Otto Bauer

 

Die Krise der Demokratie
(Auszüge)

(1936)


Aus: Zwischen Zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus, Bratislava o.J. [1936], S.94-5, 100-13.
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Die bürgerliche Demokratie

Die moderne Demokratie ist ein Resultat der Entwicklung des Kapitalismus. Nicht in dem Sinne natürlich, als ob die Kapitalisten die Demokratie gewollt, erkämpft, eingerichtet hätten. Aber in dem Sinne, daß der Kapitalismus in der Periode seiner aufsteigenden Entwicklung in allen vorgeschrittenen Ländern Klassenkämpfe herbeigeführt hat, die zur Entwicklung und zum Siege der Demokratie geführt haben.

Das erste unmittelbare Resultat der bürgerlichen Revolutionen war nicht der demokratische, sondern der liberale Staat. Im Kampfe gegen den Feudalismus und den Absolutismus hat die liberale Bourgeoisie überall den ganzen Katalog der „Menschen- und Bürgerrechte“ erkämpft. Im Kampf gegen die Kabinettsjustiz der Fürsten, die jeden Untertan nach ihrem Gutdünken in ihre Bastillen werfen lassen konnten, hat die liberale Bourgeoisie die elementare Voraussetzung aller persönlichen Freiheit erkämpft: das Gesetz, daß niemand seiner Freiheit beraubt werden kann, es sei denn, er habe ein Gesetz verletzt und sei in öffentlichem Verfahren vor einem unabhängigen Richter der Gesetzesverletzung überführt. Heute, in einer Zeit, in der jeder Polizeibüttel die Untertanen des Faschismus ohne gerichtliches Verfahren ins Gefängnis werfen, sie auch dann, wenn er sie keiner Gesetzesverletzung beschuldigt, ins Konzentrationslager schicken kann, wissen wir wieder die Bedeutung dieser vom Liberalismus eroberten Garantie der persönlichen Freiheit zu schätzen! Im Kampfe gegen den Druck der Kirche und des Staates hat die liberale Bourgeoisie jedem Bürger das Recht erobert, sich frei seine Meinung zu bilden, seine Meinung zu bekennen, für seine Meinung zu werben: die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre, die Freiheit der Parteibildung, die Vereins-, Versammlungs- und Preßfreiheit. Wo der Faschismus all das dem Volke geraubt hat, erkennen wir erst wieder die ganze Bedeutung dieser Voraussetzungen aller geistigen Freiheit! Im Kampfe gegen die ständische Ordnung der feudalen Gesellschaft, die das Volk in Geburtstände geteilt und jedem Stand anderes Recht zugemessen hat, im Kampf gegen die ständischen Privilegien des Adels und des Klerus hat die liberale Bourgeoisie die Gleichheit aller vor dem Gesetz erkämpft, – der Faschismus, der die Mitglieder der herrschenden faschistischen Partei gegenüber dem ganzen Volke privilegiert, hat uns wieder gelehrt, was die Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet! Im Kampfe gegen die Willkür der Fürsten und ihrer Bürokratie hat die liberale Bourgeoisie endlich die Staatsgewalt an Gesetze gebunden, die nur von Vertretern der Nation, von Parlamenten beschlossen werden können, – wo heute ein faschistischer Diktator nach seinem Ermessen dekretiert, wissen wir zu schätzen, wie groß diese Errungenschaft war!

[...]

