Heinrich Brandler

Brief an Bruno Granz

(13. November 1927)


Quelle: E. Reuter, W. Hedeler, H. Helas, K. Kinner (Hrg.): Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 – Die KPD am Scheideweg, Berlin 2003, Dok. 022.
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Moskau, den 13. November 1927

Lieber Bruno [Granz]!

Vorerst erwidere ich Deine und Kernigs Grüße. Es ist immer eine Freude, hier in der Verbannung von alten Bekannten ein Lebenszeichen zu bekommen. Jetzt, wo die Delegationen reichlich hergekommen sind, habe ich ja Gelegenheit gehabt, mit manchem alten Kampfgefährten zu sprechen und mir ist manches klar geworden, was man nicht ganz versteht, wenn man hier von der Bewegung abgerissen ist und sich nur kümmerlich aus Zeitungen auf dem Laufenden halten kann. Ich gratuliere Dir zu Deiner Karriere. Das ist immerhin ein Stück Arbeit, in der Zeit, wo viele gute Genossen wegen ihrer politischen Überzeugung nicht nur von der verantwortlichen Parteiarbeit entfernt wurden, sondern aus der Partei herausflogen, hast Du es zum Geschäftsführer des wichtigen Limbacher Konsumvereins gebracht. Ich habe in meiner Eigenschaft als Leiter der Kooperativsektion der Komintern die Wichtigkeit der politischen Genossenschaftsarbeit kennen gelernt. Bei dem guten proletarischen Kern der Limbacher Bevölkerung müßte es gerade in Limbach möglich sein, einmal mustergültig zu zeigen, wie man unter kommunistischer Leitung die Genossenschaftsarbeit mit der Parteiarbeit verbinden kann. Ich hatte damals 1924/25 ein meiner Meinung nach brauchbares Aktionsprogramm ausgearbeitet, das auch die Billigung der Komintern erhielt, obgleich Ruth Fischer es als opportunistisch verdammte. Es würde mich sehr interessieren, von Dir und Kernig zu erfahren, was Ihr praktisch in dieser Hinsicht gemacht habt. Deine Charakterisierung der Partei: „Daß sie noch um eine politische Linie kämpft“, daß noch „ernste antigewerkschaftlich-politische Strömungen vorhanden sind“, „Daß die Partei überall dafür sorgen muß, daß eine selbständige Politik gemacht wird, die unterbindet, daß die Partei in das Schlepptau der SPD kommt“, ist eine Charakterisierung des jetzigen Zustandes der Partei, der mit meiner Auffassung ziemlich übereinstimmt.

Dann willst Du offen und rücksichtslos meine Meinung über „China, Rußland und Deutschland“ wissen. In bezug auf Deutschland formulierst Du die Frage: 1. Wie stehst Du nun zum jetzigen Parteikurs? 2. Wie stehst Du zu Deiner Politik von 1923? 3. Welche Fehler stellst Du fest? Was findest Du von damals noch richtig? Die Aufforderung, „offen und rücksichtslos“ meine Meinung zu sagen, hättest Du mir nicht stellen brauchen. Ich glaube, daß es mir gerade an Offenheit und Rücksichtslosigkeit bezüglich meiner politischen Überzeugung nie gefehlt hat. Ich kann aus Parteidisziplin schweigen. Und ich habe das getan, aber ich habe nie etwas gesagt, was nicht meine Überzeugung war. So will ich es auch weiter halten, obgleich ich sicher nicht mehr in der Verbannung säße, wenn ich anders – wie so viele – gehandelt hätte, oder bereit wäre zu handeln, wie die Vielen.

Da ich kein Buch schreiben kann, will ich mich auf die deutsche Frage beschränken, auch da nur auf das Wesentliche, oder was ich davon halte. Zu China nur so viel, daß ich mit den Beschlüssen der Komintern und des russischen ZK einverstanden bin und nie den Standpunkt der Opposition geteilt habe. Mit einer ganzen Anzahl von Reden und Artikeln von prominenten Führern, wie Stalin und Bucharin, bin ich nicht einverstanden. Ich glaube auch, daß in der Durchführung der richtigen politischen Linie schwere Fehler gemacht worden sind. Auf Einzelheiten kann ich nicht eingehen.

