August Bebel

Aus meinem Leben

Dritter Teil


Die erste Session des Reichstags im Jahre 1881

Diese wurde Mitte Februar eröffnet. Seit Einführung der neuen Zollpolitik bildeten deren Resultate den Gegenstand lebhafter Erörterungen, wobei es an Reden für und wider nicht fehlte. Die Etatsverhandlungen boten hierzu in erster Linie das geeignete Feld. So auch jetzt. Ich hatte im Namen der Fraktion die Etatsrede zu halten. Die seit 1874 eingetretene wirtschaftliche Krise herrschte noch immer, und es zeigten sich nur schwache Anfänge zur Besserung. Die Arbeiter litten wie immer darunter besonders schwer, da die Unternehmer das Rezept des Finanzministers v. Camphausen, das dieser 1875 aufgestellt, rücksichtslos anwandten, wonach eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse nur dadurch möglich sei, daß man sparsamer wirtschafte, an die Leistungsfähigkeit der Arbeiter höhere Anforderungen stelle und die Löhne reduziere. Ein Vorschlag, der dem Abgeordneten Eugen Richter am 22. November 1875 die Äußerung entlockte: Allen Respekt vor einem Minister, der so unpopuläre Anschauungen auszusprechen wagte.

An diese Vorgänge erinnerte ich in meiner Rede, wobei ich das herrschende Wirtschaftssystem gründlich kritisierte; dieses System bedürfe einer Änderung von Grund aus, sollen die arbeitenden Massen sich wohl fühlen. Diese Änderung könne aber von den gegenwärtigen Machthabern nicht vorgenommen werden, heiße der Reichskanzler Bismarck, Richter oder Rickert.

Ende März kam zum erstenmal der Rechenschaftsbericht des Hamburger Senats und der preußischen Regierung wegen Verhängung des kleinen Belagerungszustandes über Hamburg-Altona und Umgegend zur Verhandlung, die zwei Tage in Anspruch nahm. Der Bericht bewegte sich in den üblichen nichtssagenden Redensarten, durch die sich diese Berichte ohne Ausnahme auszeichneten. Auer und ich waren von der Fraktion als Redner bestimmt. Wir sprachen beide in der fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Sitzung, wie ich glaube sagen zu können, sehr gut. Nach Auer nahm Herr v. Puttkamer das Wort. Er erschien zum erstenmal im Reichstag als Vertreter der preußischen Regierung für die getroffenen Anordnungen. Er zeigte sofort, wes Geistes Kind er war, und daß Bismarck in ihm einen Gehilfen gefunden hatte, der ebenso rücksichtslos, aber gewandter als er, jede Gewalttat, aber auch jede, zu beschönigen und zu rechtfertigen versuchte. Er war eben ein Junker vom Scheitel bis zur Zehe, wie sie nur ostwärts der Elbe wachsen, der, wie die Zukunft lehrte, an der Stelle des Herzens einen Stein hatte, dem die gewalttätigsten Mittel die genehmsten waren. Aber als er im achten Jahre seines Regiments durch einen Machtanspruch des sterbenden Kaiser Friedrich gezwungen wurde, abzutreten, mußte er sich das Geständnis ablegen, daß sein Kampf gegen uns pro nihilo (für nichts) gewesen war. Wohl hatte er viele Hunderte Existenzen vernichtet, noch mehr Parteigenossen in die Gefängnisse gebracht und zahlreiche Ehe- und Familienbande zerstört, er, der Retter und Beschützer von Ehe, Familie und Eigentum, aber die Partei stand stolz und ungebrochen da, stärker als je. In den drei allgemeinen Reichstagswahlen, die von 1881 bis 1887 unter Puttkamer stattfanden, wuchs ihre Stimmenzahl von rund 312000 auf rund 763000, und sie schickte sich an, die stärkste aller Parteien zu werden.

In der Antwort, die Puttkamer Auer gab, äußerte er: Die königlich preußische Regierung habe aus hiesigen, der königlich sächsischen Regierung natürlich nicht bekannten Vorgängen die Überzeugung gewonnen, daß von von Tag zu Tag für Leipzig die Gefahr mehr wachse, und sie würde es sich nicht versagen können, wenn die Sachsen so weitergehen, es der Weisheit der sächsischen Regierung anheimzugeben, ob sie nicht für Leipzig eine ähnliche Maßregel beantragen wolle, wie sie für Berlin und Hamburg-Altona bestehe.

Mit mehr Unverfrorenheit konnte kein Minister einer Regierung der anderen mit dem Zaunpfahl winken, was man von ihr erwarte. Und in Dresden verstand man den Wink, aber auch wir verstanden ihn. Ich antwortete dem Minister, daß, wenn er glaube, mit unserer Bewegung fertig zu werden, er sich täusche. Seine Waffen würden an ihr zerbrechen wie Glas am Granit.