Ein anderes Beispiel! Die schweren wirtschaftlichen Erschütterungen, die dem Weltkrieg gefolgt sind, und die Lockerung des Gefüges des britischen Weltreiches durch den Weltkrieg haben die überwiegende Mehrheit, des englischen Volkes mit Haß gegen den Krieg, mit Abneigung gegen Kriegsrüstungen, mit starkem Friedenswillen erfüllt. Der Widerstand der breiten englischen Volksmassen drohte dem britischen Imperialismus schwere Hindernisse zu bereiten, die See- und Luftrüstungen des Imperiums zu hindern. Da griff nun eine mächtige Agitation ein. Sie überzeugte das englische Volk, daß der Friede nur gesichert werden könne, wenn der Völkerbund über jeden Staat, der den Frieden verletzt, wirtschaftliche und, wenn es notwendig sein sollte, auch militärische Sanktionen verhängt. Als nun Italien durch seinen Angriff auf Abessinien gewichtige Interessen des britischen Imperialismus bedrohte, konnte der britische Imperialismus diese Überzeugung des englischen Volkes ausnützen. Er trat Italien entgegen nicht im Namen der Interessen des britischen Imperiums, sondern im Namen des Völkerbundes. Er schickte seine Schlachtschiffe ins Mittelmeer als Exekutivorgane des Völkerbundes gegen den Friedensbrecher. Er forderte die Zustimmung des englischen Volkes zu verstärkter See- und Luftrüstung, damit Englands Flotte und Englands Luftwaffe stark genug seien, den Willen des Völkerbundes gegen jeden Friedensstörer durchzusetzen. So konnte und kann der britische Imperialismus mit uneingeschränkter Zustimmung der überwiegender Mehrheit des englischen Volkes seinen Willen durchsetzen, indem er seine Interessen als Interessen der Sicherung des Friedens, seine Aktion als Aktion des Völkerbundes maskiert.

Die wirtschaftlichen Erschütterungen der Nachkriegszeit haben die Macht des Kapitals über die Demokratie verstärkt. Insbesondere die Erschütterung der Währungen hat den Staat in drückende Abhängigkeit von der Hochfinanz gebracht. Das Kapital, durch die Krise geschreckt, reagiert auf alles, was seine Interessen bedroht, mit Paniken, mit wilden Kursbewegungen auf der Börse, mit Kapitalsflucht in das Ausland. Jede solche Bewegung kann den Kurs des nationalen Geldes senken, die Währung erschüttern, die Preise der Lebensmittel und der Rohstoffe sprunghaft in die Höhe treiben. Man hat es in der Nachkriegszeit erlebt, daß Linksregierungen, auf große parlamentarische Mehrheiten gestützt, vor solchen Börsenbewegungen kapitulieren, trotz ihrer parlamentarischen Mehrheiten demissionieren, die Macht Parteien und Männern, die das Vertrauen der Börse genossen, übergeben mußten.

Die Demokratie wird von den bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien regiert. Die große Masse der Wähler dieser Parteien bilden Kleinbürger, Bauern, Angestellte, auch Arbeiter. Die großen Kapitalisten bilden nur einen sehr kleinen Teil ihrer Wählerschaft. Trotzdem müssen die regierenden Parteien die Geschäfte des Kapitals besorgen. Allerdings ist die herrschende Klasse niemals identisch mit ihren politischen Repräsentanten. Es kommt zwischen ihnen zu Konflikten. Die Kapitalistenklasse fordert von der Regierung die volle Durchsetzung ihrer Interessen. Die Regierung, aus bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien hervorgegangen und auf sie gestützt, muß auf die Interessen und Stimmungen der Klassen, aus denen sich die Wählerschaft der Regierungspartei zusammensetzt, Rücksicht nehmen. Der Gegensatz zwischen der herrschenden Kapitalistenklasse und ihren politischen Agenten „kann sich zu einer gewissen Entgegensetzung und Feindschaft beider Teile entwickeln, die aber in jeder praktischen Kollision, wo die Klasse selbst gefährdet ist, von seihst wegfällt“. [1] Die Nachkriegszeit ist reich an Beispielen sowohl für die Entwicklung als auch für dir Überwindung solcher Konflikte. Man denke z.B. an das Verhältnis zwischen Wallstreet und dem Weißen Haus, zwischen den deutschen demokratischen Reichsregierungen und der Ruhrindustrie. zwischen französischen Linksregierungen und der Pariser Börse!

