Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Fünfter Abschnitt
Die Restauration der Bourgeoisie

§ 17. Die Währungskatastrophe


Literatur:

Schüller, Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain, Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, N.F., 1. Band. – Stolper, Deutschösterreich als Sozial- und Wirtschaftsproblem, München 1921. – Grünwald, Grundzüge der Finanzpolitik der Nachfolgestaaten, Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, N.F., 2. Band. – Helene Bauer, Theoretisches zur österreichischen Handelsbilanz, Der Kampf, 1923. – Die Tätigkeit des Verbandes der sozialdemokratischen Abgeordneten im Nationalrat, 16. Heft, Wien 1922. – Mitteilungen des Bundesamtes für Statistik, Wien 1922.



Die Entwicklung der Klassenkämpfe ist bestimmt durch die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse von der Begründung der Republik bis zum Genfer Vertrag findet ihren Ausdruck in der Entwertung des Geldes. Der Prozeß der Geldentwertung durchläuft in dieser Periode eine Reihe verschiedener Phasen. Es ist nützlich, diese Phasen scharf voneinander zu unterscheiden.

Die erste Phase des Prozesses der Geldentwertung umfaßt die Periode von der Begründung der Republik bis zum Abschluß der Friedensverhandlungen in Saint-Germain. Die Geldentwertung dieser Phase war unmittelbare Wirkung des Krieges, der Niederlage, der Zerreißung des alten großen Wirtschaftsgebietes, der die Zerreißung der Währungsgemeinschaft mit den Nachfolgestaaten folgte, endlich der drückenden Wirkungen, die die Veröffentlichung der Friedensbedingungen hervorrief.

Die Geldentwertung, selbst unmittelbare Folge der großen geschichtlichen Katastrophe, steigerte die Staatsausgaben, ohne daß die Staatseinnahmen in gleichem Maße erhöht werden konnten. Immerhin verfügte der Staat in dieser Periode noch über außerordentliche Mittel, seine Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Vor allem erlangte der Staat in dieser Periode einen großen Auslandskredit: es ist uns damals gelungen, von der Entente und den Vereinigten Staaten von Amerika einen Kredit von 48 Millionen Dollar zu erlangen, der im Verlauf des Jahres 1919 bis auf 82 Millionen Dollar erhöht wurde. Allerdings wurde uns dieser Kredit nicht in Geldesform gewährt, sondern in der Gestalt von Nahrungsmitteln, die die alliierten Mächte uns schickten; er konnte daher nur die Ernährung unserer Volksmassen sicherstellen, die damals, infolge der Drosselung unserer Produktion durch die Kohlen- und Rohstoffnot, nicht aus den Erträgnissen der eigenen. Wirtschaft hätte sichergestellt werden können, er konnte aber nicht einer planmäßigen Sanierung des staatlichen Hauishalts dienstbar gemacht werden. Immerhin bedeckte dieser Kredit einen Teil des Defizits im Staatshaushalt. Ein anderer Teil wurde durch eine große außerordentliche Einnahme bedeckt, durch die sehr bedeutenden Eingänge an Kriegsgewinnsteuer im ersten Nachkriegsjahr, die damals mehr als 40 Prozent der gesamten, Staatseinnahmen ausmachten, um ein Sechstel mehr als alle anderen direkten Steuern zusammen, dreimal so viel als das Gesamterträgnis der indirekten Steuern, der Monopole und der Zölle zusammen.

Die Finanzpolitik dieser ersten Phase diente vornehmlich sozialen Zwecken. Während sich der Staatshaushalt vornehmlich auf Besitzsteuern, vor allem, auf die Kriegsgewinnsteuer, stützte, hielten wir die indirekten Steuern sehr niedrig, überdies gaben wir die vom Ausland kreditierten Lebensmittel tief unter dem Selbstkostenpreis an die Bevölkerung ab. Durch beide Mittel wurden die Lebensmittelpreise trotz der Entwertung der Krone niedrig gehalten. Dadurch wurde es den Arbeitermassen, die infolge der Kohlen- und Rohstoffnot nicht arbeiten konnten, ermöglicht, diese wirtschaftlich schwerste Zeit durchzuhalten. Dadurch wurden die sozialen Spannungen dieser Periode, der Periode des Ansturms des ungarischen Bolschewismus, gemildert, wurde die Verschärfung der Klassenkämpfe zum Bürgerkrieg verhütet.

Doch war es schon damals offenbar, daß außerordentliche Maßregeln erforderlich sein werden, um das Gleichgewicht im Staatshaushalt wiederherzustellen. Unser Plan war, zunächst durch eine einmalige große Vermögensabgabe das Defizit im Staatshaushalt für längere Zeit zu bedecken, um die Banknotenpresse stillegen zu können; die Zeit, in der das Defizit durch das Erträgnis der Vermögensabgabe bedeckt sein werde, sollte dann benützt werden, um durch Erhöhung der regelmäßigen Steuereinnahmen und durch Ersparungsmaßregeln die Ordnung im Staatshaushalt herzustellen. Schumpeter, der Finanzminister der ersten Koalitionsregierung, hielt es aber für unmöglich, so tiefeingreifende Maßregeln in einer Zeit des vollständigen Darniederliegens unserer Volkswirtschaft, in einer Zeit der schwersten sozialen Krise, in einer Zeit vor allem der Friedensverhandlungen durchzuführen; wußten wir doch nicht, wie der Friedensvertrag über unsere staatliche Stellung, über unsere Grenzen, über unser Geldwesen, über unsere Auslandsvermögen und Auslandsschulden entscheiden werde. Man begnügte sich daher damit, die Vermögensabgabe durch Sperrung und Inventarisierung der Bankdepots vorzubereiten, schob aber ihre Durchführung auf die Zeit nach dem Friedensschluß auf; wir stimmten diesem Entschluß um so mehr zu, da wir die lange Dauer der Friedensverhandlungen nicht voraussahen.

Mit dem Abschluß der Friedensverhandlungen von Saint-Germain beginnt die zweite Phase des Geldentwertungsprozesses. Sie dauert bis zum Sommer 1921. Die Geldentwertung dieser zweiten Phase war nicht mehr unmittelbare Wirkung der Zerreißung des alten Wirtschaftsgebiets und des Friedensdiktats von Saint-Germain: die Wirkung dieser Ereignisse war schon in dem Kurs von 3 Centimes, auf den die Krone Ende 1919 hinabgeglitten war, ausgewirkt. Das Fortschreiten der Geldentwertung in der zweiten Phase war vielmehr die Folge der Zerrüttung des Staatshaushalts, die zu immer schnellerer Vermehrung des Papiergeldes zwang.

