Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Fünfter Abschnitt
Die Restauration der Bourgeoisie

§ 18. Der Genfer Vertrag


Literatur:

Reconstruction de l’Autriche, Société des Nations, C. 716, M. 428, Géneve 1922. – Rapport de la Délégation provisoire de la Société des Nations à Vienne, C./S. C. A. 17. – Renner und Seitz, Die Schmach von Genf und die Republik, Wien 1922. – Bauer, Der Genfer Knechtungsvertrag und die Sozialdemokratie, Wien 1922. – Danneberg, Wiederaufbau? Wien 1922. – Stolper, Der Weg zur Rettung; Die falsche Alternative; Die Genfer Protokolle, Österreichischer Volkswirt, August bis Oktober 1922.

Schuhmacher, Lammasch in St. Germain, Heinrich Lammasch, seine Aufzeichnungen, sein Wirken und seine Politik, Wien 1922.

Proksch, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, Arbeit und Wirtschaft, 1923. – Statistische Nachrichten, Wien 1923.



Schon während des Krieges, waren die tschechische und die jugoslawische Emigration miteinander verbündet. Aus ihrer Verbindung ging nach der Revolution das Bündnis der beiden neuen Staaten hervor. Dem Bündnis der beiden slawischen Staaten steht einerseits Ungarn, anderseits Italien gegenüber: Ungarn, das auf die Gelegenheit zum Revanchekrieg gegen seine beiden slawischen Nachbarn lauert; Italien, das den Slawen die Herrschaft an der Ostküste der Adria streitig macht. Österreich ist die Brücke zwischen den beiden Slawenstaaten: im gemeinsamen Krieg gegen Ungarn könnten sie die österreichischen Verkehrsmittel nicht entbehren. Österreich ist die Brücke zwischen Italien und Ungarn: im gemeinsamen Krieg gegen Jugoslawien würden sie die österreichischen Verkehrswege brauchen.

Der Kampf um das Burgenland hatte Österreich den beiden slawischen Staaten genähert. Der Vertrag von Lana war das Ergebnis dieser Phase der Entwicklung. Seit der Beendigung des Streites um das Burgenland erstarkten in Österreich die Tendenzen, die zum Abrücken von der slawischen Gruppe, zur Annäherung an Italien und an Ungarn drängten.

Diese Tendenzen waren von den konterrevolutionären Gruppen der österreichischen Gesellschaft getragen. Sie hatten Sympathien für Ungarn, seitdem dort die Konterrevolution wütete. Sie gewannen Sympathien für Italien, seitdem dort der Fascismus in schnellem Aufstieg war. Sie haßten die Tschechoslowakei und Jugoslawien: die einen, weil die Macht der beiden slawischen Staaten der Restauration Habsburgs im Wege steht; die anderen, weil die Tschechoslowakei drei Millionen Deutsche unter fremder Herrschaft hält. Sie hofften, ein italienisch-ungarischer Krieg gegen die Slawen werde auch Österreich Gelegenheit zur Revanche an den slawischen Nachbarn geben. Der Wortführer dieser Richtung war Czernin; er vor allem propagierte den Gedanken, Österreich müsse im Anschluß an eine italienisch-ungarische Kombination Schutz für die „Ordnung“ im Innern und Stärkung gegen die slawischen Nachbarn im Norden und Süden suchen.

Diese konterrevolutionären Tendenzen fanden Unterstützung in der Außenpolitik des kärtnerischen und des steirischen Landespartikularismus. Als im August 1922 der wirtschaftliche Zusammenbruch Österreichs drohte, verlangten beide Landesregierungen eine Verständigung mit Italien, damit Italien im Falle der Katastrophe Kärnten und Steiermark gegen die Gefahr eines Einbruches der Jugoslawen schütze.

Unter dem Eindruck dieser Tendenzen trat der Bundeskanzler Seipel am 20. August 1922 seine Reise nach Prag, Berlin und Verona an. Die kargen amtlichen Berichte über die Besuche in Prag und in Berlin enthüllten den Zweck der Reise nicht. Erst Verona enthüllte das Geheimnis. Seipel bot Italien eine Währungs- und Zollunion mit Österreich an. Italien sollte Österreich in seine Währungsgemeinschaft aufnehmen und es dadurch vor der drohenden Währungskatastrophe bewahren. Dafür sollte Österreich in dem italienischen Wirtschaftsgebiet aufgehen, sollte es sich wirtschaftlich und politisch Italiens Protektorat unterwerfen; ein „größeres Italien“ sollte sich so bis zur Donau ausdehnen. Damit wäre über Österreich die Brücke zwischen Italien und Ungarn geschlagen worden; die Brücke zwischen Jugoslawien und der Tschechoslowakei wäre in die Macht Italiens gefallen.

Der Plan, den Seipel in Verona dem italienischen Minister Schanzer vortrug, war mit den Interessen Jugoslawiens und der Tschechoslowakei unvereinbar. Jeder Versuch seiner Verwirklichung hätte Mitteleuropa in die schwersten, dem Frieden gefährlichsten Verwicklungen stürzen müssen. Die italienische Regierung zauderte. Der Oberste Rat der Alliierten hatte am 15. August den Völkerbund ersucht, Österreichs wirtschaftliche Lage zu überprüfen. Die italienische Regierung wies Österreich an den Völkerbund. Erst wenn die Beratungen im Völkerbundsrat zu keinem Ergebnis führen, werde Italien auf Seipels Vorschlag zurückgreifen.