Zu Rußland. Die Beschuldigung, daß ich und Thalheimer Trotzkisten sind, oder die trotzkistische Opposition jemals unterstützt haben, war immer eine unwahre Behauptung. Ich habe sie zusammen mit Thalheimer (siehe Inprekorr vom 6.10.1924) zurückgewiesen, wo die jetzigen deutschen Fraktionsgenossen von Trotzki und Sinowjew, wie Maslow und Ruth Fischer sie ausstreuten, weil sie glaubten, damit besondere Fraktionsgeschäfte zu machen. Wir sind bei diesem unseren Standpunkt geblieben, unabhängig von der politischen Konjunktur und den jeweiligen Personenkombinationen. Wir haben mit uns nahestehenden Genossen gebrochen (Radek), als sie begannen, sich von diesem unseren Standpunkt abzuwenden. Ich war in der Frage der alten Arbeiteropposition und 1922-23 und bin 1927 mit der Politik der russischen Partei einverstanden, weil ich sie für die einzig mögliche halte. Ich hielt und halte die Kritik der Opposition daran für falsch und gefährlich. Das war vor der Vereinigung der Opposition mein Standpunkt und der prinzipienlose Mischmasch von Trotzki und Sinowjew hat meine Beurteilung ihrer Tätigkeit nur verschärft. Diesen Standpunkt habe ich ohne Schwanken vertreten zu einer Zeit, wo ich zur Kominternpolitik des ZK besonders in Deutschland in offener und schärfster Gegnerschaft stand.

Würde die Politik der Opposition in die Partei übertragen, so würde die Existenz der proletarischen Diktatur bedroht, das Bündnis der Arbeiter mit den armen und mittleren Bauern würde zerrissen, das feste Gefüge der Partei zersprengt, wie die Parteiführung der Maslow-Ruth-Fischer-Opposition die Existenz der deutschen Partei gefährdet hat. Im Grunde führt Sinowjew nur gegen die eigene Partei das fort, was er seit der ernsten Erkrankung Lenins in der KI gemacht hat, als das ZK der russischen Partei erst immer eingriff, wenn der Scherbenhaufen bereits fertig war.

Die Verschärfung des Oppositionskampfes bis zur Aufstellung einer Plattform, die mit dem Leninismus unvereinbar ist und dem Menschewismus Vorschub bietet, die gegenüber der Parteileitung erhobene leichtfertige Anklage des Verrates an der Arbeiterklasse – wie 1923 – hier in der Form: Verrat an der proletarischen Revolution, überschreitet den zulässigen Rahmen einer Opposition innerhalb der Partei. Der fraktionelle Kampf der Opposition, national und international organisiert, hat dazu die elementarsten Grundlagen der Parteidemokratie, ja sogar der Sowjetgesetzlichkeit, d. h. der proletarischen Diktatur mißachtet. Demgegenüber ist der Abwehrkampf der Partei Pflicht und Selbsterhaltung. Ich muß mich auf diese kurzen Bemerkungen beschränken, wenn aus dem Briefe nicht eine Broschüre werden soll.

Und nun zu Deutschland:

Ich bin der Überzeugung, daß ich ein Kommunist und kein Sozialdemokrat bin. Hielte ich die sozialdemokratische Politik für richtig, dann zöge ich die Konsequenz und ginge zur Sozialdemokratie, statt mich hier in der Verbannung festhalten zu lassen. Ich habe immer bestritten und bestreite, daß „meine Politik“ bis 1923 sozialdemokratisch, opportunistisch, reformistisch, liquidatorisch war, wie sie von Maslow – und nicht nur von ihm – verschrieen wurde und wird. Ich habe immer dagegen gekämpft und werde weiter dagegen kämpfen, daß ich und meine Gesinnungsfreunde die „rechte“ menschewistische Richtung in der deutschen Partei vertrete oder vertreten habe und die Maslow-Ruth Fischer oder die Thälmann-Dengel-Schneller die bolschewistisch-kommunistische. Ich bestreite nicht und habe nie bestritten, daß ich bei dem Versuch, eine revolutionäre Politik durchzuführen, im Jahre 1923 Fehler gemacht habe, sowohl linke wie opportunistische, so wie ich 1921 linke Fehler gemacht habe. Was heißt überhaupt „meine Politik“? Wenn Du damit sagen willst, daß ich, vom Spartakusbund angefangenen bis 1923, persönlich die Politik der Partei vor allem in der Z[entrale] mehr beeinflußt habe, wie einer der jetzigen 54 Männerzentrale die Leitung der Partei beeinflußt, so ist das richtig. Aber die Politik der deutschen Kommunistischen Partei als „meine Politik“ zu bezeichnen, d. h. die Arbeit der Parteileitung mißzuverstehen und mir eine Bedeutung zu geben, die ich nie gehabt habe. „Meine Politik“ war vielleicht unsere Politik in Westsachsen während des Kapp-Putsches, wo wir, von der Parteizentrale und dem übrigen Reich abgeschnitten, eine Linie durchgeführt haben gegen menschewistische Tendenzen, z. B. gegen Heckert (man darf die Kasernen nicht nehmen usw.) und gegen die sozialdemokratische Politik von Schneller, der damals noch unter Einfluß seiner Leutnantstätigkeit bei den Baltikumern war, oder Dr. Schwarz-Thiede, den ich aus dem Polizeipräsidium geworfen habe, er war damals noch SPD – eine politische Linie, von der mir Lenin persönlich in den schmeichelhaftesten Ausdrücken bestätigt hat, „daß es eine richtige bolschewistische Linie“ gewesen sei. Aber auch da ist es nur „meine Politik“, insofern ich rücksichtslos meinen richtigen Standpunkt gegenüber dem falschen der anderen durchgesetzt habe. Bei der Durchführung der Politik des Oktober 1923 war aber mit Ausnahme der Ruth-[Fischer]-Maslow-Leute immer Einstimmigkeit bei allen entscheidenden Beschlüssen. Ich lehne damit nicht die Verantwortung für irgend einen gemachten Fehler ab. Nur allein ihn mir aufzubürden, das fälscht die Parteigeschichte und, was das entscheidende ist, das vertuscht die wirklich gemachten Fehler und macht es der Partei schwer, die wirklichen Fehler zu erkennen und künftighin zu vermeiden. Willst Du wirklich wissen, zu welchen Fehlern wir uns bekennen, ich und Thalheimer, so muß ich Dich auf eine größere Arbeit von Thalheimer verweisen, die dieses Jahr druckfertig wird, wo wir alle unsere [Fehler], aber auch die der anderen, der Exekutive [und] der Linken feststellen und zu erklären versuchen. Hoffentlich gestattet die Partei den Druck. Denn wenn es sie mit dieser Schrift so macht, wie mit meinem Artikel, worin ich zur politischen Lage Deutschlands Stellung nehme, so daß die breiteste Öffentlichkeit sich ein Urteil über unseren politischen Charakter als „Rechte“ bilden kann, dann ist das ein Verfahren, wie es Maslow und Ruth Fischer betrieben und damit Bankrott gemacht haben. Der Artikel wurde von mir im Januar und Februar vor dem Essener Parteitag geschrieben, im März auf Anfrage der KI abgeliefert und liegt heute noch unveröffentlicht, obgleich mir wiederholt zugesichert wurde, daß man ihn abdruckt.