Die außerordentlichen Einnahmen aus der Kriegsgewinnsteuer, die den Staatshaushalt im Jahre 1919 gestützt hatten, versiegten im Jahre 1920; nur kleine Restbeträge flössen noch ein. Auch an Auslandskrediten stand 1920 schon weit weniger zur Verfügung als 1919. Wir bekamen im Jahre 1920 noch von den Vereinigten Staaten Mehl im Werte von 20 Millionen Dollar, von der Schweiz und Holland Nanrungsmittel im Werte von 10 Millionen Dollar auf Kredit, von Argentinien 5 Millionen Pesos, von England nicht mehr Kredite für den Staat, sondern Rohstoffkredite für unsere Textilindustrie und Saatkartoffeln für unsere Landwirtschaft. Die Auslandskredite deckten nur noch einen kleinen Teil des Defizits. Nun mußte man darangehen, den Haushalt der Republik in Ordnung zu bringen.

Die ganze erste Hälfte des Jahres 1920 füllte der Kampf um die Gestaltung der Vermögensabgabe. Es war eine der Streitfragen, an denen die zweite Koalitionsregierung scheiterte. Erst in der Zeit der Proporzregierung fiel die Entscheidung. Die bürgerliche Mehrheit entschied gegen die Sozialdemokratie die strittigen Fragen. Sie gab der Vermögensabgabe eine Gestalt, die ihren Zweck, das Defizit im Staatshaushalt für längere Zeit zu bedecken und dadurch die Stillegung der Banknotenpresse zu ermöglichen, vereitelte. Trotzdem war die Finanzpolitik der zweiten Koalitionsregierung und der Proporzregierung, die von Dr. Reisch als Finanzminister geleitet wurde, keineswegs wirkungslos. Ihre Wirkungen zeigten sich allerdings, nicht mehr im Jahre 1920, sondern erst in der ersten Hälfte des Jahres 1921; in diese Zeit fallen die großen Eingänge an Vermögensabgabe, und in derselben Zeit wurden auch die zugleich mit dem Vermögensabgabegesetz erlassenen Steuergesetze wirksam. Im Jahre 1921 bildeten die Eingänge an Vermögensabgabe, zum Kurse im Zeitpunkt der Eingänge in Goldkronen umgerechnet, ein Drittel der gesamten Staatseinnahmen, sie betrugen um zwei Drittel mehr als die Erträgnisse der gesamten direkten Steuern und. um ein Viertel mehr als die Erträgnisse der indirekten Steuern, der Monopole und der Zölle zusammen. Dank dieser großen außerordentlichen Einnahme war der Goldwert der Staatseinnahmen im Jahre 1921 trotz der fortschreitenden Geldentwertung um beinahe ein Fünftel höher als im Jahre 1920.

Nach den Oktoberwahlen 1920 wurden freilich die Bemühungen, das Defizit durch Erhöhung der Staatseinnahmen zu verkleinern, nicht mehr fortgesetzt. Die Regierung Mayr, deren Finanzpolitik von dem Minister Dr. Grimm geleitet wurde, konzentrierte ihre Bemühungen darauf, neue Auslandskredite zu erlangen. In der Tat wiesen die alliierten Großmächte im März 1921 dem Völkerbund die Aufgabe zu, die Bedingungen eines Österreich zu gewährenden internationalen Kredits zu überprüfen. Das Finanzkomitee des Völkerbundes entsandte im April 1921 eine Delegation nach Wien, die hier mit der österreichischen Regierung über die Bedingungen eines internationalen Sanierungskredits für Österreich verhandelte. So war die erste Hälfte des Jahres 1921 die günstigste Periode in der Finanzgeschichte der Republik. Einerseits war infolge der großen Eingänge an Vermögensabgabe das Defizit in dieser Zeit verhältnismäßig klein, anderseits weckten die Verhandlungen mit dem Völkerbund die Hoffnung darauf, daß Österreich binnen kurzem einen großen Kredit erlangen werde. Die Geldentwertung wurde zeitweilig unterbrochen, einige Wochen lang stieg sogar der Kurs der Krone.

Im Jahre 1920 hatte die industrielle Prosperität eingesetzt, die sich 1921 zur Hochkonjunktur steigerte. Der große Export führte der Volkswirtschaft große Mengen ausländischer Zahlungsmittel zu, mit denen sie größere Mengen ausländischer Lebensmittel und Rohstoffe kaufen und einführen konnte. Überdies flossen der Volkswirtschaft auch auf andere Weise große Mengen ausländischer Zahlungsmittel zu: in der Zeit der Kredithoffnungen kaufte die ausländische Spekulation Kronennoten; in der Zeit der Hochkonjunktur kaufte die ausländische Spekulation Aktien österreichischer Unternehmungen. Dank diesem Kapitalszufluß konnte der inländische Konsum über die durch die inländische Produktion gegebene Grenze hinaus wachsen. Die Güternot wurde überwunden. Die Kronenlöhne stiegen schneller, als die Kaufkraft der Krone sank. Der Reallohn stieg.

Der Sommer 1921 brachte die Wendung. Mit ihr beginnt die dritte Phase der Geldentwertung, die bis zu den Genfer Kreditverhandlungen im September 1922 dauerte. In dieser Phase geriet die Geldentwertung in wesentlich beschleunigteren Gang, ihre volkswirtschaftlichen und sozialen Wirkungen änderten sich, sie drohte, der völligen Vernichtung des Wertes des Papiergeldes und damit dem völligen Zusammenbruch der Volkswirtschaft und des Staates zuzutreiben. In dieser Phase wurde die Abwehr der Geldentwertung zum ausschließlichen Gegenstand des Klassenkampfes. Und dieser Kampf endete schließlich mit der Aufhebung jenes Gleichgewichtsverhältnisses zwischen den Klassenkräften, das seit der Konterrevolution in Ungarn und dem Friedensschluß in Saint-Germain in Österreich herrschte.