So hatten die Tschechoslowakei und Jugoslawien Zeit gewonnen, ihren Gegenstoß zu führen. Der tschechische Minister des Äußern, Beneš, riß die Initiative an sich. Seine Aufgabe war klar: er mußte einerseits dafür sorgen. daß der Völkerbund Österreich vor der drohenden Währungskatastrophe rette, damit sich Österreich nicht Italien in die Arme werfe; er mußte anderseits dafür sorgen, daß die Mächte Österreich unter wirksame wirtschaftliche und politische Kontrolle stellen, damit es seine Stellung zwischen den beiden Slawenstaaten einerseits, Italien und Ungarn anderseits nicht ausnützen, nicht zum Streitobjekt zwischen den beiden Gruppen werden könne. Beneš bemühte sich nun, die englische und die französische Regierung zu überzeugen, daß der Friede in Mitteleuropa ernsthaft gefährdet wird, wenn man Österreich zusamenbrechen läßt und es dadurch dem italienischen Imperialismus in die Arme wirft. Beneš betrieb nun mit großer Energie den Plan, Österreich durch die Garantie der Mächte eine große internationale Anleihe zu ermöglichen und es dafür unter die Kontrolle des Völkerbundes zu stellen.

Der Schachzug Seipels in Verona und Beneš’ Gegenzüge in Paris, London und Genf hatten die innere Lage in Österreich vollständig verändert. Am 23. August hatte sich die Sozialdemokratie bereit erklärt, mit den bürgerlichen Parteien gemeinsam eine Regierung zu bilden, die die unmittelbar drohende Währungskatastrophe abwehren sollte. Drei Tage später war die Lage völlig verändert. Ob auf dem Wege Seipels oder auf dem Wege Beneš’ – mit einemmal gab es wieder Hoffnung auf Hilfe vom Ausland. Die Krone, die am 25. August ihren tiefsten Stand erreicht hatte, sank nicht mehr. Die Bourgeoisie faßte wieder Hoffnung, der Währungskatastrophe zu entgehen, ohne vor dem Proletariat kapitulieren; zu müssen. Sie war nicht bereit, sich unseren Bedingungen zu unterwerfen, sobald sie einen anderen Weg sah. Von Verona zurückgekehrt, lehnte Seipel die Umbildung der Regierung schroff ab. Die Vertreter der österreichischen Regierung fuhren nach Genf; als dort der Völkerbundsrat zusammentrat, zeigte es sich, daß Beneš’ Bemühungen die englische und die französische Regierung bereits für die tschechischen Pläne gewonnen hatten.

Die Verhandlungen in Genf zogen sich einige Wochen hin. Der Gegensatz zwischen Italien einerseits, England und Frankreich, die sich: zu Beneš’ Plan entschlossen hatten, anderseits, zog sie in die Länge. Erst am 4. Oktober wurden die Genfer Protokolle von den Vertretern Englands, Frankreichs, Italiens, der Tschechoslowakei und Österreichs unterzeichnet. Beneš’ Gegenzug gegen Verona hatte vollen Erfolg.

Seipel hatte ein kühnes Spiel gespielt. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Die österreichische Regierung selbst hatte vor ganz Europa öffentlich erklärt, Österreichs völliger Zusammenbruch sei unvermeidlich, wenn es nicht schleunigst Kredithilfe vom Ausland bekommt. Kam diese Kredithilfe nicht, dann mußte sich eine solche, alles Vertrauen zur Fähigkeit. Österreichs, sich aus eigener Kraft zu retten, zerstörende Erklärung furchtbar rächen; drohte sie, den gefürchteten Zusammenbruch wirklich herbeizuführen. Die österreichische Regierung selbst hatte Österreich dem italienischen Imperialismus feilgeboten; entschloß sich Italien, Österreich beim Worte zu nehmen, dann harrte unser das Schicksal, zu einer Kolonie Italiens zu werden. Aber so waghalsig Seipels Spiel gewesen war, sein Ziel war erreicht. Als die Großmächte am 15. August den Völkerbund aufforderten, „die Lage Österreichs zu untersuchen“, war dies kaum mehr als eine höfliche Verhüllung der ablehnenden Antwort auf Österreichs Bitte um Kredit. Erst unter dem Drucke der tschechischen Gegenaktion gegen den Vorschlag, den Seipel in Verona der italienischen Regierung gemacht, hatten die Verhandlungen des Völkerbundsrates über Österreich ernsten Charakter erlangt. In dem Genfer Vertrag verpflichteten sich die Mächte in der Tat, die Bürgschaft für eine österreichische Anleihe im Höchstbetrag von 650 Millionen Goldkronen zu übernehmen, von deren Ertrag 130 Millionen Goldkronen zur Rückzahlung der Österreich im Jahre 1922 gewährten Auslandskredite, 520 Millionen Goldkronen zur Deckung des österreichischen Defizits für die Dauer von zwei Jahren verwendet werden sollen.

Aber dieser Erfolg Seipels wurde teuer erkauft. Seipel selbst hatte in Verona Österreichs wirtschaftliche und politische Selbständigkeit feilgeboten. Er wurde nun beim Worte genommen. Beneš’ Ziel war, an die Stelle des italienischen Protektorats, dem Seipel in Verona Österreich hatte unterwerfen wollen, das gemeinsame Protektorat der Ententemächte und der Tschechoslowakei über Österreich zu setzen. Das ist es, was durch den Genfer Vertrag verwirklicht wurde.

Der Genfer Vertrag verpflichtete Österreich zunächst, keine Verpflichtungen einzugehen, durch die es seine Unabhängigkeit irgendeinem anderen Staat gegenüber gefährden würde. Durch diese Bestimmung schützte sich die Tschechoslowakei gegen einen Anschluß Österreichs an Italien; dieselbe Bestimmung schließt aber auch nicht nur den Anschluß Österreichs an Deutschland, sondern auch jede engere wirtschaftliche Verbindung Österreichs mit Deutschland aus.