Über das, was wir für fehlerhaft an unserer Politik von 1923 halten, kannst Du Dich auch informieren, wenn Du noch einmal unsere Erklärungen und meine Rede auf dem V. Kongreß nachliest sowie meine und Thalheimers Rede auf dem Frankfurter Parteitag. Zu diesen Erklärungen haben wir nur zu sagen, daß sie unvollständig sind, in der Sache aber kein Wort zurücknehmen. Ganz kurz zusammengefaßt antworte ich auf Deine Frage über 1923:

Ich halte die Politik bis Ende August 1923 unter folgenden Korrekturen für richtig:

1. Bei dem Bestreben, eine wirklich revolutionäre Politik durchzuführen, sind uns vor allem bei der Durchführung der Einheitsfronttaktik opportunistische Fehler unterlaufen. Ich nenne als wichtigste der Zentrale und meinerseits die Formulierungen auf dem Leipziger Parteitag, die von mir verfaßt und von der gesamten Zentrale gutgeheißen wurden. Die notwendigen Korrekturen haben wir aber selbst im Sommer 1923 vorgenommen (Artikel Thalheimer). Die zahlreichen Entgleisungen einzelner in den Gewerkschaften und Parlamenten, Koenens Auftreten im Reichstag, Fehler der sächsischen Fraktion, darunter auch Deine, gegenüber der SPD, rechne ich nicht besonders, weil solche Fehler bei jeder noch so richtigen Politik vorkommen. Wir haben sie ohne großes Geschrei sofort korrigiert. Vielleicht war es ein Fehler von mir, daß wir die Koenen und Stoecker – letzteren wegen sehr bedenklicher Geschichten im Ruhrgebiet – nicht vor aller Parteiöffentlichkeit durchgeführt haben. Die gesamte Linie war aber durchaus richtig und ein Versuch, die Parlamentstribüne lediglich auszunutzen zur Führung einer guten, außerparlamentarischen Massenbewegung. Vor allem in Sachsen gelang es uns, das trotz aller Fehler im einzelnen, die gesamte Internationale sollte gerade diese Politik gründlich studieren und unter Vermeidung unserer Detailfehler anwenden.