In der zweiten Jahreshälfte 1921 waren die Vorauszahlungen auf die Vermögensabgabe bereits eingeströmt und verbraucht. Da dem Staat nicht mehr große außerordentliche Einnahmen zuflossen, wuchs sein Defizit. Zugleich wurden die Hoffnungen auf einen großen Kredit, die die Aktion des Völkerbundes im Frühjahr geweckt hatte, enttäuscht; es wurde offenbar, daß die Völkerbundsaktion an internationalen Schwierigkeiten gescheitert war. Beide Ursachen wirkten zusammen; die Geldentwertung geriet in ein schnelleres Tempo. Sie wurde noch beschleunigt durch den Niedergang der deutschen Mark, der das deutsche Kapital zu schneller Abstoßung seiner Kronenguthaben veranlaßte. Ihre Wirkungen wurden verschärft dadurch, daß die tschechische Krone vom August 1921 an auf allen Geldmärkten schnell zu steigen begann, wodurch Österreich der Bezug der Kohle und wichtiger Lebensmittel überaus schnell verteuert wurde.

Seit dem Anfang des Krieges war die Teuerung ziemlich gleichmäßig fortgeschritten: die Preise hatten sich von Jahr zu Jahr verdoppelt. Setzt man die Kosten der Lebenshaltung im Juli 1914 = 1, so betrugen sie nach den Angaben der Statistischen Zentralkommission im Juli:

1915

    1,6

1916

    3,4

1917

    6,8

1918

  11,7

1919

  25,1

1920

  51,5

1921

100   

Das Tempo wurde, wie man sieht, selbst durch den Umsturz nicht wesentlich beschleunigt: es war in jedem Jahre eine Verdoppelung der Preise. Erst in der zweiten Hälfte 1921 geriet die Teuerung in wesentlich schnelleres Tempo. Nun betrug, auf den Juli 1914 bezogen, der Index:

Juli 1921

   100

Oktober 1921

   190

Jänner 1922

   664

Juli 1922

2.645

Vom Juli bis Oktober 1921 stiegen die Preise auf das Doppelte; in einem Vierteljahr auf das Doppelte, vordem in einem ganzen Jahr! Vom Oktober bis zum Jänner stiegen die Preise auf das Dreifache; zu solcher Steigerung hatten sie in der Kriegs- und in der Revolutionszeit anderthalb Jahre gebraucht, jetzt nur ein Vierteljahr! Vom Jänner bis zum Juli 1922 stiegen die Preise auf das Vierfache; solche Steigerung hatte in der Kriegs- und in der Revolutionszeit zwei Jahre erfordert!

Der Kapitalszufluß aus dem Ausland hörte auf: die ausländische Spekulation kaufte keine Kronennoten mehr, seitdem die Kreditaktion gescheitert war, daher keine Hoffnung mehr bestand, daß der Kurs der Krone steigen werde; die ausländische Spekulation kaufte auch keine österreichischen Aktien mehr, seitdem sie die Erfahrung gemacht hatte, daß die Kurse der Aktien, in Kronen bemessen, langsamer stiegen, als der Wert der Krone sank, der Goldwert der Aktien daher stetig zurückging. Der Zufluß der ausländischen Zahlungsmittel wurde daher geringer. Der Bedarf an ausländischen Zahlungsmitteln aber wuchs. Die Importeure wagten es nicht mehr, ausländischen Warenkredit auszunützen, weil die Geldentwertung das Risiko solcher Kredite allzusehr vergrößerte. Alle, die Valutaschulden oder gemäß dem Friedensvertrag valorisierte Kronenschulden an das Ausland hatten, beeilten sich, sie durch Thesaurierung von Devisen zu decken. Da der Kronenkurs schnell sank, beeilten sich die Kapitalisten, alle ihre Kronenvorräte in Valuten und Devisen zu verwandeln. Die „Flucht vor der Krone“ vergrößerte den Bedarf an ausländischen Zahlungsmitteln. Ein schnell wachsender Teil der aus sichtbaren und unsichtbaren Waren- und Effektenexporten einströmenden Devisen geriet in die Hände der Devisen hamsternden Kapitalisten und wurde von ihnen unproduktiv aufgeschatzt. Konnte sich in der zweiten Phase der Geldentwertung der Konsum dank dem Einströmen ausländischen Kapitals über die durch die Produktion gezogenen Grenzen hinaus expandieren, so mußte er jetzt, da das österreichische Kapital durch massenhafte Aufschatzung ausländischer Werte den ausländischen Volkswirtschaften Kredit gewährte, unter die durch die Produktion gegebene Grenze zusammenschrumpfen. Es mußte sich daher die Lebenshaltung der Massen verschlechtern.

Den Arbeitermassen wurde der Druck auf ihre Lebenshaltung sehr bald fühlbar. Wohl war die Industrie gut beschäftigt; die Arbeitslosigkeit erreichte im Herbst 1921 ihren tiefsten Stand. Aber das Betriebskapital der Industrie war durch die Geldentwertung zerstört. Die schnelle Entwertung des Geldes erforderte schnelle Vergrößerung des Betriebskapitals der Industrie. Die Industrie konnte sich das notwendige Betriebskapital immer schwerer beschaffen. Sie war daher auch nicht mehr imstande, die Arbeitslöhne ebenso schnell zu erhöhen, wie die Kaufkraft des Geldes sank. Der Reallohn begann zu sinken. Die Arbeiterschaft, zwei Jahre lang an eine langsame, aber stetige Verbesserung ihrer Lebenshaltung gewöhnt, fühlte sich mit einemmal zu schon überwundener niedrigerer Lebenshaltung zurückgeworfen. Die Erbitterung der Arbeitermassen fand ihren Ausdruck in einer spontanen Demonstration der Wiener Arbeiter am 1. Dezember 1921, die mit Plünderung und Demolierung von Geschäftsladen und Luxushotels in der Inneren Stadt endete.