Der Genfer Vertrag unterwirft zweitens Österreich einer doppelten Kontrolle: der Kontrolle durch einen vom Völkerbund ernannten Generalkommissär und der Kontrolle durch ein Kontrollkomitee, das aus den Vertretern der Mächte, die die Bürgschaft für die österreichische Anleihe übernehmen, zusammengesetzt ist; der Vorsitzende dieses Komitees wird von der italienischen, sein Stellvertreter von der tschechischen Regierung ernannt. Die österreichische Regierung darf ohne Zustimmung des Kontrollkomitees keinerlei Anleihen aufnehmen. Sie darf ohne Zustimmung des Generalkommissärs über die Erträgnisse der von den Mächten garantierten Anleihe nicht verfügen. Der Generalkommissär kann die Bedingungen festsetzen, unter denen er die Anleiheraten der Regierung zur Verfügung stellt. Da die Regierung das Defizit nicht mehr durch Banknoteninflation decken und da sie ohne Zustimmung des Kontrollkomitees keine Anleihen aufnehmen darf, kann sie die Staatswirtschaft nicht fortführen, wenn der Generalkommissär ihr nicht die Anleiheraten überweist; sie ist daher von der Willkür des Generalkommissärs vollständig abhängig.

Der Genfer Vertrag verpflichtet Österreich drittens, der Regierung unbeschränkte Vollmacht zur Durchführung des mit einer Völkerbundsdelegation und mit dem Generalkommissär zu vereinbarenden Reform- und Sanierungsprogramms zu geben, sodaß die Regierung die zur Durchführung dieses Programms erforderlichen Maßregeln verfügen kann, ohne an das Parlament herantreten zu müssen. Dadurch sollte auch das Gegengewicht der Parlamentsmacht gegen die Auslandskontrolle aufgehoben werden.

Am 17. Oktober kam eine Delegation des Finanzkomitees des Völkerbundes nach Wien, um mit der österreichischen Regierung das „Reform- und Sanierungsprogramm“, zu dessen Durchführung binnen zwei Jahren sich Österreich verpflichten sollte, zu vereinbaren. Die Delegation war von Bankiers geführt. Die Tätigkeit der Delegation war von dem Gedanken beherrscht, das Reform- und Sanierungsprogramm müsse Österreich das „Vertrauen des Auslandes“, das heißt das Vertrauen der ausländischen Bankiers, die Österreich den Kredit unter. der Garantie des Völkerbundes gewähren sollen, gewinnen. „Der öffentliche Kredit,“ sagt Marx, „beruht auf dem Vertrauen, daß sich der Staat durch die Juden der Finanz exploitieren läßt.“ Sollte uns das Reform- und Sanierungsprogramm Kredit in London, in Paris, in Amsterdam werben, so mußte es den Beweis erbringen, daß sich der österreichische Staat von der internationalen Hochfinanz willig ausbeuten lassen wolle. Die Auffassungen der Bankiers, die die Verhandlungen führten, die Rücksicht auf die Bankiers, die den Kredit gewähren sollten, sie bestimmten den Inhalt des „Wiederaufbaugesetzes“, in dem das Reform- und Sanierungsprogramm niedergelegt wurde; sein Entwurf machte es; anschaulich, daß die Finanzkontrolle des Völkerbundes nichts anderes sein konnte als die Kontrolle der internationalen Hochfinanz. Das Wiederaufbaugesetz will die Finanzen der Republik einerseits durch rücksichtslose Besteuerung der Volkmassen, anderseits durch rücksichtslosen Abbau der Bundesangestellten sanieren. Die Sanierung soll ausschließlich auf Kosten der breiten Massen der Arbeiter, Angestellten und Beamten erfolgen, während die heimischen besitzenden Klassen ängstlich geschont werden, dem ausländischen Kapital aber das wertvollste Eigentum der Republik verpfändet und die Selbständigkeit der Republik preisgegeben wird.

Die Sozialdemokratie hatte zu Beginn der Verhandlungen Seipels in Genf ihre Stellung fest umgrenzt: Keinen Anschluß an Italien! Aber auch keine Kontrolle des Völkerbundes, die über die bloße Kontrolle der Sicherung des Zinsendienstes für eine internationale Anleihe hinausgeht! Seipel hatte sich in Genf um diesen Einspruch nicht gekümmert. Er war überzeugt, daß Österreich die Hilfe des Auslandes nicht ablehnen werde, auch wenn die Bedingungen noch so drückend wären. Er fürchtete die Kontrolle des Auslandes über unser gesamtes öffentliches Leben nicht; überzeugt, daß sich das Parlament zu den harten Maßregeln, die die Wiederherstellung des Gleichgewichts im Staatshaushalt erfordert, aus eigenem Willen nicht werde entschließen können, wünschte er es unter den Zwang der Auslandskontrolle zu setzen. Er setzte auf die Kontrolle des Auslandes geradezu seine Hoffnung: die Kontrolle der ausländischen kapitalistischen Regierungen über Österreich sollte die österreichische Bourgeoisie von der Kontrolle durch das österreichische Proletariat befreien. Die Verhandlungen in Genf waren geheim. Durch das Geheimnis gedeckt, stimmte Seipel den Bedingungen zu, die die Unabhängigkeit Österreichs vollständig aufhoben. Das österreichische Volk erfuhr das Ergebnis der Verhandlungen erst, als sie schon abgeschlossen waren. Erst am 5. Oktober erfuhr es, daß sein Kanzler seine Souveränität um 520 Millionen Goldkronen verkauft hatte. Und die Gefahren dieser Preisgabe unserer Selbständigkeit wurden anschaulich, als die Vereinbarungen mit der Delegation des Völkerbundes den Genfer Pakt konkretisierten. So mußten wir den schärfsten Kampf gegen den Genfer Vertrag und gegen das Wiederaufbaugesetz aufnehmen.

Aber diesen Kampf mußten wir unter den ungünstigsten Bedingungen führen. Das österreichische Volle hatte vier Jahre furchtbarster Geldentwertung erlebt. Vier Jahre lang war es von furchtbarer Teuerung gequält worden. Es halte schließlich im August den Zustand der Panik erlebt, in dem die vollständige Vernichtung des Wertes des Papiergeldes die Lebensmitteizufuhr aus dem Ausland überhaupt unmöglich zu machen drohte. Nun war es mit einemmal anders geworden. Seitdem die Aussicht auf den großen Auslandskredit bestand, sank der Kronenkurs nicht mehr, die Warenpreise begannen zu sinken, die Panik war geschwunden. Diese guten Wirkungen von Genf waren da. Sie waren jedermann fühlbar. Die bösen Wirkungen, die die Sozialdemokraten voraussagten, waren vorerst nichts als Prophezeiungen. Die Stimmung der breiten Volksmassen bis tief in die Reihen der Beamten und Angestellten hinein war für Genf. Wir mußten unseren Kampf gegen die Stimmung breiter Volksmassen führen.