Die Geschichte eines halben Jahrhunderts beweist, wie vortrefflich es der Kapitalistenklasse in allen demokratischen Ländern gelungen ist, die Demokratie ihren Interessen dienstbar zu machen. Überall ist die Demokratie zu einer Form der Klassenherrschaft der Kapitalistenklasse geworden. Aber ist die bürgerliche Demokratie eine Form der Klassenherrschaft der Kapitalisten, so ist sie doch keine Diktatur, keine schrankenlose Herrschaft der Kapitalistenklasse. In dem liberalen, auf das Zensuswahlrecht gegründeten Staat haben Kapitalisten und Großgrundbesitzer allein geherrscht. Der Kampf zwischen diesen beiden Fraktionen des Großeigentums, zwischen den Privilegierten des Geldes und den Privilegierten des Blutes beherrschte damals das staatliche Leben. Kleinbürger, Bauern. Arbeiter, vom Wahlrecht ausgeschlossen, hatten an der Staatsmacht keinen Anteil. Anders in der Demokratie. Hier kann die Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nur behaupten, indem sie sich gegen die Arbeiterklasse auf das mittlere und kleine Bürgertum, auf die großen und mittleren Bauern stützt. Sie muß ihnen daher Anteil an der politischen Macht lassen und ihnen wirtschaftliche und soziale Zugeständnisse machen. Herrscht in dem auf das Zensuswahlrecht begründeten liberalen Staat nur die großkapitalistische Oberschicht der Bourgeoisie, so herrscht in der Demokratie, allerdings unter der Hegemonie der großkapitalistischen Oberschicht, die Gesamtheit der Bourgeoisie.

Aber auch die Lage der Arbeiterklasse ist durch den Sieg der Demokratie wesentlich verändert worden. Hatte schon der liberale Staat den Arbeitern das Koalitionsrecht zugestehen müssen, so sah er doch noch in jedem Streik die „Hydra der Revolution“; unter der Herrschaft der liberalen Oligarchie war daher der Gebrauch des Koalitionsrechtes in den meisten Ländern tausendfach beschrankt und eingeengt. Erst die Demokratie hat das Koalitionsrecht von allen Fesseln befreit. Erst durch sie ist die Arbeiterschaft zum formal gleich berechtigten Partner bei dem Abschluß der Lohnverträge geworden. In unzähligen Kämpfen konnte die Arbeiterschaft nun mit größerem Erfolge als vordem Schritt für Schritt die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhung der Löhne durchsetzen. Zugleich haben mit der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts die Arbeiterparteien den Boden der Parlamente betreten. Sie konnten dort die Gegensätze zwischen den bürgerlichen Parteien ausnützen. Die bürgerlichen Parteien selbst, im Wettbewerb mit den Arbeiterparteien um die Wählerstimmen, mußten der Arbeiterklasse Zugeständnisse machen. So konnten die Arbeiterparteien Schritt für Schritt den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Arbeiterversicherung, die Verbesserung des hygienischen und sanitären Schutzes der Volksmassen, die Verbesserung des Volksschulwesens durchsetzen. In den Kämpfen um die Demokratie und auf dem Boden der Demokratie haben sich die großen Arbeiterorganisationen entwickelt. Sie haben zum erstenmale kulturlos dahin vegetierende Massen aus sozialem Minderwertigkeitsgefühl und traditionellem Aberglauben herausgerissen, sie mit Selbstbewußtsein und mit höheren gesellschaftlichen Ideen erfüllt, die in ihnen schlummernden Begabungen in gesellschaftlicher Betätigung zur Entfaltung gebracht.

Gegen die liberale Oligarchie, die die Arbeiterklasse vom Genuß der politischen Rechte ausgeschlossen hatte, war die Arbeiterklasse in revolutionärem Gegensatz, in revolutionärem Kampfe gestanden. Als die Arbeiterklasse über die Demokratie erkämpft hatte, wollte sie die neuen Rechte, die neuen Möglichkeiten ausnützen, um sich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft höhere Lebenshaltung. mehr freie Zeit, mehr Kultur zu erobern. Die Demokratie war der Nährboden das reformistischen Sozialismus. Hat die Kapitalistenklasse mittels der Demokratie die Kleinbürger und die Bauern zur Stütze der Kapitalsherrschaft gemacht, so hat sie mittels der Demokratie die revolutionäre Gärung in den Arbeitermassen zum Stillstand gebracht, die? Arbeitermassen befriedet, die revolutionären Arbeiterparteien, die ausgezogen waren, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu überwinden und den kapitalistischen Staat zu zerschlagen, in Reformparteien verwandelt, die sich damit beschieden, die Lage der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft, durch Reformen an der kapitalistischen Gesellschaft, zu verbessern.