Die Inflation war zwei Jahre lang ein Mittel gewesen, die Industrie zu beleben und die Lebenshaltung der Arbeitermassen zu heben. Jetzt hatten sich ihre wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen geändert. Jetzt stürzte sie die Industrie in eine schwere Kapitalskrise und drückte sie die Lebenshaltung der Arbeitermassen. Die Regierung verharrte trotzdem in der Passivität, in der sie seit den Oktoberwahlen 1920 steckte. Die Sozialdemokratie mußte die Initiative ergreifen, um einen ernsthaften Versuche das Defizit im Staatshaushalt einzudämmen und dadurch die Quelle der wertzerstörenden Vermehrung des Papiergeldes zu verstopfen, zu erzwingen. Am 1. Oktober 1921 veröffentlichten die sozialdemokratische Partei, die Gewerkschaften und die proletarischen Genossenschaften gemeinsam ihr Finanzprogramm.

Wie schon in der Zeit des Kampfes um die Vermögensabgabe gingen wir auch in unserem Finanzplan von der Ansicht aus, daß wir vorerst dem Staat durch eine einmalige außerordentliche Maßregel die Mittel beschaffen müßten, sein Defizit längere Zeit ohne Vermehrung des Papiergeldes zu decken. Diesem Zwecke wollten wir die von den Kapitalisten thesaurierten Valuten und Devisen dienstbar machen. Deshalb forderte der Finanzplan eine Zwangsanleihe in Valuten, Devisen und ausländischen Effekten. Hätte sich der Staat so zunächst die Mittel beschafft, die Banknotenpresse für längere Zeit stillzulegen, so solle diese Zeit benützt werden, die ordentlichen Einnahmen des Staates zu erhöhen und seine Ausgaben einzuschränken. Zum Zwecke der Erhöhung der ordentlichen Staatseinnahmen schlug der Finanzplan den Ausbau der Besitzsteuern und die Konstituierung von Zwangsverbänden der Industrie als Steuergesellschaften vor. Die Einschränkung der Staatsausgaben wollte er durch allmählichen Abbau der staatlichen Lebensmittelzuschüsse erreichen. Der Staat gab ja immer noch Brot, Mehl und Fett tief unter den Selbstkostenpreisen an die Bevölkerung ab. Diese Verbilligung der Lebensmittel war im ersten Jahre der Republik notwendig gewesen, wenn schwere soziale Erschütterungen verhütet werden sollten. Sie war damals auch keine Quelle der Inflation gewiesen, da ja der Staat selbst damals die Lebensmittel nicht bezahlen mußte, sondern auf Kredit von der amerikanischen Relieforganisation zugewiesen bekam. Ganz anders war es, seitdem die ausländischen Lebensmittelkredite versiegt waren; seitdem der Staat daher die Lebensmittel bar bezahlen mußte, aber nur einen geringen Teil des Preises von den Verbrauchern ersetzt erhielt. Nun war die Abgabe der Lebensmittel unter dem Selbstkostenpreis zu einer Quelle der Inflation geworden; allmählich, da die Abgabepreise viel langsamer erhöht wurden, als der Kronenkurs sank, zur Hauptquelle der Inflation. Im Herbst 1921 bildeten die staatlichen Zuschüsse zu den Lebensmitteln schon den größten Ausgabenposten im Staatshaushalt; jede Eindämmung der Papiergeldvermehrung war unmoglich, solange der Staat mit diesem Aufwand belastet blieb. Deshalb erklärten wir uns in unserem Finanzplan bereit, an dem Abbau der staatlichen Lebensmittelzuschüsse mitzuwirken. Doch knüpften wir dies an bestimmte Bedingungen: der Abbau solle nicht auf einmal, sondern schrittweise erfolgen; der Reallohn der Arbeiter, Angestellten und Beamten dürfe nicht gekürzt werden, das Gesetz müsse ihnen daher von den Unternehmern zu bezahlende Lohnzuschüsse nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Frauen und Kinder in der Höhe der aufzuhebenden staatlichen Zuschüsse zu den Lebensmitteln sichern.

Der starke Eindruck, den unser Finanzplan hervorrief, riß die bürgerlichen Parteien aus ihrer finanzpolitischen Passivität. Der Finanzminister Grimm trat zurück; am 7. Oktober wurdc Professor Gürtler, der Führer des bäuerlich-demokratischen, zur Kooperation mit der Sozialdemokratie geneigten Flügels der christlichsozialen Partei, zum Finanzminister gewählt. Er übernahm einen beträchtlichen Teil unseres Finanzplanes. Er führte im November und Dezember eine Reihe neuer Besitzsteuern ein. Er leitete im Dezember den Abbau der Lebensmittelzuschüsse ein, wobei er die in unserem Finanzplan geforderten Bürgschaften für den Reallohn der Arbeiter in das Gesetz vollständig aufnahm. Zu der von uns als erste und wichtigste Maßregel geforderten Zwangsanleihe in Valuten und Devisen konnte er sich freilich nicht entschließen. Er hoffte, denselben Zweck durch das Valutenanmeldungsgesetz vom 21. Dezember 1921 ohne zwangsweise Anforderung der Valuten und Devisen erreichen zu können; die Erfahrung hat gelehrt, daß diese Halbheit wirkungslos geblieben ist.

Hand in Hand mit der neuen Finanzpolitik Gürtlers ging die neue Außenpolitik Schobers; beide waren von sozialdemokratischen Auffassungen gleich stark beeinflußt. Im Kampf um das Burgenland war Schober in Gegensatz gegen Ungarn geraten und hatte sich dadurch der Tschechoslowakei genähert. Im Dezember besuchten der Bundespräsident Doktor Hainisch und der Bundeskanzler Schober den Präsidenten der tschechischen Republik in Lana. Während dieses Besuches wurde zwischen Schober und Beneš am 16. Dezember 1921 ein Staatsvertrag vereinbart, in dem sich die beiden Republiken verpflichteten, den Friedensvertrag loyal durchzuführen, einander gegen alle konterrevolutionären Bestrebungen zu unterstützen und alle Streitigkeiten zwischen ihnen der Entscheidung eines Schiedsgerichtes zu unterwerfen. Die Tschechoslowakei gewährte Österreich einen Kredit von 500 Millionen tschechischen Kronen und versprach, Österreichs Bemühungen um Kredite auch in London und Paris zu unterstützen.