2. Unsere Einstellung zur Ruhrbesetzung war fehlerhafter. Wir haben auf dem Leipziger Parteitag sowohl mit der revolutionären Möglichkeit gerechnet, als auch damit, daß es der Bourgeoisie gelingen würde, die Krise zu überwinden. Wir haben die Partei von Seiten der Z[entrale] nach Kräften aktivisiert und auch versucht, sie ernsthaft als Kampforganisation für den Bürgerkrieg vorzubereiten. Das stieß auf große, fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Die Ursache dafür lag in der Störung der Partei durch die Maslow-Ruth Fischer-Opposition. Diese Opposition habe ich nicht geschaffen. Sie entstand nach der Märzaktion, nach der Überwindung der Levikrise, während ich im Gefängnis und in Emigration war. Als ich nach 1½ Jahren wieder zur Parteiführung zurückkehrte, fand ich die Opposition vor. Ich versuchte sie zu liquidieren. Mein Vorschlag, mich statt in die Z[entrale] ins Polbüro zu nehmen, mich ganz von unten in Berlin die Arbeit aufnehmen zu lassen, wurde von der damaligen Z[entrale] abgelehnt. Hier machte ich die Fehler, den ersten, daß ich mich dem Vorschlag der Z[entrale] nicht mehr widersetzte und mich dem Beschluß fügte, die Leitung des Polbüros zu übernehmen, den zweiten, indem ich das Wesen der Opposition mißverstand. Ich sah lediglich die Spitze, die Abenteurer Maslow, Ruth [Fischer], Scholem, Rosenberg, Katz und schlußfolgerte, daß ernste proletarische Strömungen von berechtigter Unzufriedenheit und Mißtrauen nicht zugrunde lagen. Mein Bild von der Partei nach 1½ Jahren Abwesenheit stützte sich, trotz der Erfahrungen in der Märzaktion, die mich hätten warnen sollen, auf die Erfahrungen des Spartakusbundes in seiner besten Zeit. Ich hielt es für ausgeschlossen, daß die Partei, mit der wir uns im Spartakusbund als kleine revolutionäre Elite oft blutige Köpfe geholt hatten, auch nur einen einzigen von uns aus der alten Parteiführung des Spartakusbundes des Opportunismus für fähig halten könnte. Ich vergaß, daß die Mehrheit der aus der USP neu zu uns gekommenen Genossen ganz andere Tradition[en] und Erfahrungen hatten. Sie waren von den radikalen Phrasenhelden fortwährend enttäuscht worden und gerade wegen dieser Enttäuschung zu uns gekommen. Es lag aber sehr nahe, daß gerade diese sehr guten revolutionären Mitglieder in uns eine neue Auflage der USP-Führung witterten. Die Opposition, die diese Charaktereigenschaften gleichfalls nicht verstand, aber mit der Spürnase von politischen Abenteurern sehr wohl rochen, fand hier Anklang bei guten revolutionären Arbeitern. Die Opposition war also viel ernster als sogar ich annahm. Die anderen machten sich überhaupt keine ernsten Gedanken darüber. Leugneten Genossen wie Pieck oder Eberlein den Ernst der Opposition überhaupt, wenn nicht gerade aktueller Krach war oder suchten gar Geschäfte für persönliche Zwecke mit ihr zu machen, wie Kleine [d.i. Heifez, Abram Jakowlewitsch], Meyer, Koenen, Stoecker usw. Das verleitete mich zu dem dritten schweren Fehler jener Zeit, zur Konstruktion einer Konzentrationszentrale in Leipzig, die keine wirkliche Konzentration bilden konnte, weil sie nicht die wirklichen Massenströmungen zusammenfaßte, sondern nur Apparatscheksleute aus dem alten Spartakus- und USP-Apparat. Hätte ich den wirklichen Grund der oppositionellen Kräfte der Partei verstanden, dann wäre keine solche im Grunde arbeitsunfähige Z[entrale] zustande gekommen, wie sie 1923 bestand, die durch Aufzwingen von Ruth [Fischer], Scholem, Schlecht, von Geschke, Thälmann, König und später noch drei ähnlichen, nicht die guten revolutionären und mißtrauischen Parteielemente in die Z[entrale] brachten, sondern deren Arbeitsfähigkeit noch mehr vermindert hat. Dieses Nichterkennen der wirklichen Wurzel in der Opposition machte mich sorglos in bezug von Anwendungen von Agitation und Propaganda, die in einer geschlossenen Partei mit gemeinsamer Kampftradition wie der Spartakusbund, keinerlei Gefahr gebildet hätten. Gerade diese, in der Phrase aber niemals in der Sache von uns angewandten oder zugelassenen Formulierungen mußten das Mißtrauen verstärken und gewissenlosen Demagogen wie Ruth [Fischer], Maslow, Katz oder Thiede ihre parteischädigende Wirkung erleichtern. Was heute vergessen wird, ist, daß wir mit einer solchen Z[entrale] und mit einem solchen Riß in der Partei das geleistet haben, was wir 1923 leisteten. Wir waren wegen der im Grunde genommen richtigen Politik trotz dieser Zerrissenheit und schlechten Leitung die einzige proletarische Partei, die die Kämpfe der Arbeiter wirklich führte und der verräterischen SPD immer mehr das Wasser abgruben. Für die geistige und organisatorische Vorbereitung der Partei auf die Bürgerkriegsaufgaben fand ich weder in der Z[entrale] noch in der Parteimitgliedschaft Verständnis, wenigstens gab es nur geringe Ausnahmen, die vor dem Antifaschistentag begriffen, was not tat. Das war zu begreifen nach den schlechten Erfahrungen mit dem Roten Soldatenbund und dem K.O. des Spartakusbundes und der MP der USP. Aber alles Begreifen schafft die Tatsache nicht aus der Welt. Als ich August 1922 wieder in die Parteileitung übertrat, gab es weder eine Vorbereitung auf die Notwendigkeit der Umstellung auf illegale Arbeit noch die einfachsten militärpolitischen Vorbereitungen. Wo, wie in Hamburg, Überreste von der Märzaktion bestanden, lebten sie illegal in der Partei.