Und in diesem Kampfe mußte unser Ziel ein anderes, weiteres sein als die bloße Verwerfung des Genfer Vertrages. Wir hatten die Krise des August erlebt. Wir wußten: wird der Genfer Vertrag verworfen, dann besteht vorerst keine Aussicht auf Auslandskredite; dann drohen, wenn nicht gleichzeitig die energischesten Maßregeln zur Abwehr des Währungszusammenbruchs getroffen werden, neuer Sturz der Krone, neue Teuerungswelle; dann entsteht die Gefahr wieder, daß die Lebensmitteleinfuhr aus dem Ausland überhaupt zu stocken beginnt, daß Österreich in eine Hungerkatastrophe stürzt. Darum mußten wir sagen: Wir dürfen die Ratifizierung des Genfer Vertrages nur unter der Bedingung verhindern, daß wir gleichzeitig finanzpolitische Maßregeln durchsetzen können, die die drohende Währungskatastrophe zu verhindern geeignet sind.

Solche Maßregeln waren möglich. Man konnte durch eine Zwangsanleihe in Valuten und Devisen von den Banken und den Börsennritgliedern 120 Millionen Goldkronen in ausländischen Zahlungsmitteln anfordern, konnte ferner durch Valorisierung der Zwangsanleihe Segurs ihren Ertrag auf wenigstens 60 Millionen Goldkronen erhöhen, hatte schließlich auch noch einen Goldschatz aus der Liquidation der Österreichisch-Ungarischen Bank im Betrage von 35 Millionen Goldkronen zur Verfügung. Mit diesen Mitteln konnte man das Staatsdefizit für geraume Zeit ohne Beanspruchung der Notenpresse decken, den Kronenkurs stabilisieren und dadurch für die Bilanzierung der regelmäßigen Einnahmen und Ausgaben des Staates Zeit gewinnen. Ökonomisch war es also unzweifelhaft möglich, den wirtschaftlichen Zusammenbruch auch im Falle der Verwerfung des Genfer Vertrages zu verhüten. Aber war es auch politisch möglich? Waren wir imstande, die Regierung Seipel zu stürzen und an ihre Stelle eine Regierung zu setzen, die die Ratifizierung des Genfer Vertrages abgelehnt und gleichzeitig die von uns geforderten Maßregeln finanzieller Selbsthilfe mit solcher Energie und solcher Schnelligkeit ergriffen hätte, daß die Währungskatastrophe wirklich verhütet werde?

Die erste Voraussetzung dafür war, die Volksstimmung gegen Genf zu wenden. Wir begannen eine große Propagandaaktion. Der Parteitag am 14. Oktober leitete sie ein. Massenversammlungen, Massendemonstrationen folgten. Im Grunde war diese Massenaktion ein Kampf um die Seelen der deutschnationalen Intellektuellen, Beamten, Angestellten, Lehrer. Nur wenn es gelang, das nationale Selbstbewußtsein der deutschnationalen Wählerschaft gegen die Unterwerfung Österreichs unter Fremdherrschaft zu mobilisieren, konnten wir hoffen, die Großdeutschen zur Wendung gegen Seipel zu zwingen, die Regierungsmehrheit Seipels zu sprengen und damit die Voraussetzungen für einen neuen Kurs zu schaffen. Aber sehr bald zeigte es sich, daß dieser Versuch nicht gelang. Die Jahre der Geldentwertung hatten gerade die Schichten der Intelligenz, der Beamten- und Angestelltenschaft, die die Masse der deutschnationalen Wählerschaft bilden, am schwersten getroffen. Gerade sie waren nun bereit, die Stabilisierung der Krone um jeden Preis, selbst um den Preis der nationalen Unabhängigkeit, zu erkaufen. Auf dem Deutschen Reich lastete der furchtbare Druck der französischen Reparationsforderungen. Die Mark stürzte unaufhaltsam. In dieser Zeit des Niederganges Deutschlands hatte die deutschnationale Intelligenz in Österreich den Glauben an den Anschluß verloren; so war sie nun bereit, sich der Entente in die Arme zu werfen, um von ihr die Rettung von der Geldentwertung zu empfangen. Das nationale Bürgertum fühlte und dachte nicht mehr national, es fühlte und dachte nur noch bürgerlich; es zog die Stabilisierung der Krone auf Kosten des Proletariats unter der Kontrolle der Entente ihrer Stabilisierung auf Kosten der Bourgeoisie unter der Kontrolle des Proletariats vor. Sehr bald wurden wir gewahr, daß unser Kampf um die nationale Unabhängigkeit im nationalen Lager kein Echo fand; daß unser Kampf gegen die Großdeutschen, die die nationale Unabhängigkeit preisgaben, Großdeutsche und Christlichsoziale erst recht zusammenschweißte. Damit aber schwand alle Hoffnung, mit demokratischen Mitteln die Regierungsmehrheit zu sprengen, den Genfer Vertrag zu werfen.

Zugleich vollzog sich aber auch außerhalb der Grenzen Österreichs, ein Ereignis, das die Gefahren unseres Kampfes gegen Genf vergrößerte. Am 29. Oktober zwang in Italien die Revolte des Fascismus die liberale Bourgeoisie zur Kapitulation. Die Regierungsgewalt fiel in die Hände der Fascisten. Damit entstand für uns eine ernste Gefahr: führte unser Kampf gegen Genf zu schweren inneren Verwicklungen in Österreich, so konnte der in Italien zur Macht gelangte Nationalismus auf Verona zurückgreifen, Österreich beim Wort nehmen, das „größere Italien“, das der Fascismus der nationalistischen Jugend versprochen hatte, auf der Linie des geringsten Widerstandes zu verwirklichen, Italiens Machtsphäre zur Donau auszudehnen versuchen. So groß die Gefahren des Genfer Vertrages waren, die Gefahr des Wiederauflebens des Projekts von Verona war nun, nach dem Siege des weißen Terrors in Italien, noch viel schlimmer.

