Julian Borchardt

Welche Bedeutung hat die Wissenschaft
für die Bestrebungen des Sozialismus?

Eine praktische Frage

(Schluss)

(Dezember 1898)


Quelle: Sozialistische Monatshefte, Jg. 1898, Nr.12, Dezember 1898, S.568-571.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Eine solche Ansicht scheint mir mit den Grundbegriffen des Sozialismus in Widerspruch zu stehen. Sie scheint anzunehmen, dass man wirthschaftliche und soziale Umwälzungen gewissermassen durch Ueberredung herbeiführen könne. Es sei nur nöthig, den Menschen unsere guten, nagelneuen Ideeen mitzutheilen, damit sie sie in die Praxis umsetzen.

Ich glaube nicht, dass es heute noch nöthig ist, in einem sozialistischen Blatt eine solche Ansicht zu widerlegen. Nicht nur, dass sie theoretisch genau auf die Meinung der Anarchisten hinauskommt und als solche von der Partei sehr berechtigterweise beharrlich zurückgewiesen wird – auch die Anarchisten wollen ja im wesentlichen durch Ueberredung die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herbeiführen – auch das thatsächliche Verhalten der meisten Parteigenossen zeigt, dass dieser Standpunkt innerlich überwunden ist. Beweis dafür ist die Versammlungsnoth, über die heute so viel geklagt wird. Die Versammlungen, heisst es, werden nicht mehr besucht, weil sie nicht interessant genug sind. Und doch wird in ihnen fortwährend Agitation getrieben, es werden darin fortwährend die Ideen des Sozialismus verkündet. Alle Diejenigen aber, die diese Ideen begriffen und in sich aufgenommen haben, langweilen sich nunmehr in den Versammlungen und gehen nicht mehr hin, um nicht immerfort dasselbe zu hören. Sie verlangen mehr, sie wollen einen Schritt weiter machen.

Der Schritt weiter aber, der nun geschehen muss, ist uns noch durchaus unbekannt und muss von der Wissenschaft gesucht werden. Und so haben die sozialistischen Parteien dreierlei zu thun:

drei ganz verschiedene Aufgaben, eine so nothwendig wie die andere, von denen aber nur die zwei ersten bisher von den sozialistischen Parteien beachtet werden.

Obgleich ich fürchten muss, den Leser zu ermüden, so muss ich doch noch auf zwei Einwände eingehen, die sich gegen meine Ansichten machen lassen.

Der erste Einwand ist dieser.

Die Entwickelung der sozialen Verhältnisse wartet nicht auf unser Studium. Die soziale Revolution richtet sich nicht danach, ob wir schon wissen, wie wir die Lohnarbeit abschaffen können; sie kommt vielleicht früher, sie kann heut oder, morgen hereinbrechen. Und dann müssen wir gleich wissen, was zu thun ist, und können nicht warten, bis die Wissenschaft es herausgetüftelt hat. In solchem Moment thut schnelles Handeln noth.

Ganz recht. Aber schnelles Handeln bedeutet keineswegs unüberlegtes Handeln. Und Alles, was die Wissenschaft bis zu einem solchen Moment herausgefunden hat, es sei noch so wenig, ist dann positiver Gewinn und erhöht um ebenso viel die Aussicht, dass das schnelle Handeln erfolgreich sein wird.

Freilich, wirklich helfen kann in solchem Augenblick nur ein überlegener Verstand, ein Verstand, dar, zwar nicht ohne Besinnen, aber doch ohne langes Studium das Richtige weiss und thut, und der auch die Massen mit sich fortzureissen versteht, mit anderen Worten: ein Genie. Aber sollen wir Anderen deshalb die Hände in den Schoss legen? Und wenn nun kein Genie ersteht und wir doch wieder ganz auf die Kraft von Durchschnittsmenschen angewiesen sind?

Ueberdies kann uns auch das Genie nicht auf die Dauer helfen, sondern nur in einem bestimmten Augenblick zu einer bestimmten Handlung veranlassen. Die Beseitigung der Lohnarbeit, die Umwälzung unserer gesammten Wirthschaftsweise ist aber nicht eine einzelne Handlung, die in einem bestimmten Moment vorgenommen wird; es ist eine Entwickelung, die ungemein viel Zeit und die Mitarbeit vieler, wo nicht aller Menschen erfordert. Und wenn nun auch ein Genie vielleicht so fernhin wirkende Maassregeln ohne Studium erkennt, so kann es sie doch nicht allein in die That umsetzen, die arideren Menschen müssen mithelfen. Das werden sie aber nur thun, wenn sie begreifen, dass Jener Recht hat. Und was er, als Genie, ohne Studium erkannt hat, das müssen wir Anderen in langer, wissenschaftlicher Arbeit zu erkennen streben. Nur wenn wir’s selbst erkannt haben, werden wir danach handeln. Und so bleibt uns doch wieder nur die Wissenschaft.