Eine weitere Gruppe von Fehlern waren solche der politischen Linie. Unsere Losung: Schlagt Cuno an der Spree und Poincaré an der Ruhr, war meiner jetzigen Überzeugung nach falsch und für die Kräfteentfaltung in der Partei schädlich. Wir haben die nationale Pointe überspitzt. Ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren, aber unser großer Nachteil war, wir mußten den Massen als Kriegsverlängerer erscheinen und erschienen als solche gegenüber dem Defätismus der Linken wie Zeigner u. Co. Wir kamen mit unserer Schlageter-Sympathie in zu dicke Nähe der Faschisten und haben beigetragen zu der Unklarheit über das Wesen des Faschismus in Deutschland. Unser vollkommen richtiges Aktionsprogramm vom Betriebsrätekongreß 1922, das unsere ganze Politik bis zum Sturze Cuno bestimmte, wirkte dadurch, daß wir mit den Kontrollausschüssen bei der Preiskontrolle bei dem Kleinhandel stecken blieben, ebenfalls zum Teil gegen uns. Der entscheidende Fehler war aber, die Verkennung der Situation in der entscheidenden Phase nach dem Cuno-Streik, wo wir dem Einfluß der Exekutive nachgaben, die ihrerseits von Trotzki beeinflußt und beherrscht wurde. Der Cuno-Streik war der Höhepunkt der Zuspitzung. Wir gingen von der falschen Voraussetzung aus, die Bourgeoisie sei nicht mehr fähig, die vor ihr stehenden Aufgaben zu bewältigen. Wir setzten voraus, daß sich die Lage weiter revolutionär zuspitzen müsse. Diese Voraussetzung erwies sich als vollkommen falsch. Die beiden Aufgaben, von der die Existenz der bourgeoisen Herrschaft abhing, waren die Liquidierung der Inflation und des Ruhrkrieges. Während wir in Moskau vom 1. 9. bis 8. 10. beratschlagten, wie wir die Offensive organisieren sollen, liquidierte die Koalitionsregierung den Ruhrkrieg und traf die entscheidenden Maßnahmen zur Stabilisierung der Währung und des Staatsbudgets. Das war entscheidend. Es fand keine weitere Zuspitzung statt, umgekehrt, mit der Einführung der Rentenmark, der festen Währung, sank von Woche zu Woche die nervöse, oder wenn man will, revolutionäre Stimmung. Mit Beendigung des Ruhrkrieges setzte die finanzielle und politische Hilfe seitens Englands und Amerikas ein, die der deutschen Bourgeoisie die Sanierung der deutschen Währung und durch Druck auf Frankreich den Friedensschluß ohne Abtreten im Ruhrgebiet ermöglichte. Für den Bürgerkrieg hatte Seeckt seit dem Antifaschistentag durch Einziehung der Schwarzen Reichswehr eine Bürgerkriegsgarde auf die Beine gestellt, die mit der Schupo mindestens ½ Millionen aufs beste ausgerüstete Truppen darstellte. Beim Einmarsch der Truppen in Sachsen am 23.10. wäre der Beginn des Bürgerkrieges keine revolutionäre Tat, sondern ein Verbrechen gewesen. Meine Schuld besteht darin, daß ich das zu spät, erst 14 Tage nach meiner Rückkehr aus Moskau, erkannte. Mein großes Verdienst, das ich mir von niemandem bestreiten lasse, liegt gerade darin, daß ich in der letzten Minute auf jener Chemnitzer Konferenz noch die Gefahr erkannte und die Losung gegen den Aufstand gab. Ich bilde mir ein, daß ich die Probleme des Aufstandes in Deutschland, wie wenig andere, durchdacht habe. 1918 bis 1919, im Kapp-Putsch und 1921 habe ich sie durchlebt. Mir ist es keine Phrase, sondern in Fleisch [und Blut] übergegangen, daß der Aufstand eine Kunst ist, daß man mit dem Aufstand nicht spielen darf und daß man, hat man begonnen, bis zu Ende gehen muß. Ich beurteile die Lage so, daß, wenn wir zum Aufstand aus Anlaß der Besetzung Sachsens übergehen, in Sachsen der Kampf nicht mit einem Anfangssieg über die Kräfte des Gegners beginnt, der den Todesmut und die Begeisterung der übrigen deutschen Proletarier anfeuert und so das ganze Land in Aufstand bringt, sondern daß wir, wie 1919, beim Einmarsch der Noskiten in München, wenn auch nicht in 2 Tagen, so in einer Woche, dort, wo wir relativ am stärksten waren, niedergeschlagen werden und das übrige Reich ohnmächtig zusehen muß. Ich werde mein Lebtag nicht die Lage von April 1919 vergessen, wo wir in Chemnitz Truppentransporte nach Bayern nicht verhindern konnten.