Es handelte sich nicht nur darum, Genf zu werfen. Wir durften die Ratifizierung des Genfer Vertrages nur dann verhindern, wenn wir gleichzeitig eine zu tatkräftiger finanzieller Selbsthilfe fähige Regierung bilden konnten. Wie konnten wir zu einer solchen Regierung gelangen? Mit demokratischen Mitteln? Das war unmöglich, da es nicht gelang, die Großdeutschen gegen Genf zu gewinnen, die auf Genf eingeschworne Parlamentsmehrheit zu sprengen. Mit revolutionären Mitteln? Das hieß, der für Genf streitenden Volksstimmung gegenüber, den Bürgerkrieg entfesseln, damit die Wirtschaftskatastrophe, die im August gedroht hatte, unabwendbar machen, die Intervention des fascistisch gewordenen Italien heraufbeschwören, also Gefahren provozieren, die noch weit schlimmer gewesen wären als die Gefahren des Genfer Vertrages selbst.

So konnten wir die Ratifizierung des Genfer Vertrages nicht verhindern. Wir mußten also die Kraft der von uns entfesselten Massenbewegung dazu ausnützen, die Gefahren von Genf möglichst zu verringern. Dieser Versuch hatte zwiefachen Erfolg. In einem Punkte gelang es uns, das Diktat von Genf zu durchbrechen. Nach dem Genfer Vertrag sollte das Parlament für zwei Jahre der Regierung die Vollmacht zur Durchführung des „Reform- und Sanierungsprogramms“ geben. Wir setzten durch, daß das Parlament diese Vollmacht nicht der Regierung gab, sondern dem „Außerordentlichen Kabinettsrat“, das heißt einem Ausschuß des Parlaments selbst. Dadurch wurde die Ausschaltung der Volksvertretung aus den wichtigsten Gesetzgebungsakten verhindert. Zweitens setzten wir eine ganze Reihe wichtiger Änderungen des „Reform- und Sanierungsprogramms“ selbst und des seine Durchführung regelnden Wiederaufbaugesetzes durch; dadurch wurde eine ganze Reihe von Anschlägen auf die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse abgewehrt. Erst nachdem uns die Regierung und die Delegation des Finanzkomitees des Völkerbundes diese Zugeständnisse gemacht hatten, konnte der Nationalrat am 2. Dezember den Genfer Vertrag ratifizieren.

Die Entscheidung über den Genfer Vertrag war zunächst eine Entscheidung zwischen den beiden geschichtlichen Tendenzen, deren Kampf die ganze neuere Geschichte Deutschösterreichs erfüllt: zwischen dem Österreichertum und dem Deutschtum. Als das Habsburgerreich zerfiel, hatte sich dieser alte Gegensatz verkörpert in der Doppelregierung, die in Deutschösterreich vom 30. Oktober bis zum 12. November 1918 bestand: im Gegensatz zwischen der Regierung Lammasch-Seipel, der letzten kaiserlichen Regierung, auf der einen und dem von der Provisorischen Nationalversammlung gewählten Staatsrat, der ersten republikanischen Regierung auf der anderen Seite. Die Regierung Lammasch-Seipel war vom Kaiser ernannt worden, um das Sonderfriedensangebot Andrassys zu decken; ihr leitender Gedanke war, Österreich solle sich aus der Katastrophe der Mittelmächte retten, indem es sich von Deutschland trennt, sich der Entente in die Arme wirft, sich durch Befriedigung der slawischen Nationen innerhalb des habsburgischen Imperiums zum Anschluß an die Entente fähig macht. Der Staatsrat verkörperte die entgegengesetzte Tendenz; sein leitender Gedanke war, nach dem Zerfall des Habsburgerreiches müsse Deutschösterreich sein Schicksal von dem Habsburgs trennen und im Anschluß an Deutschland seine Zukunft suchen. Der 12. November 1918 entschied zwischen diesen beiden Tendenzen: die sozialdemokratische Arbeiterschaft und das deutschnationale Bürgertum haben die Regierung Lammasch-Seipel gestürzt und zugleich mit der Republik den Anschluß an Deutschland proklamiert. Aber der Gegensatz zwischen dem Österreichertum und dem Deutschtum in der Seele der Deutschösterreicher wirkte weiter. In der Zeit der Friedensverhandlungen wurde er wieder sichtbar. Unsere Friedensdelegation kämpfte in Saint-Germain um den Anschluß an Deutschland. Aber das Österreichertum wünschte den Anschluß nicht. Während der Friedensverhandlungen in Saint-Germain verfocht Lammasch den Plan, Österreich solle seine vollziehende Gewalt, einschließlich des Rechtes zur Sanktion aller Gesetze und Staatsverträge und zur Ernennung aller höheren Beamten und Offiziere, einer vom Völkerbund zu ernennenden Kommission übertragen und dafür vom Völkerbund Kredithilfe für seine wirtschaftliche Aufrichtung erlangen. Damals scheiterten freilich beide Pläne. Unser Kampf um den Anschluß scheiterte an dem Widerstand der Entente. Pläne von der Art, wie Lammasch sie entworfen, lehnte der nationale und, republikanische Freiheitswille des deutschösterreichischen Volkes damals noch einmütig ab. So führte Österreich ein selbständiges Leben, kein Teil des Deutschen Reiches, aber auch keine Kolonie der Entente. Aber das Elend dieser unfreiwilligen Selbständigkeit, zermürbte allmählich den nationalen und republikanischen Freiheitswillen immer breiterer Massen des österreichischen Volkes. Im Herbst 1922, der drohenden Gefahr des Währungszusammenbruchs gegenüber, war bereits das ganze österreichische Bürgertum zur Kapitulation vor der Entente reif geworden. Nun konnte Seipel Lammasch’ Vermächtnis vollziehen. Im Vertrag von Genf entsagte Deutschösterreich zum zweitenmal dem Anschluß an Deutschland: das erstemal, durch Annahme des Friedensvertrages, hatte es sich zähneknirschend dem Gebot des übermächtigen Siegers unterworfen; das zweitemal, durch Annahme des Genfer Vertrages hatte es den Anschluß um bares Geld, um 520 Millionen Goldkronen verkauft. Und da Österreich allein nicht seine Wirtschaft aufrechtzuerhalten vermochte, trat an die Stelle des Anschlusses an Deutschland die Unterwerfung unter die Oberhoheit der Entente: in veränderter Gestalt vollzieht der Genfer Vertrag, was Lammasch während der Friedensverhandlungen in Saint-Germain verfochten hatte. So hat schließlich die Konzeption der Regierung Lammasch-Seipel über die Konzeption des Staatsrats gesiegt: Deutschösterreich hat sich von Deutschland getrennt und sich der Entente in die Arme geworfen, um seine Volkswirtschaft vor dem Verfall, die Herrschaft seines Bürgertums vor der Revolution zu retten. Standen im November 1918 die Deutschnationalen an der Seite der Arbeiterklasse gegen das ententistisch gewordene Altösterreichertum, so kämpften im Oktober 1922 die Deutschnationalen und die Altösterreicher vereint gegen die Arbeiterklasse für die Preisgabe unserer nationaien Souveränität an die Entente. In der Seele der Bourgeoisie hatte das Österreichertum. über das Deutschtum vollständig gesiegt. Die ganze Bourgeoisie hatte sich von den Ideen des 12. November zu den Konzeptionen Lammasch’ gewendet. Der 4. Oktober 1922 war Seipels Revanche für den 12. November 1918. Die nationale Revolution der Deutschösterreicher war liquidiert.