Unterschätzen wir nicht, was die reformistische Arbeiterbewegung auf dem Boden der Demokratie in ihren gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kämpfen errungen hat! Die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhung der Löhne, der Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung und Arbeiterversicherung, die Entwicklung des Volksschulwesens und der Massenorganisationen der Arbeiter, – all das hat das Niveau der Lebenshaltung, der Volksgesundheit, der Volkskultur gewaltig gehoben. Die Arbeiterklasse unterschätzt die Resultate ihrer eigenen Klassenkämpfe in einer ganzen Geschichtsepoche, wenn sie diese Errungenschaften der reformistischen Arbeiterbewegung auf dem Boden der Demokratie verkleinert. Gerade heute, da der Faschismus der Arbeiterklasse die demokratischen Rechte in manchen Ländern entrissen hat, in ändern Ländern zu entreißen droht, deren Gebrauch diese erstaunliche Hebung der materiellen Lebenshaltung, der physischen Gesundheit und des geistigen Lebens der Volkmassen ermöglicht hat, ziemt uns solche Unterschätzung nicht. Marx hat die „wunderbare physische und moralische Wiedergeburt der Fabrikarbeiter“ [2] gerühmt, die das große Ergebnis der englischen Zehnstundenbill gewesen ist; mit weit mehr Recht dürfen wir die „physische und moralische Wiedergeburt“ der Arbeiterklasse rühmen, die das Ergebnis der Errungenschaften ihrer reformistischen Kämpfe auf dem Boden der Demokratie war.

All das, was die reformistische Arbeiterbewegung mittels der Demokratie dem Kapital abringen konnte, hat freilich den Kapitalismus nicht aufgehoben. Aber es hat den Kapitalismus auf eine höhere Stufe seiner Entwicklung gehoben. Auf die Erhöhung der Löhne antwortete das Kapital mit der Beschleunigung der technischen Entwicklung; je hoher die Löhne sind, desto profitabler ist es, die Menschenhand durch die Maschine zu ersetzen. Auf die Verkürzung der Arbeitszeit antwortete das Kapital mit der Intensivierung der Arbeit; je kürzer der Arbeitstag ist, desto mehr können die Muskeln und die Nerven des Arbeiters in der Arbeitsstunde leisten. Der ständige Druck der durch die Demokratie entfesselten Arbeitermassen auf das Kapital hat, die im Dienste des Kapitals stehenden Gehirne zu immer neuen Anstrengungen gezwungen, durch technische Vervollkommnung des Arbeitsprozesses, durch organisatorische Vorkehrungen zur Intensivierung der Arbeit die Erhöhung der Löhne und die Verkürzung der Arbeitszeit wettzumachen.

Die Mehrwertrate, der Grad der Ausbeutung der Arbeitskraft stieg; aber sie wurde nicht mehr erhöht mittels der barbarischen Methoden der Verlängerung des Arbeitstages oder der Senkung des Lohnes, sondern mittels der höheren Methode, die Produktivität der Arbeit noch schneller zu erhöhen, als unter dem Druck der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien der Reallohn erhöht worden mußte. Die Entwicklung wurde auch in dieser Epoche immer wieder durch zyklische Krisen unterbrochen; aber die Beschleunigung der technischen Entwicklung, durch die Erhöhung der Löhne und die Verkürzung der Arbeitszeit erzwungen, führte immer wieder Zeiten massenhafter Erneuerung und technischer Vervollkommnung des gesellschaftlichen Produktionsapparates herbei und damit immer wieder Zeiten der Prosperität.