Der Hamburger Aufstand ist eine volle Bestätigung für meine Auffassung. Noch nicht 200 aktive Kämpfer in einer Stadt mit einer halben Million Arbeitern kämpfen in einer Stadt heldenhaft gegen eine 400fache feige Übermacht und die Proletarier sehen zu und freuen sich über die tapferen Kommunisten. In Sachsen und Thüringen standen wir anderen Kräften gegenüber. Außer den 4 bis 5.000 aktiven Revolutionären hätte niemand mitgekämpft. Wir wären in 14 Tagen niedergekämpft gewesen. Es gibt Situationen, wo man auch das in Kauf nehmen muß. So stand es jedoch 1923 keineswegs. Ich würde in einer ähnlichen oder gleichen Lage genau so handeln. Daß unter diesen Umständen der Eintritt in die Sächsische Regierung, gegen den ich bis zum letzten gekämpft habe, nur eine parlamentarische Komödie werden konnte, ist ganz klar. Es lohnt nicht weiter, in diesem Zusammenhang auf Einzelheiten einzugehen. Das wird in unserer Arbeit über den Oktober geschehen, die August [Thalheimer] fertig macht. Ich glaube, daß ich Dir hiermit eine Probe meiner Auffassung über 1923 gegeben habe, die Dich einstweilen genügend unterrichtet.

Nun zur jetzigen Parteilage.

Nachdem die Eroberung der Parteiführung durch die Maslow- und Ruth [Fischer]-Opposition und das klägliche Verhalten der Zentrumsgruppe die Partei in den Wurzeln vergiftete, die nach dem Oktober trotz der schweren Niederlage und der Desorganisation der Partei durch den Sieg der Panikmacher und Herostraten im Mai 1924 noch 4 Millionen Stimmen erhielt, wurde die Partei geradezu planmäßig raffiniert zerstört. Der Kampf wurde unter folgenden Losungen geführt:

Die eigene Parteiführung hat nicht nur schwere Fehler gemacht, sondern die Arbeiterklasse an die Bourgeoisie verraten. Nummer l. Zweitens: die erfolgreiche und richtige Gewerkschaftsarbeit der Partei ist nur eine ganz besonders raffinierte Teilarbeit der Verräter gewesen. Damit ist jetzt Schluß. Neue Gewerkschaften, Organisationen der Unorganisierten, das ist 100prozentiger Bolschewismus und Leninismus. 3. Der ganze untere Führerkader der Partei, der organisch gewachsen war, wird zerschlagen und durch gefügige Elemente der Ruth [Fischer], Maslow, Scholem, Katz, Thiede, Korsch ersetzt. Dann ihre praktische Politik, Teilkampf gegen Steuern und Forderungen, wie das Remscheider Programm, sind aufschlußreiche Verbrechen. Die Maslow-Ruth-Fischer haben gehaust wie eine Räuberbande, die weiß, daß sie bald wieder vertrieben werde und deshalb nur darauf bedacht ist, alles zu verwüsten, die Parteivergangenheit zu beschmutzen und dergleichen.