Bedeutet der Genfer Vertrag die Liquidierung der nationalen Revolution, so bedeutet er zugleich eine wichtige Etappe auf dem Wege zur Liquidierung der sozialen Revolution von 1918. Mit einem Schlage wälzte der Genfer Vertrag die Machtverhältnisse zwischen den Klassen um.

Zum Generalkommissär des Völkerbundes wurde Dr. Zimmerman, der Bürgermeister von Rotterdam, bestellt. Er kam nach Wien, um das von den Bankiers der Völkerbundsdelegation entworfene Reform- und Sanierungsprogramm durchzusetzen; um die Finanzpolitik Österreichs so zu lenken, daß sie die Bankiers von London, Paris, Amsterdam, Zürich zur Gewährung des Kredits ermutigt. Von den besitzenden Klassen Österreichs wurde er hochwillkommen geheißen: vom ersten Tage an belagerten ihn die Vertreter der Großbanken und der Großindustrie, suchten sie ihn zum Eingreifen gegen die Arbeiterklasse zu bewegen. Mit der Arbeiterklasse Österreichs mußte er in Konflikt geraten, weil das Programm der Bankiers mit den Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten mußte. So steht das Proletariat nicht mehr nur der österreichischen Regierung gegenüber, sondern dem fremden Generalkommissär, dessen Macht über Österreich beinahe unbegrenzt ist, weil er jederzeit die Fortführung der österreichischen Staatswirtschaft unmöglich machen kann. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen der österreichischen Gesellschaft wurde wesentlich verändert, sobald diese neue Kraft in das Kräftesystem eingeschaltet wurde. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte wurde dadurch aufgehoben. Wie so oft in der Geschichte das Gleichgewicht der Klassenkräfte dazu führte, daß sich die Staatsgewalt gegen die Klassen verselbständigte, der Absolutismus sich alle Klassen unterwarf, so wurde hier das Gleichgewicht der Klassenkräfte dadurch aufgehoben, daß sich die Staatsgewalt unter den Schutz des Auslandes flüchtete, der Machthaber des Auslandes zum Herrn über alle Klassen wurde.

Seit dem 3. Oktober 1918 war jede Initiative in Deutschösterreich von der Arbeiterklasse, von der Sozialdemokratie ausgegangen. Die Bourgeoisie hatte uns immer wieder gehemmt und gehindert; aber die Initiative war immer in unseren Händen gewesen. Die Aktion Seipels war die erste Aktion, die aus der Initiative der Bourgeoisie hervorgegangen war. In der Persönlichkeit Seipels hatte sie zum erstenmal einen weitblickenden, tatkräftigen Führer gefunden. Die Durchsetzung des Genfer Vertrages war ihr erster großer Sieg über die Arbeiterklasse, die seit der Genfer Aktion eingetretene Stabilisierung des Kronenkurses ihr erster sichtbarer Erfolg. Das Selbstbewußtsein der Bourgeoisie war gewaltig gestärkt. Hinter Seipel stand nun wirklich die Gesamtheit der besitzenden Klassen: die Christlichsozialen ebenso wie die Großdeutschen, die Großbanken und die Großindustrie ebenso wie die Agrarier und die Zünftler, die Bischöfe ebenso wie die Börse, die jüdisch-kapitalistische Presse ebenso wie das radau-antisemitische Hakenkreuzlertum. In der Zeit der Regierungen Mayr und Schober hatten die Gegensätze zwischen den bürgerlichen Parteien die Machtstellung der sozialdemokratischen Opposition im Parlament gestärkt; das war nun vorbei. Wir stehen im Parlament einer geschlossenen, einheitlich geführten Mehrheit, einer Mehrheit mit wesentlich gestärktem Selbstbewußtsein, einer Mehrheit, deren Regierung überdies auf Grund des Wiederaufbaugesetzes wesentlich erweiterte Vollmachten, besitzt, gegenüber. Die Machtstellung der Arbeiterklasse im Parlament ist dadurch empfindlich geschwächt.