Was kennzeichnet den Kapitalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Der Arbeitstag war überaus lang; aber bei so langer Arbeitsdauer konnte die Arbeitsintensität des übermüdeten Arbeiters nur gering sein. Die Löhne waren überaus niedrig: aber niedrige Löhne verengen die Grenze, innerhalb deren die Ersetzung der Handarbeit, durch die Maschine profitabel ist. Ueberlange Arbeitszeit und niedrige Löhne schlössen die Arbeitermassen von allem Kulturleben aus. Der Kapitalismus herrschte über eine physisch verkümmerte, kulturell tiefstehende, in jedem Falle der Arbeitsunfähigkeit und der Arbeitslosigkeit dem Hunger preisgegebene Masse. Diese Masse war zugleich von allen politischen Rechten, von aller legalen Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen, ausgeschlossen. Aber diese Masse setzte sich schließlich zur Wehr. Die revolutionäre Gärung in ihr wurde dem Kapital gefährlich. Das Kapital mußte ihr Zugeständnisse machen. Sie eroberte das Koalitionsrecht, die Grundlage des gewerkschaftlichen Kampfes. Sie eroberte schließlich das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Nun konnte sie das Kapital unter ihren ständigen Druck setzen. Unter diesem Druck veränderte sich das Bild des Kapitalismus. Ein Kapitalismus entwickelte sich, der nicht mehr durch überlangen Arbeitstag bei niedriger, sondern durch kurzen Arbeitstag bei hoher Intensität der Arbeit, nicht mehr durch die niedrigen Löhne der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei vergleichsweise niedriger Technik, sondern durch weit höhere Löhne bei beschleunigter technischer Entwicklung und schnell gesteigerter Produktivität der Arbeit gekennzeichnet ist; ein Kapitalismus, der nicht mehr über physisch und moralisch verkümmerte Arbeitermassen, sondern über physisch weit gesündere, geistig weit höher stehende, daher weit leistungsfähigere Arbeitermassen herrscht; ein Kapitalismus, der nicht mehr die arbeitsunfähig und die arbeitslos gewordenen Arbeiter dem Hunger preisgibt, sondern der sich seine industrielle Reservearmee auf Kosten der Gesamtheit physisch und geistig arbeitsfähig erhalten läßt. Diese Entwicklung des Kapitalismus auf eine technisch, sozial und kulturell ungleich höhere Entwicklungsstufe war das wichtigste Ergebnis der Demokratie. Sie war nicht das Werk der Kapitalisten; sie war das Resultat der Klassenkämpfe, die die Arbeiterklasse um die Demokratie und in der Demokratie geführt hat. Aber das Ergebnis dieser Kämpfe hat den Kapitalismus befestigt. Die zu überlanger Arbeitszeit bei Hungerlöhnen gepreßte, in jedem Fall der Erkrankung, des Betriebsunfalles, der Invalidität, der Arbeitslosigkeit dem Hunger preisgegebene, von allen politischen Rechten ausgeschlossene Arbeiterschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war voll revolutionärer Leidenschaften und Energien. Sie entluden sich in wilden revolutionären Verzweiflungsausbrüchen: in den Ludditenstürmen, in den Weberaufständen, in wilden, gewaltigen Streiks. Sie waren die vorwärtstreibende Kraft aller bürgerlichen Revolutionen. Die wirtschaftlich, sozial, kulturell weit höher gehobene Arbeiterschaft der Ära der Demokratie wurde zur Trägerin der reformistischen Arbeiterbewegung.

Die bürgerliche Demokratie ist so zwieschlächtigen Charakters wie der Kapitalismus selbst, aus dessen Entwicklung sie hervorgegangen ist.