In der Tat hatten die Anstrengungen der neuen Finanzpolitik, besonders der Abbau der Lebensmittelzuschüsse, in London und Paris starken Eindruck gemacht und die Annäherung an die Tschechoslowakei hatte die außenpolitische Stellung der Republik verbessert. So gelang es nun wirklich, wieder Kredite zu erlangen. England gewährte uns im Februar 1922 einen Kredit von 2 Millionen Pfund Sterling, Frankreich stellte einen Kredit von 55 Millionen Franken, Italien von 70 Millionen Lire in Aussicht. Sobald der englische Kredit einlief, sank die Krone nicht weiter. Hätte die Regierung diese Zeit der Stabilisierung des Kronenkurses ausgenützt, um die im November und Dezember begonnene Finanzpolitik tatkräftig fortzuführen, so hätte Wesentliches und Dauerndes für die Sanierung der Staatsfinanzen geleislol werden können. Aber dem stellten sich politische Hindernisse entgegen.

Die Großdeutschen lehnten den Vertrag von Lana leidenschaftlich ab. Sie beriefen ihren Vertreter Dr. Waber aus der Regierung ab und traten in Opposition gegen die Regierung. Die Regierung hatte im Nalionalrat keine aktionsfähige Mehrheit mehr. Die Sozialdemokratie konnte nicht wünschen, daß die Regierung wegen der Verständigung mit der Tschechoslowakei stürze und daß die eben erst begonnene, der Richtung unseres Finanzplanes folgende Finanzpolitik durch politische Krisen unterbrochen werde. Deshalb beschlossen die sozialdemokratischen Abgeordneten am 16. März 1922 eine Resolution, in der sie sich bereit erklärten, die Regierung zu unterstützen, falls der Inhalt der weiter zu treffenden finanzpolitischen Maßregeln von der Regierung mit den sozialdemokratischen Abgeordneten vereinbart würde. Aber obwohl die Regierung über die großdeutschen Stimmen nicht mehr verfügte, nahm sie dieses Anerbieten der Sozialdemokratie nicht an; sie machte keinen Versuch, sich mit uns über die weitere Richtung der Finanzpolitik zu verständigen.

Dieses Verhalten der Regierung war die Wirkung der heftigen Opposition, die die Finanzpolitik Gürtlers im kapitalistischen Lager geweckt hatte. Schon im November hatte die Börse gegen Gürtlers hohe Börsenbesuchsabgabe durch einen Streik demonstriert. Im Dezember hatten die Bankumsatzsteuer und das Valutenanmeldungsgesetz das Finanzkapital erbittert. Die kapitalistische Presse schrie, der Finanzminister stehe unter dem Diktat der Sozialdemokratie. Dieser Schrei fand Widerhall in dem von Seipel kommandierten Wiener klerikalen Lager, das es unerträglich fand, daß die Sozialdemokratie die Politik der bürgerlichen Regierung wirksam beeinflußte. Gürtler stieß auf erstarkende Opposition in seiner eigenen Partei. Er fürchtete jede Verständigung mit der Sozialdemokratie, seitdem er täglich beschuldigt wurde, daß er unter unserem Diktat stehe. Aber auch die sachlichen Schwierigkeiten einer Verständigung waren sehr groß. Nach dem Abbau der Lebensmittelzuschüsse war das Defizit der Staatsbetriebe die schwerste Belastung des Staatshaushaltes. Wir verlangten darum als nächste finanzpolitische Maßregel die administrative und finanzielle Verselbständigung der Staatsbetriebe unter selbständiger, nach dem Vorbild der gemeinwirtschaftlichen Anstalten zu organisierender Verwaltung. Die Bourgeoisie sah in dieser Forderung einen Vorstoß für die „Sozialisierung“. Seipel lehnte unseren Organisationsplan öffentlich ab, ehe noch Verhandlungen mit Gürtler über ihn möglich gewesen wären.

Da die Regierung die Unterstützung der Großdeutschen verloren, sich um die ihr angebotene Unterstützung der Sozialdemokraten nicht beworben hatte, verfügte sie über keine aktionsfähige Mehrheit mehr. Die Finanzpolitik stockte vollständig. Indessen wurde der englische Kredit schnell verbraucht. Gürtler hatte, um die Kapitalskrise der Industrie zu mildern, die Österreichisch-Ungarische Bank zur Wiederaufnahme des Diskontogeschäftes in größerem Umfang bewogen. Die Eskomptierung von Finanzwechseln in großen Beträgen führte dem Finanzkapital große Mittel zu, die seine Nachfrage nach Devisen vergrößerten. Der Finanzminister mußte aus den englischen Kreditvaluten Zahlungsmittel abgeben, damit diese Nachfrage die Valutenkurse nicht emportreibe. So benützten die Banken die Noten, die der Staat selbst durch die Notenbank ihnen zur Verfügung steillte, um dem Staat die englischen Kreditvaluten binnen wenigen Wochen aus den Händen zu reißen. Sobald man aber gewahr wurde, daß die englischen Kreditvaluten zu versiegen begannen, stiegen die Valutenkurse wieder von neuem.

Der englische Kredit ist auf diese Weise binnen wenigen Wochen ohne jeden Nutzen verbraucht worden. Die Folge war, daß die von Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei in Aussicht gestellten Kredite nicht einliefen; nach der Erfahrung mit dem englischen Kredit durften ja diese Staaten annehmen, daß der österreichischen Finanzpolitik offenbar mit keinen Krediten zu helfen sei. Hätte die Regierung Schober-Gürtler im Augenblick des Eintreffens des englischen Kredits die energische Politik, die im Herbst 1921 unter dem Eindruck unseres Finanzplans begonnen worden war, ebenso energisch fortgesetzt, so wäre es möglich gewesen, auch den französischen, italienischen und tschechischen Kredit schnell zu erlangen, mit ihrer Hilfe die Notenpresse stillzulegen und dadurch den entscheidenden Schritt zur Sanierung der Staatsfinanzen zu tun; im Herbst 1922 ist dies ja tatsächlich mit Hilfe derselben Kredite, die damals erst flüssig gemacht wurden, geschehen. Im Frühjahr ist dies durch die finanzpohtische Passivität, in die die Regierung gerade in dem Augenblick des Eintreffens des englischen Kredits verfiel, und durch die gerade in diesem Augenblick begangenen schweren Fehler der Diskontopolitik verhindert worden. So wurde nicht nur der Erfolg der im November und Dezember 1921 getroffenen Maßregeln vereitelt, nicht nur der günstigste Augenblick für die Sanierung der Staatsfinanzen verpaßt, sondern auch im Ausland der Eindruck erweckt, daß es nutzlos sei, Österreich Kredite zu gewähren, ohne die österreichische Finanzwirtschaft unter strenge Kontrolle zu stellen. Die verhängnisvollen Fehler, die im Februar und März 1922 begangen wurden, sind für die drückenden Bestimmungen des Genfer Vertrages vom Oktober 1922 in hohem Maße verantwortlich.