Der andere Einwand, der insbesondere hier in Belgien mit seinem so eifrig betriebenen Genossenschaftswesen erhoben werden dürfte, stützt sich auf die Kooperativen, in erster Reihe auf die Produktivgenossenschaften.

Die Produktivgenossenschaft, so meint man, sei schon eine theilweise Verwirklichung unserer Ideeen, Die zukünftige sozialistische Gesellschaft sei im Grunde weiter nichts als eine einzige riesige Genossenschaft zur Produktion und Konsumtion. Und so habe man, um sie herbeizuführen, weiter nichts nöthig, als „praktisch“ an der Gründung und Ausbreitung der Genossenschaften zu arbeiten. Das würde dann allmählich zum sozialistischen Gemeinwesen führen. Ein anderes Mittel zur Abschaffung der Lohnarbeit zu suchen, sei somit unnöthig. Darauf ist mehrerlei zu erwidern.

Zunächst ist die Annahme, als könnten wir von der Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft irgend etwas wissen, schon so oft als Utopie nachgewiesen worden, dass man sich nur darüber Wundern muss, wie es noch Leute geben kann, die daran glauben. Von der Gestalt der zukünftigen Gesellschaft wissen wir rein garnichts – also können wir auch nicht wissen, ob die heutigen Genossenschaften ein „Modell“ der zukünftigen Gesellschaft sind.

Weiter: Einen einzigen Zug der zukünftigen Gesellschaft – wissen wir zwar nicht – aber erhoffen wir, nämlich dass es in ihr keine Lohnarbeit geben soll. Und nun vergleiche man damit die Kooperativen. Ist denn in ihnen die Lohnarbeit abgeschafft? Keineswegs, sie ist nur in eine andere Form gebfacht. Die Kooperativen sind einfach kapitalistische Betriebe. Ihr Unterschied gegen andere Unternehmungen besteht nur darin, dass in ihnen der Mehrwerth nicht einem Kapitalisten gehört, sondern anders verwandt wird, z.B. Der sozialistischen Partei zufliesst oder unter die Arbeiter der Kooperative vertheilt wird. Das mag für die Agitation jener Partei oder für die Besserstellung der betreffenden Arbeiter sehr gut sein; mit der Abschaffung der Lohnarbeit hat es nichts zu thun.

Es kann das auch garnicht anders sein. In unserer heutigen Gesellschaft, wo alle Vorbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise gegeben sind, kann man ein grosses Unternehmen nicht anders als kapitalistisch betreiben, und wenn man noch so guten Willen hat. Erst müssen die Vorbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aus der Welt geschafft sein. Dazu gehört z.B. auch der Waarenaustausch. Wollen die Kooperativen auf den Waarenaustausch verzichten? Wollen sie, anstatt für den Verkauf, nur für den Gebrauch produziren? Sie denken nicht daran, sie können garnicht daran denken, denn sie würden einfach Bankerott machen. Und der Waarenaustausch ist nur eine Bedingung der Lohnarbeit neben vielen anderen.

Den Anhängern des Genossenschaftswesens kommt es eben offenbar in erster Linie garnicht darauf an, die Lohnarbeit abzuschaffen, die Produktion von Mehrwerth zu beseitigen, sondern darauf, den produzirten Mehrwerth zu gemeinnützigen Zwecken zu verwenden und ihn nicht einzelnen Nichtarbeitern in den Schoss fallen zu lassen. Ich habe im Anfang meiner Arbeit ausgedrückt, dass ich diese Ansicht für im Prinzip verfehlt halte. Aber angenommen selbst, sie sei richtig, angenommen selbst, die Genossenschaften seien wirklich das Modell der sozialistischen Gesellschaft, so müsste nun doch wieder die Wissenschaft uns angeben, wie wir dieses Modell auf die ganze Gesellschaft übertragen können. Man wird mir nicht sagen wollen, es sei einfach in einem Arbeitszweig nach dem anderen einzuführen. Was für einen Betrieb, für eine beschränkte Anzahl Menschen anwendbar ist, ist darum noch nicht ohne Weiteres, durch blosses Weitererzählen, auf die ganze Gesellschaft anwendbar. Kann man schon hier und da in gewissen Betrieben die Aneignung des Mehrwerths durch einzelne Kapitalisten verhindern und ihn zu gemeinnützigen Zwecken verwenden, so kann man noch nicht ohne Weiteres der ganzen Kapitalistenklasse den produzirten Mehrwerth entreissen. Um das zu ermöglichen, müssen die wirtschaftlichen Zusammenhänge herausgesucht werden, muss also doch wieder die Wissenschaft helfen.