Ich kann mir nicht helfen, ich habe zu denen, die hemmungslos fast zwei Jahre eine solche „Politik“ mitgemacht haben, zu denen habe [ich] nicht das geringste Vertrauen. Die müssen sich das erst durch wirklich solide Parteiarbeit erwerben. Nach dem Offenen Brief, der in weit vorgerückter Stunde dem Spuk ein Ende machte, ist die falsche politische Linie korrigiert, das ZK der WKP hat sich damit, daß sie Sinowjew das Handwerk legte, ein Verdienst erworben. Eine prinzipielle Differenz zwischen der Linie des Offenen Briefes und den nachfolgenden Ergänzungen in meinen Auffassungen besteht nicht mehr. Ich halte jedoch die Durchführung der Linie für schwach, schwankend und unsicher. Ich reflektiere auf keinerlei Posten in der Partei, sondern will lediglich die Verwirklichung der Beschlüsse des VII. Plenums des EKKI vom Dezember 1926, d. h. Zulassung zur Parteiarbeit. Ich bin jederzeit bereit, unter der Leitung des ZK der KPD zu arbeiten. Eine Wiederherstellung der Z[entrale] von 1923 halte ich weder für wünschenswert noch möglich. Eine kollektive Führung, die vor allem die jüngeren Kaders der Partei heranzieht, scheint mir das zu sein, was notwendig ist. Eine politische Erklärung, die den Bedürfnissen der WKP entgegen kommt und zugleich die Zusammenarbeit mit dem ZK der KPD erleichtert, haben wir uns nie geweigert abzugeben. Aber eine solche Erklärung hat nur Zweck, wenn sie gegenseitig vereinbart wird, dazu hat sich weder die deutsche Z[entrale] noch das EKKI bereit gefunden.

Ich bin der Meinung, vielleicht ist das unbescheiden, daß ich und Thalheimer bei dem nicht großen Überschuß an politischen Kräften in der deutschen Partei nützliche[re] Arbeit leisten könnten, als in der Verbannung. Ich bin der Meinung, daß das Hin und Her in der Parteiführung und die oft beträchtliche Gefahr, am Schwanze der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie angehängt zu werden, davon kommt, daß die Partei kein klares Aktionsprogramm hat und daß sie bei ihrer Gewerkschaftsarbeit nichts tut, um anzuknüpfen an die auf deutschem Boden gewachsenen Erfahrungen und zwar hinsichtlich der prinzipiellen Einstellung zum Gewerkschaftskampf als auch in der Praxis. Im Detail habe ich manches auszusetzen, aber das kann mit Erfolg nur geschehen, wenn ich drüben bin. Ich gehöre nicht zu jenen, die glauben, in 2.000 Kilometer Entfernung die Dinge besser beurteilen zu können. Ich bilde mir sogar ein, daß ich verschiedenes besser machen könnte, so z. B. die Redaktion einer Parteizeitung, gewerkschaftliche und politisch-organisatorische Arbeiten eines Bezirks und dergleichen. Du kennst mich persönlich gut, daß ich nie nach der Ehre gestrebt habe, der Führer vom Ganzen zu sein. Dazu habe ich mich selbst immer zu kritisch beurteilt. Wenn ich dennoch in der Z[entrale] immer mehr Aufgaben aufgeladen bekam, die meine Kräfte überstiegen, so weil die anderen nicht stärker waren als ich. Es ist das Verhängnis mit dem Tode Rosas [Luxemburgs] und Leo Jogiches, daß wir überragende politische Köpfe nicht haben. Ich habe mich nie dazu gezählt, obgleich ich glaube, daß ich gewiß nicht dümmer bin als irgend einer der jetzt leitenden Genossen. Ich glaube durch mein Leben bewiesen zu haben, daß ich es auch in bezug auf Treue und Ergebenheit [gegenüber] der deutschen Revolution und der KPD mit allen aufnehmen kann. Nun aber Schluß.

 

Mit komm[unistischem] Gruß
Dein Heinz Br[andler]


Zuletzt aktualisiert am 3.10.2008