Die Verantwortung für diese verhängnisvollen Fehler teilen beide bürgerlichen Parteien. Vor allem die Großdeutschen. Sie haben des Vertrages von Lana wegen der Regierung ihre Unterstützung gerade in dem Augenblick entzogen, in dem sie zur Durchführung der mit dem Einlangen des englischen Kredits möglich und notwendig gewordenen finanzpolitischen Maßregeln einer starken Mehrheit bedurfte; dieselben Großdeutschen, die damals den Notwendigkeiten der finanziellen Sanierung ihre Bedenken gegen den Vertrag von Lana nicht unterordnen wollten, haben wenige Monate später der Sanierung wegen die ungleich drückenderen Bestimmungen des Vertrages von Genf angenommen! Noch schwerer aber wiegt die Schuld der von Seipel geführten Gruppe der Christlichsozialen. Die notwendigen finanzpolitischen Maßregeln hätten ja auch ohne Unterstützung der Großdeutschen durchgeführt werden können, da die Sozialdemokraten durch die Resolution vom 16. März ihre Unterstützung angeboten hatten. Dieses Anbot ist überhaupt nicht beantwortet worden, weil Seipel, ganz im Banne der Börsenpresse, jede Kontrolle der Finanzpolitik durch die Sozialdemokratie ablehnte. So mußte der entscheidende Augenblick ungenutzt vorübergehen! Die Sozialdemokratie hat alles, was in ihrer Macht war, getan, um diesen folgenschweren Fehler zu verhüten, indem sie sich durch die Resolution vom 16. März zur Mitarbeit erbot; die Haltung beider bürgerlichen Parteien hat unser Anbot wirkungslos gemacht!

Wir waren infolge dieser Ereignisse in schärfste Opposition gegen die Regierung geraten, die zu einer aktiven Finanzpolitik nicht mehr fähig war. Als Gürtler am 21. April ohne Verständigung mit uns den Zollaufschlag erhöhte, beantragten wir im Finanzausschuß, ihm die Mißbilligung auszusprechen. Da die Großdeutschen aus politischen Gründen mit uns stimmten, wurde unser Antrag am 10. Mai angenommen. Gürtler demissionierte. Seipel, der im März die Kooperation mit der Sozialdemokratie verhindert halte, suchte nun, eine feste Koalition der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie zustande zu bringen. Die Regierung Schober demissionierte am 24. Mai; am 31. Mai wurde die Regierung Seipel gewählt. Sie war von den beiden früheren bürgerlichen Regierungen wesensverschieden. Die Regierung Mayr war eine christlichsoziale Regierung gewesen, die sich die Unterstützung der Großdeutschen immer erst von Fall zu Fall sichern mußte. Die Regierung Schober war eine Beamtenregierung, die Christlichsoziale und Großdeutsche nur durch je einen Minister aus ihren Reihen unter ihrer Kontrolle hielten. Die Regierung Seipel wurde auf Grund eines förmlichen Koalitionspakts aller bürgerlichen Parteien gewählt, aus christlichsozialen und großdeutschen Abgeordneten zusammengesetzt und der Zweck ihrer Bildung war vom Anfang an, den Einfluß der Sozialdemokratie, der sich in der Zeit der Burgenlandkrise und in den Anfängen der Finanzgesetzgebung Gürtlers so stark erwiesen hatte, durch festeren Zusammenschluß der bürgerlichen Parteien einzudämmen. Trotzdem konnten wir auch diese neue Regierung noch einmal unter unserem Druck zum Handeln zwingen.

Die Regierung Seipel hatte ihr Amt in einer Zeit angetreten, in der die Geldentwertung schneller denn jemals vorher fortschritt. In den ersten zwölf Tagen des Juni stieg der Kurs des Schweizer Franken in Wien von 2.151 auf 4.110 K. In der zweiten Juniwoche zeigten sich Schwierigkeiten, die zur Bezahlung der dringendsten Kohlenimporte notwendigen Devisen überhaupt noch zu beschaffen. Die Gefahr wurde sichtbar, daß die Kohlenzufuhr infolge Devisenmangels zu stocken beginnt, obwohl die Großbanken über riesige Beträge thesaurierter Devisen verfügten. Am 13. Juni begab sich der Vorstand der sozialdemokratischen Abgeordneten zum Bundeskanzler und erklärte ihm, die Sozialdemokratie könne keine Verantwortung mehr für die Haltung der durch die Teuerung zur Verzweiflung getriebenen Arbeitermassen übernehmen, wenn die Regierung nicht binnen vierundzwanzig Stunden die Banken verhält, ihre aufgeschatzten Devisen, gleichgültig in welcher Form, dem Staat zur Verfügung zu stellen. Die Drohung wirkte. Noch an demselben Tage bewogen Seipel und sein Finanzminister Segur die Banken, einen Teil ihrer Devisenvorräte für die Gründung einer Notenbank zur Verfügung zu stellen. Auf diesen Entschluß baute sich der in den folgenden Tagen entworfene Finanzplan Segurs auf. Aber wenn auch dieser Finanzplan ursprünglich aus sozialdemokratischer Initiative hervorgegangen war, so gaben ihm die bürgerliche Regierung und ihre Mehrheit doch solche Gestalt, daß die Sozialdemokratie ihn bekämpfen mußte. In der Tat brach der im Juli von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit beschlossene Finanzplan in wenigen Wochen völlig zusammen. Die Gründung der Notenbank scheiterte an der Weigerung der französischen und englischen Leitung der Länder- und Anglobank, sich an der Aufbringung des Aktienkapitals zu beteiligen. Die Zwangsanleihe, die das Defizit im Staatshaushalt decken sollte, wurde durch die fortschreitende Entwertung der Krone entwertet, da die bürgerliche Mehrheit unsere Forderung, die Anleiheschuldigkeiten zu valorisieren, abgelehnt hatte. Die Steuergesetze konnten überhaupt nicht in Wirksamkeit treten, weil die bürgerliche Mehrheit sie durch ein „Junktim“ mit der Gründung der Notenbank verknüpft hatte. Der Zusammenbruch des Finanzplans Segurs erschütterte alles Vertrauen. Im Sommer 1922 geriet die Geldentwertung in rasenden Lauf. Der Schweizer Frank notierte in Wien am

