Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




1. Politische und soziale Revolution


Die politische Revolution hat den Kaiser entthront, das Herrenhaus beseitigt, das Privilegienwahlrecht in Ländern und Gemeinden zerschlagen. Alle politischen Vorrechte sind vernichtet. Alle Staatsbürger ohne Unterschied der Klasse, des Standes des Geschlechtes sind jetzt Bürger gleichen Rechtes.

Aber die politische Revolution ist nur die halbe Revolution. Sie hebt die politische Unterdrückung auf, aber sie lässt die wirtschaftliche Ausbeutung bestehen. Der Kapitalist und der Arbeiter – sie sind rechtlich einander gleich, sie genießen gleiche politische Rechte, aber darum bleibt doch der Kapitalist, der andere Arbeiter; bleibt der Herr von Fabriken und Bergwerken, der andere arm und schutzlos wie eine Kirchenmaus.

Die politische Revolution hebt die wirtschaftliche Ausbeutung nicht auf, sie macht sie vielmehr erst recht fühlbar. Haben wir dazu die Allgewalt des Kaisers gestürzt, um der Allgewallt des Kapitalismus unterworfen zu bleiben? Haben wir dazu die Herrschaft der Generale, Bureaukraten, der Feudalherren gebrochen, um Knechte von Bankdirektoren, Kartellmagnaten, Börsenrittern zu bleiben? So fragen die Arbeitermassen. Die halbe Revolution weckt den Willen zur ganzen. Die politische Umwälzung weckt den Willen zur sozialen Neugestaltung. Der Sieg der Demokratie leitet den Kampf um den Sozialismus ein.

Der Sieg der Demokratie in Mitteleuropa ist das Ergebnis des Krieges, die Folge der Niederlage der Mittelmächte. Der Krieg hat die militärischen Machtmittel der Militärmonarchien zerstört, dem Obrigkeitsstaat seine Zwangsmittel entrissen und dadurch die Demokratie zum Siege geführt. Aber derselbe Krieg hat auch ungeheure wirtschaftliche Umwälzungen hervorgerufen; diese Umwälzungen machen den Sozialismus zu einer unentrinnbaren Notwendigkeit.

Viereinhalb Jahre lang haben die Völker keine Wohnhäuser gebaut, sondern Schützengräben gegraben; keine Maschinen erzeugt, sondern Granaten und Schrapnelle hervorgebracht; nicht den Acker bestellt, sondern Kanonen bedient. Unserem Boden sind die Nährstoffe entzogen, unsere Maschinerie ist verbraucht, unsere Eisenbahnen sind verwahrlost, unsere Kleidung und Wäsche sind zu Lumpen geworden – der ganze Reichtum der Gesellschaft ist zerstört. Die Völker sind durch den Krieg arm, unsäglich arm geworden.

Alle Völker sind arm geworden, aber die Völker Mitteleuropas noch weit mehr als die anderen. Denn wir sind die Besiegten. Wir werden den Siegern Entschädigung für Kriegsschäden bezahlen, Tribut entrichten müssen. So arm wir sind, wir werden von unserer Armut noch eine Riesensteuer entrichten müssen an die anderen, an die Sieger!

Wir werden arbeiten. Aber wofür? Wir werden vorerst arbeiten müssen, um den verwahrlosten Boden vom Unkraut zu reinigen, um die verbrauchten Maschinen durch neue zu ersetzen, um die verelendeten Eisenbahnen wieder in Ordnung zu bringen. Und dann werden wir arbeiten müssen, um all die Waren zu erzeugen, mit den wir den Tribut an die Sieger bezahlen werden. Kann uns unter solchen, Umständen genug Arbeitskraft bleiben, auch noch das in genügender Menge zu erzeugen, was wir für uns selbst brauchen: Nahrung und Kleidung und Wäsche und Wohnungen?

Wir werden arm, unsäglich arm sein. Können wir uns bei solcher Armut noch den Luxus leisten, feisten Prälaten und hochmütigen Grafen, üppigen Kriegsgewinnern und müßigen Rentnern einen Tribut aus dem Ertrag unserer Arbeit zu entrichten? Kann ein Volk, das so arm geworden ist, es noch ertragen, dass der spärliche Ertrag seiner Arbeit so ungleich verteilt wird?

Wir sind zu arm, um noch mit Kapitalisten und Grundherren den Ertrag unserer Arbeit teilen zu können. Es ist schlimm genug, dass wir, in der Form der Kriegsentschädigung, fremden Kapitalisten werden Tribut leisten müssen; wir können nicht neben ihnen auch noch heimlichen Kapitalisten tributpflichtig bleiben. Aus unserer wirtschaftlichen Not gibt es nur

e i n e n Ausweg: den Sozialismus! Der Krieg, der die Demokratie zum Siege geführt hat, er hat uns auch auf den Weg zum Sozialismus gezwungen.