Der Kapitalismus hat die Naturkräfte dem Menschen untertan gemacht, er hat die Produktivkräfte der Arbeit vervielfacht, er hat die Menschheit unendlich reicher gemacht, als sie jemals gewesen war. Mit seiner technischen Entwicklung Hand in Hand ging die Entwicklung der Naturwissenschaften, der Medizin, der Hygiene. Er hat damit Leistungen vollbracht, die das kostbare Erbe jeder künftigen Gesellschaftsordnung sein werden. Aber diese ganze Entwicklung vollzog sich unter der Herrschaft des Kapitals; sie vollzog sich auf der Grundlage der Ausbeutung der Arbeiter, der Schuldknechtschaft der Bauern, der Verelendung der Kleinbürger; sie vollzog sich in einer Gesellschaft, deren Bewegung von den Bewegungen der Profitrate beherrscht wird, in der daher die Lebenshaltung der Volksmassen immer wieder weit zurückbleiben mußte hinter der Entfaltung der Produktivkräfte ihrer Arbeit und dieser Widerspruch immer wieder seine Lösung finden mußte in verelendenden Krisen, in zerstörenden Katastrophen, in Kriegen, die alle Wunderwerke der kapitalistischen Technik in furchtbare Waffen des Massenmordes verwandelten.

Ebenso zwieschlächtigen Charakters ist die bürgerliche Demokratie. sie hat all das, was einst die liberale Bourgeoisie dem Absolutismus abgerungen hatte, dem ganzen Volke zugeeignet. Sie hat die Freiheit des Einzelnen gegen die Willkür der Mächtigen gesichert. Sie hat allen Meinungen, allen Geistesströmungen, allen Ideen die Freiheit des Wettbewerbs um die Seele des ganzen Volkes gegeben und damit die Urteilskraft des Volkes entwickelt und erhöht. Sie hat das ganze Volk zur Entscheidung über die Angelegenheiten des Staates gerufen und damit die vordem in der Enge persönlichen Lebens dahinvegetierenden Menschen in den Kampf der Ideen um der Menschheit große Gegenstände hineingezogen. Sie hat den Kampf aller Klassen der Gesellschaft um ihre Lebensinteressen legalisiert, ihn in gesetzliche Formen gebracht und durch die Entfesselung dieses Kampfes die Lebenshaltung der Volksmassen bedeutend gehoben. Sie hat mit alledem ein gewaltiges Werk der Befreiung vollbracht. Auch ihre Leistung wird das kostbare Erbe jeder künftigen Gesellschaftsordnung sein. Denn die Sicherung der Freiheit und Würde jedes Einzelnen gegen die Willkür der Mächtigen, den freien Wettbewerb aller Ideen um das Urteil aller, die gleiche Teilnahme aller an allen Entscheidungen über das Schicksal und die Gestaltung der Gesamtheit, – all das wird keine Gesellschaft von Kulturmenschen je wieder dauernd entbehren können und wollen, so wenig entbehren wie die vom Kapitalismus entwickelte Technik, wie die Hand in Hand mit ihr entwickelte Naturwissenschaft, Medizin, Hygiene.

Aber diese ganze fruchtbare Entwicklung der Demokratie hat sich vollzogen auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und darum unter der Herrschaft des Kapitals. Der Arbeiter, freier und gleichberechtigter Bürger im Staat, blieb Untertan des Kapitalisten in der Fabrik. Die politische Gleichberechtigung aller hob die Unterschiede des Einkommens, der Lebenshaltung, der Klassenstellung, der wirtschaftlichen Macht, nicht auf. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz blieb jene Gleichheit, die, wie Anatole France sagt, Reichen und Armen in gleicher Weise verbietet, Brot zu stehlen. Reichen und Armen in gleicher Weise erlaubt, unter den Brücken zu schlafen. Die vom ganzen Volk eingesetzten Parlamente und Regierungen blieben Instrumente der Klassenherrschaft der Kapitalistenklasse. So blieb der bürgerlichen Demokratie der „umfassende Widerspruch“ immanent, den Marx bei ihrem ersten Auftreten in der Geschichte Europas festgestellt hat: der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Verfassung, zwischen der politischen Gleichberechtigung aller und der ökonomischen Herrschaft, der Kapitalistenklasse, der Widerspruch, der darin besteht, daß die bürgerliche Demokratie „die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht setzt und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, die politischen Garantien dieser Macht entzieht“. Aber wie der dem Kapitalismus immanente Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit und der Entwicklung der Konsumkraft der Arbeitenden vorübergehend in Zeiten der Prosperität verdeckt werden kann, um dann in erschütternden Krisen zu eruptivem Ausbruch zu führen, so konnte auch der der bürgerlichen Demokratie innewohnende Widerspruch zwischen der Gesellschaftsordnung Und der Staatsverfassung in einer Zeit der Blüte, des Aufstiegs der kapitalistischen Wirtschaft vorübergehend verdeckt werden, um schließlich zu offenem Ausbruch zu kommen in der Krise der Demokratie, in der Kulturkatastrophe der Siege der faschistischen Barbarei und in der aus ihr wiedererstandenen Gefahr des Krieges.