  1. Juni

  2.151

  3. Juli

  3.948

14. Juli

  5.748

31. Juli

  8.013

11. August

10.243

25. August

15.993

Die Teuerung stieg furchtbar. Nach den Feststellungen der Paritätischen Kommission stiegen die Kosten der Lebenshaltung vom

15. Mai bis 14. Juni

um   71 Prozent

15. Juni bis 14. Juli

um   41 Prozent

15. Juli bis 14. August

um 124 Prozent

15. August bis 14. September

um   91 Prozent

Die Preise verdoppelten sich jetzt von Monat zu Monat, während sie sich in der Kriegs- und Revolutionszeit von Jahr zu Jahr verdoppelt hatten!

Im August war die Devisenzentrale nicht mehr imstande, die zur Bezahlung der notwendigen Lebensmittel-, Kohlen- und Rohstoffimporte erforderlichen ausländischen Zahlungsmittel aufzubringen. Die Einfuhr geriet ins Stocken. Der vollständige Zusammenbruch der Volkswirtschaft schien unmittelbar bevorzustehen. Die Gärung in den Arbeitermassen kündigte an, daß der wirtschaftliche Zusammenbruch die schwersten sozialen Erschütterungen auslösen werde. In den Grenzländern fürchtete man, daß die Nachbarstaaten die drohenden sozialen Erschütterungen für ihre Zwecke benützen werden. Das Burgenland fürchtete den Einbruch magyarischer Freischärler, Kärnten den Einfall jugoslawischer Truppen.

Die Regierung suchte die Rettung im Ausland. Sie richtete an die in London versammelten Vertreter der Ententemächte die dringende Bitte um Kredithilfe. Am 15. August antwortete Lloyd-George im Namen des Obersten Rates:

„Die Vertreter der verbündeten Regierungen sind zu dem Schlüsse gekommen, daß es ihnen unmöglich ist, der Hoffnung Raum zu geben, daß ihre Regierungen bereit sein werden, Österreich eine neue finanzielle Hilfe zu bewilligen. Immerhin haben sie sich auf den Vorschlag geeinigt, die Frage Österreichs zur Untersuchung und zum Bericht an den Völkerbund zu verweisen.“

Auf den Völkerbund setzte nach dem Scheitern seiner Aktion im Jahre 1921 niemand in Österreich mehr Hoffnung. Lloyd-Georges Antwort mußte daher als schroffe Ablehnung jeder Hilfe aufgefaßt werden. Seipel antwortete am 18. August, durch diese Ablehnung sei das finanzielle Problem zu einem hochpolitischen geworden, „das mitteleuropäische Problem“, das heißt das Problem der Existenz Österreichs als eines selbständigen Staates, aufgefüllt. Diese Antwort verschärfte die Panik; besagte sie doch, daß die Regierung selbst den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch binnen ganz kurzer Zeit und in seinem Gefolge die Auflösung Österreichs, die Invasion fremder Truppen in die Grenzländer fürchtete. Zugleich kündigte Seipel an, er werde nach Prag, Berlin und Rom reisen, um das österreichische Problem mit den Staatsmännern der nächstbeteiligten Staaten persönlich zu besprechen. Damit wurde offenbar, daß die Regierung die Hilfe von außen um jeden Preis, selbst um den Preis der Unabhängigkeit der Republik, erzwingen wollte.

Am 23. August trat eine Konferenz der sozialdemokratischen Partei, der Gewerkschaften, der Genossenschaften, der Arbeiterkammern und der Arbeiterräte zusammen. Die Konferenz gelangte zu dem Ergebnis, daß die schwere wirtschaftliche und politische Krise eine völlige Änderung unseres politischen Kurses erfordere. Wir hatten seit dem Oktober 1920 jede Teilnahme an der Regierung abgelehnt. Nunmehr erklärten wir uns bereit, unter bestimmten Bedingungen in die Regierung einzutreten.

Wir hatten es seit dem Oktober 1921 versucht, als Opposition der bürgerlichen Regierung eine Finanzpolitik, die die drohende Währungskatastrophe .abwenden sollte, aufzuzwingen. Wir hatten Gürtler zu einer Finanzpolitik in der Richtung unseres Finanzprogramms getrieben; aber nach dem ersten Anlauf war seine Finanzpolitik ins Stocken geraten. Wir hatten Segur die Anforderung der Valutenvorräte der Banken aufgezwungen; aber er hatte sie nur zu einem Finanzplan benützt, den wir ablehnen mußten und der in wenigen Wochen vollkommen scheiterte. Die Erfahrung hatte gelehrt, daß es nicht genügt, einer feindlichen Regierung eine Finanzpolitik von außen her aufzuzwingen. Wollten wir die Republik vor dem unmittelbar drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch retten, dann mußten wir die Finanzpolitik selbst in die Hand nehmen, in die Regierung eintreten und das Finanzministerium mit einem Mann aus unseren Reihen besetzen.

Aber nicht nur die Finanzkrise, auch die politische Krise drängte uns zum Eintritt in die Regierung. Wir sahen die Gefahren der politischen Wendung, die Seipel mit seiner Erklärung vom 18. August soeben vollzogen, sahen die Gefahren der Reise nach Prag, Berlin und Verona, die Seipel angetreten hatte. Das Manifest der Konferenz vom 23. August sagte darüber:

„Die Regierung sucht die Hilfe noch immer im Ausland. Sie sucht sie mit gefährlichen Mitteln. Wenn die Methoden des Herrn Seipel uns überhaupt noch einen Auslandskredit bringen könnten, dann könnten sie ihn nur zu unerträglichen Bedingungen, nur um den Preis der vollständigen Unterwerfung Deutschösterreichs unter die Kontrolle ausländischer Mächte, des vollständigen Verlustes der letzten Reste unserer staatlichen Selbständigkeit bringen. Gegen diese Gefahr der Verschacherung unserer Selbständigkeit müssen wir uns zur Wehr setzen.“