Aber wie können wir zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung kommen? Wie können wir die Fabriken und die Bergwerke, die Forste und das Bauland, den großen Grund- und den großen Kapitalbesitz, die heute Kapitalisten und Grundherren gehören, in das Eigentum der Volksgesamtheit überführen?

Die politische Revolution kann das Werk eines Tages sein. An die Stelle der Monarchie die Republik, an die Stelle der Privilegien der wenigen die Gleichberechtigung aller – das war immer das Werk eines Schlages, einer großen Stunde. Manche glauben, ebenso schnell, ebenso plötzlich wie die politische Revolution könne sich auch die soziale Umwälzung vollziehen. Eines Tages könnten sich die Arbeiter mit einemmal aller Fabriken, Bergwerke, Handelshäuser, Banken, Grundherrschaften bemächtigen, die Kapitalisten und ihre Direktoren einfach hinausjagen; so werde am Abend Eigentum des arbeiteten Volkes sein, was am Morgen noch Eigentum der Kapitalisten und der Grundherren war. Ist es wirklich so? Kann sich die soziale Revolution wirklich so schnell und einfach vollziehen?

Unser Wohlstand hängt von zwei Dingen ab: erstens davon, wie viele Güter im ganzen Lande überhaupt erzeugt werden, und zweitens davon, wie dieser Gütervorrat auf die einzelnen Gesellschaftsklassen verteilt wird. Der Sozialismus will zunächst die Verteilung des Gütervorrats verändern. Heute bekommt der müßige Kapitalist, der sein Eigentum vom Herrn Papa geerbt hat, weit größeren Anteil aus dem Gütervorrat der Gesamtheit als der fleißigste und tüchtigste Arbeiter. Solche Unterschiede wird die sozialistische Gesellschaft nicht kennen. Auch sie wird freilich die Güter nicht ganz gleich verteilen können. Auch sie wird den Fleißigsten besser entlohnen müssen als den Trägen; sonst würden ja nicht mehr viele fleißig sein. Auch sie wird den Erfinder, der neue Arbeitsverfahren ersinnt, den Betriebsamen, der der Volkswirtschaft neue Wege weist, reicher entlohnen müssen als den, der sein Tagewerk gedankenlos verrichtet; sonst würden sich ja nicht viele mehr um die Vervollkommnung Arbeitsverfahren bemühen. Aber nur wirkliches Verdienst um die Gesellschaft, nicht ererbter Grundbesitz, nicht bedenkenlos errafftes Kapital werden Anspruch auf höheren Anteil am Arbeitsertrag der Gesellschaft geben. So wird also der Sozialismus zunächst die Verteilung des Gütervorrats der Gesamtheit verändern. Aber das kann der arbeitenden Volksmasse nur dann frommen, wenn nicht etwa zugleich die Erzeugung der Güter eingeschränkt wird. Denn wenn etwa in einer sozialistischen Gesellschaft nur halb soviel Güter erzeugt würden als in der kapitalistischen, dann würden die Arbeiter in der sozialistischen Gesellschaft nicht besser, wahrscheinlich sogar viel schlechter leben als unter der Herrschaft des Kapitals: die gerechteste Verteilung könnte uns nichts nützen, wenn weniger zu verteilen wäre. Damit ist also dem Sozialismus seine Aufgabe gestellt: er muss die Verteilung der Güter gerechter, ohne dass dabei die Erzeugung der Güter leidet!

Wir sind furchtbar arm geworden. Infolge der Verwahrlosung unseres ganzen Produktionsapparates, infolge des Mangels an Rohstoffen, infolge der Schwächung der unterernährten menschlichen Arbeitskraft erzeugen wir viel, viel weniger Güter, als wir in Friedenszeiten erzeugt haben. Aber wenn wir weniger erzeugen, können wir natürlich auch weniger verbrauchen. Je kleiner der Arbeitsertrag der Gesellschaft, je kleiner ihr Reichtum an Gütern ist, desto weniger entfällt auch bei der gerechtesten Verteilung auf den einzelnen, desto weniger kann also der einzelne verbrauchen und genießen. In einer solchen Zeit müssen wir uns hüten, irgend etwas zu tun, was unseren Produktionsapparat noch mehr zerstören, uns den Bezug von Rohstoffen noch mehr erschweren, unserer Gütererzeugung noch weiter einschränken, den Gesamtertrag unserer Arbeit noch mehr verkleinern würde. Unsere Armut zwingt uns, die Verteilung der Güter gerechter zu gestalten; aber sie zwingt uns auch, diese Umwälzung so durchzuführen, dass die Erzeugung der Güter dabei nicht leidet.