Die bürgerliche Demokratie war der höchste Triumph des Kapitalismus. Die bedeutende Hebung der Lebenshaltung der Volksmassen auf dem Boden der Demokratie und die unmittelbare Berufung aller Volksklassen zur Mitentscheidung in der Demokratie haben die Volksmassen mit der Überzeugung erfüllt, daß sie auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ihre Interessen wahren, ihre Lebenshaltung verbessern können. Die bürgerliche Demokratie hat alle gegen den Kapitalismus gerichteten revolutionären Energien eingeschläfert. Sie hat die Massenparteien der Kleinbürger und der Bauern in gefügige Werkzeuge der Kapitalistenherrschaft verwandelt, und die praktische Wirksamkeit der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften auf Funktionen reduziert, die den Kapitalismus nicht erschüttert, sondern auf ein höheres technisches, soziales und kulturelles Niveau gehoben und dadurch gefestigt haben. Die Kapitalistenklasse brauchte keine politischen Privilegien mehr, um zu herrschen. Sie brauchte kein Zensuswahlrecht mehr und sie mußte die Arbeiter, die Bauern, die Kleinbürger nicht mehr vom Genuß der „Menschen- und Bürgerrechte“ ausschließen. Ihre Herrschaft zu behaupten, ihre Interessen durchzusetzen, genügten in einer Zeit, in der die ungeheure Mehrheit des ganzen Volkes von der Unerschütterlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und von der Möglichkeit, ihre Interessen innerhalb dieser Gesellschaftsordnung wirksam zu vertreten, überzeugt war, die aus der wirtschaftlichen Macht des Kapitals erstandenen Ideensysteme, durch die das Kapital die öffentliche Meinung und damit Wähler und Gewählte des allgemeinen Stimmrechtes seinen Interessen dienstbar machte. So konnte die Kapitalistenklasse alle vier oder sechs Jahre einmal ihrer Klassenherrschaft die Weihe der Bestätigung durch allgemeine Volksabstimmung geben lassen. So konnte sie herrschen durch den Willen der von ihr ausgebeuteten Volksmassen selbst.