Zugleich wurde die wirtschaftliche, die gesellschaftliche Machtstellung der Arbeiterklasse durch die Industriekrise geschwächt, die mit der Stabilisierung des Kronenkurses hereingebrochen war. Die Devisenkurse hatten am 25. August ihren höchsten Stand erreicht. Kurze Zeit senkte die Hoffnung auf einen großen Auslandskredit die Devisenkurse; dann stabilisierte sich der Kronenkurs. Die Spannung zwischen dem Binnen- und dem Außenwert der Krone, die bisher den Export der österreichischen Industrie gefördert und den Import ausländischer Industrieprodukte behindert hatte, war damit verschwunden. Die österreichische Industrie hatte in der Zeit der Geldentwertung ihre Kapitalien aufgezehrt, sich mit hohen, zu überaus hohem Zinsfuß zu verzinsenden Bankschulden belastet, ihren Produktionsapparat nicht erneuert; nun stand sie, der Prämie eines sich entwertenden Geldes beraubt, dem Wettbewerb der ausländischen Industrie gegenüber. So brach denn die internationale Absatzkrise, die seit dem Sommer 1920 auf dem ganzen Weltmarkt lastet, jetzt auch nach Österreich ein. Die Krise wurde durch zwei Tatsachen verschärft: einerseits durch den jähen Sturz der Mark unter dem Drucke der Reparationskrise im Herbst 1922 und der Ruhrbesetzung im Jänner 1923; anderseits durch die Drosselung aller staatlichen Arbeilen und Bestellungen, zu der die Finanznot die Regierung zwang, sobald die Banknotenpresse dem Staat nicht mehr zur Verfügung stand. Die Zahl der Arbeitslosen, die im Genuß der Arbeitslosenunterstützung waren, betrug im Monat:

August

  31.247

September

  38.000

Oktober

  58.018

November

  83.387

Dezember

117.891

Jänner

161.300

Februar

169.075

Mit der Arbeitslosigkeit wurde auch die Kurzarbeit zur Massenerscheinung. Nach einer Erhebung der Gewerkschaften waren Ende Dezember 1922 von 620.573 organisierten Arbeitern nur noch 275.733 voll beschäftigt, 206.257 nur noch teilweise beschäftigt, 138.583 arbeitslos. Unter dem Drucke der Industriekrise brach das System der Indexentlohnung zusammen; die Arbeiter mußten empfindliche Lohnkürzungen hinnehmen. Selbst das Einkommen der Vollarbeiter sank bedeutend, während die Lebensmittelpreise in den Herbstmonaten nur um ein geringes sanken, schon im Winter wieder zu steigen begannen; Kurzarbeiter und Arbeitslose stürzten in schweres Elend. Die Lebenshaltung der Arbeitermasse, die sich 1919 bis 1921 fühlbar gebessert hatte, wurde nun wieder empfindlich verschlechtert. Die Furcht vor der Entlassung, die Sorge um die Arbeitsstelle machten die Arbeiter den Unternehmern gefügig; die Machtstellung der Betriebsräte in den Betrieben wurde empfindlich geschwächt. Die Gewerkschaften mußten, um Niederlagen zu vermeiden, schweren Kämpfen in der Zeit der Absatzstockung auszuweichen bemüht sein; auch ihre Macht wurde dadurch geschwächt. Die Arbeiter sahen sich auf der ganzen Linie in die Defensive gedrängt. Während die Durchsetzung des Genfer Vertrages das Selbstbewußtsein der Bourgeoisie mächtig stärkte, wurde das Machtbewußtsein der Arbeiterklasse durch die Industriekrise erschüttert.

Wie die Macht der Arbeiterschaft in der Privatindustrie durch die Industriekrise, so wurde die Macht der Angestelltenschaft in den staatlichen Ämtern und Betrieben durch den Abbau der Bundesangestelltenschaft geschwächt. Die erste Forderung der Auslandskontrolle, der der Genfer Vertrag Österreich unterworfen hatte, war der Abbau eines Drittels der gesamten Bundesangestelltenschaft. Bis Ende 1922 mußten 25.000 Bundesangestellte entlassen werden; bis Mitte 1924 sollen weitere 75.000 Bundesangestellte aus dem Staatsdienst ausgeschieden werden. Jeder einzelne Bundesangestellte fürchtet nun den Abbau; jeder einzelne wirbt um das Wohlwollen seiner Vorgesetzten, um von dem Abbau verschont zu werden. Die Machtstellung der Gewerkschaften und der Personalvertretungen wurde durch die Furcht der einzelnen vor dem Abbau geschwächt.

Zugleich erstarkten die konterrevolutionären, die fascistischen Tendenzen innerhalb des Bürgertums. Der Sieg des Fascismus in Italien hat überall die nach gewaltsamer Niederwerfung der Arbeiterklasse, nach der Aufrichtung einer zäsaristischen Diktatur drängenden konterrevolutionären Tendenzen gestärkt. Inbesondere in Bayern gewann die nationalsozialistische Bewegung im Herbst 1922 bedeutende Kraft. Sie griff nun auch auf Österreich über. Sehr große Geldmittel, die aus Deutschland zuflossen, erlaubten den Hakenkreuzlern eine lärmende Agitation, die den volkstümlichen Haß gegen die „neuen Reichen“ zu antisemitischer Pogromhetze ausnützt und das Elend der Arbeitslosen zu konterrevolutionären Zwecken ausbeutet; sie versuchen es, durch das Elend der Krisenzeit deklassierte Arbeitslose für ihre Sturmtruppen gegen die Arbeiterklasse zu werben und zu kaufen. Ähnliche Anstrengungen machten verschiedene Gruppen der Frontkämpfer und der Heimatwehren. Die Arbeiterklasse antwortet, indem sie ihre Ordnerorganisation ausbaut. Aber die Ordnerorganisation muß nun damit rechnen, daß ihr zahlreiche, zum großen Teil aus gewesenen Offizieren zusammengesetzte, daher militärisch sehr wertvolle, dank den reichen Geldmitteln, über die sie verfügen, sehr gut ausgerüstete Gegner gegenüberstehen. Zugleich versuchen Unternehmerverbände und Fascistenorganisationen auch eine Technische Nothilfe zu schaffen, die zur Niederwerfung von Streiks in lebensnotwendigen Betrieben dienen soll.

