen sich mit den Raffinerien zu einem Kartell. Sie verzichten auf den Bau eigener Raffinerien, verpflichten sich, ihren Zucker nur den kartellierten Raffinerien zu liefern, und erhalten dafür einen Anteil am Kartellgewinn. Die Kosten bezahlen die Konsumenten.

Auch in der chemischen Industrie schreitet die Kapitalskonzentration fort. Die Familie Miller zu Aichholz hat ihre Sodafabrik in Hruschau, die 2.600 Arbeiter beschäftigt, dem Oesterreichischen Verein für chemische Produktion in Aussig verkauft, in dessen Werken 4.000 Arbeiter fronen. Die Sodaproduktion in Hruschau wird aufgelassen, dagegen die Teerfarbenproduktion dorthin übertragen. Die Aktiengesellschaft Georg Schicht hat mit der Ersten österreichischen Seifensiedergewerksgesellschaft „Apollo“ eine Interessengemeinschaft abgeschlossen; Vertreter des „Apollo“ treten in den Verwaltungsrat der Schicht-Gesellschaft ein.

In einem schnellen Umwälzungsprozess befindet sich die Petroleumindustrie. Englische Kapitalisten haben 64 galizische Rohölschachte gekauft; 68 Prozent der Rohölproduktion des Landes sind schon in ihrer Hand. Das Steigen des Rohölpreises, das die Regierung erzwungen hat, indem sie grosse Mengen Rohöls über dem Marktpreis gekauft und die Unternehmer zur Vereinigung in einem Kartell, dem „Landesverband galizischer Rohölproduzenten“, geradezu gezwungen hat, kommt nun ausländischem Kapital zugute. Während aber der Rohölpreis gestiegen ist, blieb der Preis des raffinierten Petroleums infolge der Konkurrenz des amerikanischen Trusts niedrig. Die Regierung versuchte nun auch die Raffinerien zu einem Kartell zu vereinigen. Um den Widerstand der beiden vom amerikanischen Trust beherrschten Raffinerien in Dzieditz und Limanowa zu brechen, brachte sie ihren Betrieb durch feindselige Verwaltungsmassregeln zum Stillstand. Nun konnten sich aber die österreichischen Raffinerien über die Bedingungen des Kartellvertrages nicht einigen. Aber der Zwang niedriger Petroleumpreise wirkt weiter; das Petroleumkartell ist im Werden.

In allen Zweigen der Industrie wird das Kapital konzentriert. Nur ein paar Beispiele aus dem letzten Jahre! Die Unionbank hat die Internationale Elektrizitätsgesellschaft aufgesaugt. Die Vereinigte Elektrizitätsaktiengesellschaft hat von der Unionbank die Elektrizitätswerke Budweis und Bielitz, die Pölswerke, die Aktien des Elektrizitätswerkes Wels und der Brünner Lokalbahngesellschaft erworben. Die Vereinigten Bugholzmöbelfabriken lassen die Betriebe in Bodenbach, Kaschau und Vrata auf, um die Produktion in den anderen Betrieben zu konzentrieren. Und so weiter!

Die treibenden Kräfte dieses ganzen Prozesses gehen von den Grossbanken aus. Immer fester wird der Bund der Banken mit der Industrie. Die Festlegung ihrer Mittel in den Industriebetrieben zwingt die Banken, ihr Aktienkapital zu vermehren. Im letzten Jahre haben fast alle Banken ihr Aktienkapital vermehrt, so die Länderbank und die Kreditanstalt um je 30, die Anglobank und die Živnostenská Banka um je 20, die Eskomptegesellschaft um 15 Millionen Kronen.

So brauchen wir bloss die Wirtschaftsgeschichte eines einzigen Jahres zu überblicken, um das Grundgesetz des Kapitalismus wirken zu sehen: das Gesetz der Konzentration des Kapitals. Mehr und mehr wird die industrielle Produktion in Grossbetrieben konzentriert, die die kleinen Betriebe aufsaugen. Mehr und mehr konzentriert sich die Herrschaft über das ganze Wirtschaftsleben in den Bureaus der Kartelle, in den Händen der Grossaktionäre, in den Kanzleien der Grossbanken. Mehr und. mehr wird das Grosskapital zum Herrn der Welt. Es diktiert den Arbeitern den Lohn, den Kunden den Preis, es bringt den Staat selbst in drückende Abhängigkeit. Die Ueberwindung der Kapitalsherrschaft wird notwendig: denn die Volksmasse wird die Herrschaft eines Häufleins erfolgreicher Kapitalsmagnaten nicht ertragen. Die Ueberwindung der Kapitalsherrschaft wird möglich: die Riesenunternehmungen, in denen alle Arbeit von Lohnarbeitern und Beamten geleistet wird, sind reif, in den Besitz des Gemeinwesens überzugehen. Je weiter der Kapitalismus fortschreitet, desto deutlicher wird die Enteignung der Kapitalisten, die Ueberführung ihrer Unternehmungen in den Besitz des demokratischen Gemeinwesens zum unmittelbaren Ziel unseres Kampfes.

Das ist’s, was wir wollen. Wir wollen der besitzlosen Klasse, die allein die Enteignung der Kapitalisten durchführen kann, weil sie allein nichts zu verlieren, keine Enteignung zu fürchten hat, die Macht im Staate erobern. Wir wollen den Staat, der das Herrschaftsinstrument der Kapitalisten und der Grundherren ist, verwandeln in ein demokratisches Gemeinwesen des ganzen Volkes. Wir wollen die Kapitalisten und die Grossgrundbesitzer enteignen und ihren Besitz dem demokratischen Gemeinwesen übertragen. Wir wollen diesem Gemeinwesen dienen als Arbeiter in den Betrieben, die ihm gehören werden, aber auch dieses Gemeinwesen regieren als seine vollberechtigten Bürger. So wollen und werden wir Herren unserer eigenen Arbeit, unseres eigenen Schicksals sein. Das ist der „Zukunftsstaat“, nach dem wir ringen; das ist der Sozialismus.

Zum weltgeschichtlichen Ziele führt ein mühevoller Weg. Aber so lang er auch sei, bleibt unser Auge doch auf das Ziel gerichtet. Der Gedanke, dass alles, was wir tun, dem grossen Endziel dient, gibt der bescheidensten Arbeit, die die Pflicht des Tages uns auferlegt, die Weihe der Geschichte. Dieses Gedankens voll, feiern wir den 1. Mai. Dieses Gedankens voll, ziehen wir in den Wahlkampf. Werbearbeit für den Sozialismus – das ist der Gedanke des Maitages, das soll die Arbeit des Wahlkampfes sein.

 


Leztztes Update: 6. April 2024