Stellen wir uns nun vor, die Arbeiter würden sich eines Tages gewaltsam aller Betriebe bemächtigen, sie würden die Kapitalisten, ihre Direktoren und Beamten einfach aus den Betrieben hinausjagen und die Leitung der Betriebe selbst übernehmen! Eine solche Umwälzung wäre natürlich nur im blutigen Bürgerkrieg möglich; und der Bürgerkrieg würde selbstverständlich Produktionsmittel, Maschinen, Eisenbahnmaterial in großen Massen zerstören; unser ohnehin so furchtbar zusammengeschrumpfter Produktionsapparat würde noch weiter verelendet. Das kapitalistische Ausland würde uns die Rohstoffe, die wir brauchen, und den Kredit, ohne den wir die Rohstoffe nicht beziehen können, verweigern, Amerika und die Entente würden die Blockade aufrechterhalten; unsere Betriebe müssten infolge des Mangels an Rohstoffen auch weiter stillstehen. Die meisten Direktoren, Ingenieure, Chemiker, Gutsverwalter, Techniker, Betriebsbeamten und kaufmännischen Beamten aller Art, die allein in der kapitalistischen Gesellschaft jene Kenntnisse zu erwerben vermögen, die zur Leitung großer Betriebe erforderlich sind, würden uns die Mitarbeit verweigern; wären die Arbeiter allein imstande, Rohstoffquellen aufzuspüren und die komplizierte Arbeit im modernen Großbetrieb, in dem jeder Arbeiter doch nur eine Teilarbeit leistet und von dem jeder Arbeiter daher nur einen kleinen Ausschnitt versteht, zu organisieren? Die Arbeiter selbst, von den Leidenschaften des Bürgerkrieges erfasst, hätten zur Arbeit nicht Ruhe noch Sinn; die Arbeitsintensität würde furchtbar sinken. Das Ergebnis all dieser Erscheinungen wäre, dass noch viel weniger Güter erzeugt würden als jetzt. Wohl wäre die Verteilung der Güter gerechter; aber der einzelne Arbeiter bekäme trotzdem nicht mehr, wahrscheinlich sogar weit weniger als jetzt, weil eben viel weniger Güter erzeugt würden, daher auch weniger Güter zu verteilen wären. Das Volk, das vom Sozialismus doch eine Besserung seiner Lage erhofft, wäre furchtbar enttäuscht und diese Enttäuschung würde es kapitalistischer Konterrevolution in die Arme jagen.

Nicht auf diese Weise also können wir zum Sozialismus kommen. Einen ganz anderen Weg müssen wir einschlagen. Wir müssen in planmäßiger organisierender Arbeit, von einem Schritt zum anderen zielbewusst fortschreitend, die sozialistische Gesellschaft allmählich aufbauen. Jede der aufeinaderfolgenden Maßregeln, die uns zur sozialistischen Gesellschaft führen sollen, muss wohlerwogen sein; sie muss nicht nur die Verteilung der Güter gerechter gestalten, sondern auch ihre Erzeugung vervollkommnen; sie darf die kapitalistische Organisation der Gütererzeugung nicht zerstören, ohne zugleich eine sozialistische Organisation aufzurichten, die die Gütererzeugung wenigstens ebenso vollkommen zu leiten vermag. Die politische Revolution war das Werk der Gewalt; die soziale Revolution wird das Ergebnis kühner, aber auch besonnener Arbeit vieler Jahre sein müssen. Diese Auffassung hat nichts zu schaffen mit den Illusionen des engstirnigen Revisionismus oder Reformismus von gestern oder ehegestern. Er hat geglaubt, dass die Gesellschaft friedlich in den Sozialismus „hineinwachsen“ könne, ohne dass es dazu überhaupt einer gewaltsamen Revolution bedürfe. Das war freilich ein Irrtum. Denn die soziale Revolution setzt die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat voraus; und das Proletariat konnte und kann die Staatsgewalt nicht anders als mit revolutionären Mitteln erobern. Ist aber erst die politische Macht erobert, dann ist dem Proletariat eine ganz neue Aufgabe gestellt, die nicht mehr mit den Mitteln, die der politischen Revolution angemessen waren, bewältigt werden kann. Denn die politische Revolution kann immer nur, wie Marx sagte „die Elemente der künftigen Gesellschaft freisetzen“; aus diesen Elementen aber die neue Gesellschaft aufzubauen, ist eine Aufgabe, die nicht im Straßenkampf, nicht im Bürgerkrieg, sondern nur in schöpferischer Gesetzgebungs- und Verwaltungsarbeit vollbracht werden kann.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007