Diese ganze Entwicklung hat das Machtbewußtsein der bürgerlichen Regierung überaus gefestigt. Kann sich die Regierung jetzt jederzeit hinter der Autorität des Generalkommissärs des Völkerbundes decken, verfügt sie jetzt im, Nationalrat über eine einheitlichere und selbstbewußtere Mehrheit als vordem, so hat sie in einer Zeit der Kurzarbeit, der Arbeitslosigkeit, des Abbaus, der starken fascistischen Rüstungen proletarische Massenerhebungen außerhalb des Parlaments weit weniger zu fürchten als früher. Haben die außerordentlichen Vollmachten, die die Regierung auf Grund des Genfer Vertrages genießt, die parlamentarische Demokratie eingeengt, so ist die funktionelle Demokratie fast völlig verschwunden: die „Staatsautorität“ ist wiederhergestellt, die Regierung diktiert nun, wo sie früher mit Personalvertretungen und Gewerkschaften paktieren mußte. Das ist nun nicht mehr die schwache, zaghafte bürgerliche Regierung, wie es die Regierungen Mayr und Schober waren. Das ist die machtbewußte Regierung der besitzenden Klassen, die die Schwächung der Arbeiterklasse ausnützen wollen, um die Klassenherrschaft der besitzenden Klassen wiederherzustellen, die Republik zum Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie auszubauen.

Die Reaktion drückt sich anschaulich in der Finanzpolitik aus, die der Genfer Vertrag eingeleitet hat: hat die Finanzpolitik der Jahre 1919 und 1920 den Schwerpunkt der staatlichen Einnahmenwirtschaft von den Verbrauchsabgaben zu den Besitzsteuern verschoben, so rückt ihn die Durchführung des „Wiederaufbaugesetzes“ jetzt wieder von den Besitzsteuern zu den Verbrauchsabgaben und Zöllen zurück. Dieselbe Tendenz sehen wir im Bereich der Sozialpolitik: von ihrem Ausbau ist keine Rede mehr; in schwerem Kampfe muß die Arbeiterklasse das schon Errungene verteidigen. Dieselbe Tendenz sehen wir im Bereich der Schulpolitik; die Finanzen der Länder werden auf Kosten der Volksschulen saniert, sechzig und siebzig Schulkinder werden in den Ländern (nicht in Wien) wieder in eine Schulklasse zusammengepfercht, die neuen Unterrichtsmethoden werden damit erschlagen. Vor allem aber zeigt sich der neue Kurs in der planmäßigen Offensive der Regierung gegen die drei wichtigsten Stützen der Machtstellung des Proletariats: gegen die von der Arbeiterklasse beherrschten Gemeinden, gegen die Herrschaft der Gewerkschaften über die Verkehrsbetriebe und gegen die Machtposition des Proletariats in der Wehrmacht. Der Klassenkampf der Bourgeoisie gegen das Proletariat nimmt die Gestalt zähen Kleinkriegs der bürgerlichen Bundesregierung gegen die proletarische Herrschaft in der Gemeinde Wien, zähen Kampfes der Verwaltungen der Verkehrsbetriebe gegen die Machtstellung der Personalvertretungen der Eisenbahner, der Postler, der Telegraphen- und Telephonangestellten, ständiger Offensive der Kommanden des Bundesheeres gegen die Befugnisse der Soldatenräte und gegen die Bürgerrechte der Wehrmänner an. Am heftigsten ist die Reaktion im Bundesheer. Die Regierung sucht die in der Schule des Krieges und der Revolution erzogenen, aus der Volkswehr übernommenen Soldaten aus dem Bundesheer möglichst schnell, hinauszudrängen; die jungen, erst 1921 und 1922 eingerückten Wehrmänner sucht sie durch planmäßige Begünstigung der Gefügigen, planmäßige Schikanierung der Mißliebigen mürbe zu machen, bis sie zu willenlosen Werkzeugen des reaktionären Offizierskorps werden.

So herrscht jetzt wieder die Bourgeoisie. Mit der Preisgabe der nationalen Selbständigkeit, mit der Unterwerfung unter das Diktat der Auslandskontrolle, mit der Wirtschaftskrise, mit Lohndruck, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, mit furchtbarer Verschlechterung der Lebenshaltung der Arbeitermassen, mit dem Abbau von zehntausenden Beamten und Lehrern, mit der Verelendung des von der Krise zermalmten Kleingewerbes, mit dem Abbau von Schulen und wissenschaftlichen Instituten ist die Herrschaft der Bourgeoisie wiedergekehrt.

Aber noch ist die Restauration der Bourgeoisie nicht vollzogen. Das Proletariat ist augenblicklich geschwächt, aber es ist noch nicht besiegt. Noch sind eine Million Arbeiter und Angestellte in den Gewerkschaften vereinigt. Noch beherrscht die Arbeiterklasse die Hauptstadt, die beinahe drei Zehntel des österreichischen Volkes umfaßt. Noch kann das Proletariat die lebensnotwendigen Verkehrsbetriebe stillegen, wann immer es ihm beliebt. Noch ist das Bundesheer nicht zum brauchbaren Instrument zu gewaltsamer Niederwerfung des Proletariats geworden. Noch verfügt die Bourgeoisie nicht über die Zweidrittelmehrheit im Parlament, kann sie daher die Geschäftsordnung, die der proletarischen Minderheit die Waffe der Obstruktion läßt, und die Verfassung, die die Macht der Mehrheit begrenzt, nicht abändern. Erst wenn es der Bourgeoisie gelingt, dem Proletariat alle diese Machtmittel zu entreißen, erst dann wird die Restauration der Bourgeoisie wirklich vollzogen, wird die Republik, die die Arbeiterklasse begründet hat, wirklich zur Bourgeoisrepublik geworden sein.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008