In derselben Session brachten die verbündeten Regierungen den Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes ein, der eine Reichsversicherungsanstalt zu gründen bezweckte, die ganze Versicherung also in die Hände des Reiches legte. In diesem wichtigen, grundlegenden Punkte entsprach die Vorlage der Forderung, die ich im Februar 1879 gelegentlich der Debatte über die Haftpflichtinterpellation des Freiherrn v. Hertling aufgestellt hatte. In der Art der Ausführung wich sie aber sehr weit von unserem Standpunkt ab. Doch dieser Entwurf genügt schon, um die größte Beunruhigung in die Kreise der bürgerlichen Parteien zu tragen, die in ihm den ersten Schritt zum Sozialismus sahen. Dieser Befürchtung hatte schon Herr v. Kardorff in seiner Etatsrede am 25. Februar Ausdruck gegeben, der in seiner beliebten übertreibenden Weise die Behauptung aufstellte, der Reichskanzler habe durch die Vorlage sogar den Sozialismus übertroffen. Ich hatte ihm darauf folgendes geantwortet: „Ich weiß nicht, was Herr v. Kardorff für Begriffe von den Ansichten der Sozialdemokratie und ihren Bestrebungen hat. Ich kann nur sagen, daß, wenn wir auch im allgemeinen das Prinzip billigen, auf dem der Unfallversicherungsgesetzentwurf beruht, wir die ganzen Ausführungsbestimmungen sehr, sehr wenig genügend finden, und wenn wir uns auch einmal der Hoffnung hingeben wollten – obgleich wir diese Hoffnung nicht haben –, daß der Entwurf hier im Reichstag in einer Weise amendiert würde, die vollständig unseren Wünschen, also den Wünschen der Arbeiterklasse entspräche, so muß ich doch sagen, daß auch damit noch sehr wenig geschaffen ist. Es wäre ein anerkennenswerter Schritt damit geschehen, aber es wäre mindestens ebenso wichtig, daß nicht allein dafür gesorgt wird – und dies ist Ihre Aufgabe, denn wir sind nur die Geduldeten in diesem Hause, man sähe uns am liebsten draußen –, daß nicht nur diejenigen Unterkunft und Brot haben, die in der Industrie durch irgendeinen Unfall geschädigt werden, sondern daß unsere Arbeiter überhaupt ausreichend Brot und Verdienst haben und beschäftigt werden können.“ Der Abgeordnete Dr. Bamberger schrieb mir sogar die Autorschaft des Gesetzentwurfes zu, indem er in der ersten Lesung ausführte:

„Materiell ebenso wie formell steht der heutige Gesetzentwurf auf dem Boden des Sozialismus; er bekennt sich in seinen Motiven ausdrücklich dazu ... Wie sehr die gegenwärtige Theorie der Gesetzgebung bereits dem Inhalt des Sozialismus nahegerückt ist, wird Ihnen nach mir wahrscheinlich ein anderer Redner sehr deutlich illustrieren, nämlich der Herr Abgeordnete Bebel. Herr Bebel hat im Jahre 1879 bei Gelegenheit gerade des Vorschlags, die Unfallversicherungsgesetzgebung zu verbessern, eine Rede gehalten, und er hat in derselben genau die Grundzüge desjenigen Gesetzes entworfen, das Ihnen heute vorliegt. Ich will Herrn Bebel nicht des Vergnügens berauben, die Stelle wörtlich vorzulesen, in der die ganze Ökonomie des Gesetzes auch seiner Ausführung nach enthalten ist; aber das kann ich sagen, nachdem ich die Rede heute morgen nachgelesen habe, ist mir der Gedanke gekommen, ich weiß nicht, warum Herr Bebel nicht vortragender Rat der volkswirtschaftlichen Abteilung in der Reichsregierung ist.“

In seiner Rede vom 2. April bestritt Fürst Bismarck entschieden diesen Charakter des Gesetzentwurfes, wobei er uns heftig angriff; er verteidigte ihn aber so wenig geschickt, daß ich darauf in meiner Rede am 4. April ausführte:

Der Reichskanzler habe uns am Sonnabend mit einer gewissen Geringschätzung behandelt, er werde heute die Erfahrung machen, daß er bei uns für seinen Entwurf bis zu einem gewissen Grade Unterstützung finde, die ihm um so angenehmer sein werde, als die Verteidigung, die er selbst seinem Entwurf habe zuteil werden lassen, keineswegs überzeugend sei (Heiterkeit.) Er bedürfe also einer Unterstützung von anderer Seite, und wir wollten ihm diese, soweit möglich, angedeihen lassen. Wir wollten ihm nach besten Kräften helfen, die positiven Bestrebungen, die zur Bekämpfung der Sozialdemokratie durch diesen Entwurf erreicht werden sollten, zu fördern, damit er zu einem gedeihlichen Ziel kommt ... (Heiterkeit.)