Der Krieg war der höchste Triumph der bürgerlichen Demokratie. Als zu Kriegsbeginn das ganze Volk begeistert an die Fronten zog, für die Macht kapitalistischer Regierungen, für die Interessen kapitalistischer Klassen zu kämpfen, wurde offenbar, wie völlig die Demokratie die Volksmassen dem Kapitalismus geistig Untertan gemacht, geistig einverleibt hat. Die drei großen bürgerlichen Demokratien, – Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten, – siegten im Kriege; die Monarchien der Hohenzollern, der Habsburger und der Romanows, in der Entwicklung der Demokratie weit zurückgeblieben, wurden besiegt. So zeigte der Ausgang des Krieges die Überlegenheit der Demokratie. Er erhöhte ihr Prestige. Sie eroberte ganz Mitteleuropa. Und doch hat der Krieg die bürgerliche Demokratie schwer erschüttert. Die ungeheuerlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erschütterungen, die dem Kriege unmittelbar folgten, um dann, nach kurzer Unterbrechung durch die Rationaliserungsprosperität,. in der Weltkrise von 1929 desto gewaltiger, desto verheerender von neuem sichtbar und wirksam zu werden, haben die bürgerliche Demokratie ins Wanken gebracht. Kleinbürger und Bauern, verelendet und verzweifelt, rebellierten gegen die bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien, durch die die Kapitalistenklasse ihre Herrschaft bisher ausgeübt hatte. In den in das Elend lang dauernder Arbeitslosigkeit gestürzten Arbeitermassen breitete sich revolutionäre Gärung aus. Der Kapitalismus hatte die Volksmassen in himmelschreiendes Elend gestürzt. Die Demokratie hatte sie davor nicht schützen können. Breite Volksmassen verloren den Glauben an die Demokratie. Die Kapitalistenklasse, durch das jähe Sinken der Preise und der Profite an ihrem Lebensnerv getroffen, war nicht mehr bereit zu jenen Kompromissen und Konzessionen, mit denen sie in der Demokratie ihre Herrschaft bezahlen muß. Sie war entschlossen, ihre Profite auf Kosten der Volksmassen wieder herzustellen; wo sie das mit den Mitteln der Demokratie nicht mehr konnte, machte sie Front gegen die Demokratie. Sie benutzte die Gärung in den verelendeten Arbeitermassen, um den Bürger und den Bauern mit dem Gespenst der sozialen Revolution zu schrecken. Sie benützte die gegen sie selbst, gegen die ihr dienstbaren Parteien gerichtete Rebellion der Kleinbürger und der Bauern, um die Demokratie zu stürzen. Was bedeutet also der Sieg des Faschismus in einigen, das Anwachsen faschistischer und halbfaschistischer Gefahren in anderen Ländern? Es bedeutet, daß die Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nicht mehr mittels der aus ihrer Gesellschaftsordnung hervorgegangenen Ideensysteme aufrecht erhalten, ihre Interessen nicht mehr mittels ihrer geistigen Macht über das Volk durchsetzen kann, sondern ihre Macht nur noch behaupten, ihre Interessen nur noch durchsetzen kann mittels einer schrankenlosen Gewalt, die, einmal eingesetzt, sich vom Volkswillen unabhängig macht und der Bestätigung durch den Volkswillen nicht mehr bedarf: es bedeutet, daß die Kapitalistenklasse nicht mehr herrschen kann durch wirtschaftliche Zugeständnisse an die Volksmassen und durch ihren geistigen Einfluß auf das Volksganze, sondern nur noch dadurch, daß sie jeden Einzelnen aller Freiheitsrechte, das Volksganze jedes Selbstbestimmungsrechtes, alle großen Volksklassen jeder Möglichkeit der Verteidigung ihrer Interessen beraubt; es bedeutet, daß sie, nicht mehr imstande, durch den Willen des Volkes zu herrschen, ihre Herrschaft durch die Aufrichtung einer schrankenlosen Gewalt über das Volk behauptet. Es ist der höchste Triumph einer Klasse, wenn ihre Ideen dermaßen zu den herrschenden Ideen der Zeit geworden sind, daß sie keiner politischen Privilegien bedarf, nicht die Entrechtung und Vergewaltigung der anderen Klassen braucht, um herrschen zu können, sondern zu herrschen vermag durch die Macht ihrer Ideen über alle Klassen des Volkes. In dieser Lage war die Kapitalistenklasse in der Blütezeit der bürgerlichen Demokratie. Die Siege des Faschismus beweisen, daß sie in vielen Ländern in dieser Lage nicht mehr ist. Nicht weniger deutlich als die stillgelegten Fabriken, als die zusammengebrochenen Banken, als die Heere der Arbeitslosen, als das Massenelend der Arbeiter, der Bauern, der Kleinbürger, der Intellektuellen zeigt dir Krise der bürgerlichen Demokratie, wie tief die Weltwirtschaftskrise den Kapitalismus erschüttert hat.


Fußnoten

1. Marx und Engels, Deutsche Ideologie, S.266.

2. Marx, Das Kapital, I, S.243.

 


Leztztes Update: 3.8.2008