So drängte uns alles dazu, sowohl die Finanzpolitik als auch die äußere Politik unter unsere unmittelbare Kontrolle zu setzen. Wie konnte dies geschehen? An eine Machtergreifung mit revolutionären Mitteln durften wir nicht denken. Das Vertrauen zu dem österreichischen Papiergeld schwand von Tag zu Tag. Eine revolutionäre Erhebung des Proletariats hätte es vollständig vernichtet. Der Austausch von Papierkronen gegen Auslandsgeld und gegen Waren, der im August von Tag zu Tag schwerer wurde, wäre mit einem Schlage vollständig unmöglich geworden. Damit hätte jede Möglichkeit des Bezuges ausländischer Lebensmittel, Kohle, Rohstoffe aufgehört. Die Hungerkatastrophe, der Bürgerkrieg, die Invasion, die Konterrevolution durch fremde Bajonette wären die unvermeidlichen Folgen gewesen. Wollten wir den völligen Zusammenbruch des Geldwertes und damit die wirtschaftliche Katastrophe verhüten, so gab es nur einen Weg: mit den bürgerlichen Parteien zusammen eine Konzentrationsregierung zu bilden und uns innerhalb ihrer die Kontrolle über die Finanzpolitik und die äußere Politik zu sichern. Aber nicht bedingungslos konnten wir in eine solche Regierung eintreten. Das Manifest der Konferenz vom 23. August sagte:

„Erst wenn die bürgerlichen Parteien endlich die Gefahr des vollständigen Zusammenbruchs unserer Volkswirtschaft erkennen; erst wenn sie sich dessen bewußt werden, daß, wenn alles zusammenbricht, sich auch die besitzenden Klassen nicht aus dem Zusammenbruch werden retten können; erst wenn die Furcht vor dieser Katastrophe die besitzenden Klassen dazu zwingt, die notwendigen Opfer zu bringen, und sie bereit macht, unsere wichtigsten und dringendsten Forderungen zu erfüllen und ihre Sabotage gegen alle wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten aufzugeben, erst dann und nur dann besteht die Möglichkeit, in Vereinbarungen mit den bürgerlichen Parteien durchzusetzen, was durchgesetzt werden muß, erst dann und nur dann könnte eine zeitweilige Kooperation mit den bürgerlichen Parteien für uns ein Mittel sein, die Republik und die Volkswirtschaft aus der schwersten Gefahr zu retten.“

Die Beschlüsse der Konferenz vom 23. August waren von der Überzeugung bestimmt, daß das politische System, das in der Republik seit dem Herbst 1919 herrschte, das System des Gleichgewichts der Klassenkräfte an der Aufgabe, das Gleichgewicht im Staatshaushalt wiederherzustellen, der Vermehrung des Papiergeldes ein Ende zu setzen und dadurch die drohende Währungskatastrophe zu verhüten, vorläufig gescheitert war.

In der Tat war diese Aufgabe überaus schwer. Die Republik hatte von der alten Monarchie einen Staatsapparat geerbt, der für den neuen Kleinstaat viel zu groß, viel zu kostspielig war. Das Funktionieren dieses Apparats war überdies durch die Wirkungen des Krieges, der Auflösung des alten Wirtschaftsgebietes, der Revolution und des Länderpartikularismus gestört, kompliziert und verteuert worden. Die Kosten dieses Apparats aus Steuereinnahmen zu decken, war desto schwerer, da der Untergang des Rentnertums und der Mieterschutz die ergiebigsten alten Steuerquellen verschüttet hatten, während sich der neue Reichtum in Formen barg, die sich der Erfassung durch die Steuerbehörden überaus leicht entziehen. Die Lösung dieses überaus schweren Problems war nicht gelungen, solange die Kräfte der Klassen einander im Gleichgewicht hielten. Der Widerstand der Bourgeoisie und der Bauernschaft war zu stark, als daß es dem Proletariat hätte gelingen können, die Lösung mit sozialistischen Mitteln, mittels rücksichtsloser Eingriffe in das Eigentumsrecht zu erzwingen. Der Widerstand der Arbeiterklasse war zu mächtig, als daß es der Bourgeoisie möglich gewesen wäre, die Lösung auf Kosten des Proletariats, die Lösung durch rücksichtslosen Abbau der Staatsangestellten und rücksichtslosen Ausbau des Systems der indirekten Steuern durchzusetzen. So war das System des Gleichgewichts der Klassenkräfte an der Währungskatastrophe gescheitert. Die Entwicklung mußte weitergehen entweder zur Wiederherstellung der Vorherrschaft der Arbeiterklasse oder zur Restauration der Bourgeoisie.

Indessen hatte Seipel seine Reise nach Prag, Berlin und Verona angetreten. Die Bourgeoisie wartete das Ergebnis dieser Reise ab. Wäre Seipel ohne Erfolg heimgekehrt, dann wäre die bürgerliche Regierung zusammengebrochen, die Bourgeoisie hätte sich unseren Bedingungen unterwerfen müssen, die bürgerlichen Parteien hätten mit uns eine Regierung bilden müssen, innerhalb deren der Sozialdemokratie die führende, die entscheidende Stellung gesichert gewesen wäre. Gelang es Seipel aber, die Kredithilfe des Auslands, sei es um welchen Preis immer, zu erzwingen, dann war die Bourgeoisie von der bitteren Notwendigkeit der Kapitulation vor der Arbeiterklasse bewahrt, dann zog sie die Unterwerfung unter die Kontrolle des Auslandes der Unterwerfung unter die Kontrolle des österreichischen Proletariats vor, dann mußte die Hilfe des ausländischen Kapitals die bürgerliche Regierung befestigen und dadurch die Herrschaft der Bourgeoisie über die Republik herstellen. So hing nun alles davon ab, ob es der Bourgeoisie gelang, die Unterstützung des ausländischen Kapitals zu erlangen. Erlangte sie sie nicht, dann mußte sie sich der Vorherrschaft der Arbeiterklasse unterwerfen. Gelang es ihr, tatkräftige Unterstützung des internationalen Finanzkapitals zu erlangen, dann hatte sie zum erstenmal seit der Revolution die Möglichkeit, den immer noch so mächtigen Einfluß des Proletariats zurückzudrängen, mit Hilfe des ausländischen Goldes, ihre Klassenherrschaft in der Republik aufzurichten.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008