In den Motiven hieß es, daß der Gesetzentwurf seine Existenz dem Umstand verdanke, daß man bei Beratung des Sozialistengestzes versprochen habe, auch durch positive Maßregeln zum Wohle der Arbeiter die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Daraus ersahen wir mit Freuden, daß eigentlich wir die Ursache des Gesetzentwurfes seien. („Sehr richtig!“ links. Heiterkeit.) ... Wir würden uns demgemäß bemühen, dem Gesetzentwurf eine Gestalt zu geben, daß er wirklich zur Bekämpfung der Sozialdemokratie beitrage. (Heiterkeit.)

Alsdann trat ich in eine längere, einschneidende Kritik des Gesetzentwurfes ein.

Gegenüber den erhobenen Bedenken, daß die Lasten, die die Einführung des Gesetzentwurfes den Unternehmern auferlege, sie dem Ausland gegenüber konkurrenzunfähig machten, empfahl ich dem Reichskanzler, zum Wohle der „Enterbten“, wie er sich so treffend ausgedrückt habe, eine internationale Konferenz der in Betracht kommenden Staaten zu veranlassen und diese zu einer gleichen Gesetzgebung zu bewegen. Er könne versichert sein, daß, falls die Regierungen der betreffenden Staaten sich weigerten, seinem Vorschlag zu folgen, die Arbeiter der betreffenden Länder ihn, den Reichskanzler, unterstützen und ihre Regierungen zu gleichem Vorgehen zwingen würden. Er, der Reichskanzler, habe drei große Kriege geführt, es seien darin viele Menschen hingeopfert, Ströme Blutes seien vergossen worden und großes Elend sei daraus hervorgegangen. Dadurch sei sein Ruhm gewachsen, er würde sich einen größeren Ruhm erwerben, wenn er friedliche Einrichtungen zum Wohle der Unterdrückten in allen Kulturländern herbeiführe.

Meine Rede gefiel Marx und Engels ausnehmend gut. Engels erklärte sie für die beste, die ich bisher überhaupt gehalten, er solle mir dieses auch im Namen von Marx schreiben.

Der Entwurf ging in eine Kommission, in der er derart umgestaltet wurde, daß die Regierungen ihn für unannehmbar erklärten.

Kurz nach Schluß der Session traf die Partei ein unangenehmer Verlust. Vahlteich und Fritzsche erklärten, nach den Vereinigten Staaten auswandern zu wollen, und sie führten diesen Plan auch trotz unseres Widerspruchs durch.

Fritzsche war mit Viereck einige Monate zuvor von uns nach den Vereinigten Staaten gesandt worden, um auf einer Vortragstour Geld für die im Herbst stattfindenden Wahlen zu sammeln. Die Reise hatte auch Erfolg, indem fünfzehntausend Mark Reinertrag verblieben. Bei dieser Gelegenheit hatte Fritzsche, der sich aus verschiedenen Gründen in der alten Heimat nicht mehr wohl fühlte, den Plan zur Auswanderung gefaßt. Da begriffen wir alle, aber daß Vahlteich den gleichen Entschluß faßte, wollte uns nicht einleuchten. Wir bedurften seiner sehr. Bei einer Auseindersetzung, die wir darüber hatten, erklärte er: er habe jetzt dreimal die Existenz eingebüßt, er wolle endlich Ruhe haben und sein Leben genießen. Der Existenzverlust war richtig. Er war zuletzt Geschäftsführer der Leipziger Druckerei gewesen, die existenzunfähig geworden war. Aber es hatten sich auch wieder Freunde gefunden, die bereit waren, ihm die Mittel zu einer neuen Existenz zu gewähren. Doch er lehnte ab.

Sobald die Sache öffentlich bekannt wurde, machte sie unangenehmes Aufsehen. Es war ein Verhängnis, daß die beiden ersten Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zugleich Deutschland verließen. Wir bekamen eine Menge Zuschriften aus der Partei, die Aufklärung über den Vorfall verlangten. Verbösert wurde die Lage dadurch, daß die gegnerische Presse den Fall weidlich ausnutzte und behauptete, Liebknecht und ich wollten gleichfalls auswandern, was uns zu der öffentlichen Erklärung veranlaßte: möge kommen was wolle, wir würden nicht vom Platze weichen. Vahlteich hat nachher in den Vereinigten Staaten seine Parteitätigkeit weiter fortgesetzt. Die Ruhe, auf die er hoffte, bekam er also nicht.



Zuletzt aktualisiert am 1.7.2008