Und so komme ich denn zu folgendem Schluss:

Der Sozialismus will die Lohnarbeit abschaffen. Wir wissen aber bisher nicht, durch welche Mittel das geschehen kann. Wir tappen im Dunkeln umher und müssen diese Mittel erst suchen.

Aufklärung kann uns nur die Kunde von der menschlichen Gesellschaft verschaffen. Deshalb muss Jeder, dem es mit seinem Sozialismus Ernst ist, sein Möglichstes dazu thun, dass die Kunde von der menschlichen Gesellschaft wissenschaftlich betrieben werde.

Erstens müssen die wirthschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart untersucht werden, um zu erkennen, was geändert werden soll: das ist die Aufgabe der Nationalökonomie.

Zweitens müssen die gesellschaftlichen Wandlungen der Vergangenheit untersucht werden, um zu erkennen, wie geändert werden soll: das ist die Aufgabe der Geschichte.

Es folgt daraus, dass diese zwei Wissenschaften durchaus und unablässig vom Sozialismus gepflegt werden müssen. Verliert er sie aus dem Auge, so wird er nie im Stande sein, sein Ziel, die Abschaffung der Lohnarbeit und dadurch die Beseitigung des Elends und der Unfreiheit, zu erreichen; er ist dann nicht mehr revolutionär und folglich überhaupt keia Sozialismus mehr.

Ich glaube, in vorstehenden Ausführungen nur etwas auszusprechen, das die deutsche Arbeiterklasse seit Jahren fühlt und denkt. All das Drängen und Sehnen nach Wissen, das zu so manchem verfehlten Versuch, aber auch zu manchem verheissungsvollen Ansatz, wie z.B. die Berliner Arbeiter-Bildungsschule, geführt hat, ist mir Beweis dafür. Und der Zweck meiner Arbeit ist, die Frage zur Diskussion zu stellen, nicht ob, sondern wie die Partei sich offiziell und mit der ganzen ihr zu Gebote stehenden Macht an der Pflege der Sozialwissenschaften betheiligen soll.

Welche Maassregeln von Parteiwegen ergriffen werden könnten, das zu erkennen wird nur möglich sein, wenn alle Parteigenossen, die sich dafür interessiren, ihre Vorschläge machen und diese dann eingehend erörtert werden. Doch scheint es mir wichtig, noch festzustellen, dass zwei Punkte dabei im Auge zu behalten sind.

Zweierlei ist zu fhun: Zuerst müssen die Mittel zur Abschaffung der Lohnarbeit gefunden werden, alsdann müssen sie in praxi angewandt werden. Für die erste Aufgabe ist die Mitarbeit vieler, für die zweite die aller Menschen erforderlich.

In der Geschichte z.B. handelt es sich darum, alle sozialen Umänderungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, zu untersuchen; ihre Ursachen und ihre Folgen aufzufinden; und endlich daraus die Regeln abzuleiten, nach denen die gesellschaftliche Entwickelung vor sich geht. Und das für alle Zeiten und alle Völker.

Selbstverständlich kann das nicht das Werk eines oder einiger Menschen sein, sondern nur durch Vereinigung vieler Intelligenzen erreicht werdeft. Solche Intelligenz ist aber keineswegs das Monopol der sogenannten Gelehrten oder Gebildeten. Viel geistige Kräfte schlummern in der Arbeiterschaft, die nur des Anstosses bedürfen, und so müssen die Veranstaltungen der Partei von vornherein darauf berechnet sein, diese Intelligenzen zu wecken.

Weiter, Die Maassregeln sozialer, wirtschaftlicher oder anderer Art, geeignet die Lohnarbeit abzuschaffen, die vielleicht aufgefunden werden, sollen alsdann in die That umgesetzt werden. Das kann selbstverständlich nur mit Hilfe der grossen Masse geschehen, mindestens nicht gegen diese. Dazu ist offenbar nöthig, dass die grosse Masse jene Maassregeln selbst versteht und von ihrer Nützlichkeit überzeugt ist. Sonst wird sie dafür nicht zu haben sein.

Sie wird sie aber nicht verstehen, wenn man ihr eines schönen Tages mit fertigen Resultaten kommt, etwa mit „historischen Gesetzen“, sondern nur, wenn sie die wissenschaftliche Arbeit, an der sie selbst nicht hat Theil nehmen können, doch immer aus der Nähe beobachtet hat, wenn sie selbst jene Resultate hat entstehen, wachsen, werden sehen.

Deshalb muss die Partei zugleich darauf bedacht sein, allen Genossen Bildungsmittel an die Hand zu geben und sie zu deren Benutzung anzuregen. Es ist indessen nicht meine Absicht, heute schon meinerseits praktische Vorschläge zu machen; solche können sich, ich wiederhole es, nur aus der gemeinsamen Diskussion ergeben, die sich hoffentlich an meine Anregung anschliessen wird.


Zuletzt aktualisiert am 3.10.2008