Nikolai Bucharin

 

Imperialismus und Weltwirtschaft

 

ZWEITER ABSCHNITT
Die Weltwirtschaft und der Prozeß der Nationalisierung des Kapitals

Viertes Kapitel
Die innere Struktur der „nationalen Wirtschaften“ und die Zollpolitik

 

1. Die „nationalen Wirtschaften“ als Knotenpunkte der weltwirtschaftlichen Beziehungen. 2. Das Wachstum der monopolistischen Organisationen. Die Kartelle und Trusts. 3. Die vertikale Konzentration. Die gemischten Unternehmungen. 4. Die Rolle der Banken und die Verwandlung des Kapitals in Finanzkapital. 5. Die Banken und die vertikale Konzentration. 6. Die staatlichen und kommunalen Unternehmungen 7. Das System als Ganzes. 8. Die Zollpolitik des Finanzkapitals und die kapitalistische Expansion.

Die Weltwirtschaft stellt, wie wir gesehen haben, ein kompliziertes Netz von ganz verschiedenartigen ökonomischen Beziehungen dar, deren Grundlage die Produktionsverhältnisse in ihren Weltausmaßen sind. Diese, eine Unmenge individueller Wirtschaften miteinander verbindenden ökonomischen Beziehungen verdichten sich und werden engere, wenn wir im Rahmen der Weltwirtschaft die „nationalen“ Wirtschaften, d.h. die ökonomischen Beziehungen innerhalb der staatlichen Einheiten untersuchen. Diese Tatsache ist keineswegs der Ausdruck einer besonderen schöpferischen Rolle des „Staatsprinzips“, das aus sich heraus besondere Formen des nationalökonomischen Seins schaffen könnte; es ist dies auch keinerlei prästabilisierte Harmonie zwischen „Gesellschaft“ und „Staat“. Die Dinge liegen viel einfacher. Der Prozeß der Schaffung der modernen Staaten als einer besonderen politischen Form ist selbst durch wirtschaftliche Bedürfnisse und Nöte hervorgerufen worden. Der Staat ist auf einer wirtschaftlichen Grundlage entstanden, er war lediglich der Ausdruck wirtschaftlicher Verbindungen; der staatliche Zusammenschluß war nur ein Ausdruck des wirtschaftlichen Zusammenschlusses. Wie jede lebendige Form, befand und befindet sich die „nationale Wirtschaft“ in einem ununterbrochenen Prozeß der inneren Umwandlung; die Molekularbewegungen , die gleichzeitig mit dem Wachstum der Produktivkräfte erfolgten, haben auch das gegenseitige Verhältnis der „national“-wirtschaftlichen Organismen fortwährend geändert, das heißt, des Wechselverhältnis zwischen den einzelnen Teilen der entstehenden Weltwirtschaft beeinflußt. Unsere Zeit bringt ganz außerordentliche Verhältnisse hervor. Die radikale Zertrümmerung der alten konservativen Wirtschaftsformen, die mit den Anfängen des Kapitalismus begann, hat überall einen unbestrittenen Sieg erfochten. Zugleich aber wird diese „organische“ Verdrängung der schwachen Konkurrenten im Rahmen der „nationalen“ Wirtschaften (Untergang des Handwerks, Verschwinden der Zwischenformen, Zunahme der Großbetriebe usw.) ebgelöst durch eine kritische Periode des verschärften Kampfes kolossaler Gegner auf dem Weltmarkt. Die Ursachen dafür sind vor allem in den inneren Änderungen zu suchen, die in der Struktur der „nationalen Kapitalismen“ erfolgt sind, und die eine Umwälzung in ihren gegenseitigen Beziehungen zur Folge hatten.

Diese Veränderungen äußern sich vor allem in der Bildung und äußerst raschen Verbreitung kapitalistischer Monopolorganisationen: von Kartellen, Syndikaten, Trusts, Bankkonzernen. [1] Wir haben bereits gesehen, wie stark dieser Prozeß auf internationalem Gebiete ist. Aber im Rahmen der „nationalen Wirtschaften“ ist er unvergleichlich bedeutender. Wie wir weiter sehen werden, ist die „nationale“ Kartellierung der Industrie einer der stärksten Faktoren der nationalen Verbundenheit des Kapitals.

Der Prozeß der Bildung kapitalistischer Monopole ist die logische und historische Fortsetzung des Prozesses der Konzentration und Zentralisation. Wie auf den Trümmern des feudalen Monopols die freie Konkurrenz der Handwerker entstanden ist, die zum Monopol der Kapitalistenklasse über die Produktionsmittel geführt hat, so wird die freie Konkurrenz innerhalb der Kapitalistenklasse immer mehr durch eine Beschränkung dieser Konkurrenz und durch die Bildung gewaltiger, den gesamten „nationalen“ Markt monopolisierender wirtschaftlicher Gebilde ersetzt. Diese letzten dürften keinesfalls als „anormale“ oder „künstliche“ Erscheinungen angesehen werden, die durch die Unterstützung der Staatsmacht hervorgerufen seien, wie z.B. durch Zölle, Eisenbahntarife, Prämien, Subsidien oder staatliche Aufträge usw. Alle diese „Ursachen“ haben zwar die Beschleunigung des Prozesses begünstigt, sie waren und sind aber keineswegs seine notwendige Voraussetzung. Dagegen ist eine gewisse Stufe der Konzentration der Produktion eine conditio sine qua non. Deshalb kann allgemein gesagt werden, daß die monopolistischen Organisationen um so stärker sind, je entwickelter die Produktivkräfte eines Landes sind. Eine besondere Rolle hat hier die Form der Aktiengesellschaft gespielt, die die Anlage von Kapital in der Produktion ungeheuer erleichtert und bis dahin nie dagewesene Betriebsgrößen geschaffen hat. Es ist begreiflich, daß an der Spitze der Kartellbewegung zwei Länder marschieren, die mit fieberhafter Schnelligkeit auf die ersten Plätze des Weltmarktes gerückt sind, nämlich die Vereinigten Staaten und Deutschland.

Gerade die Vereinigten Staaten stellen ein klassisches Beispiel für die moderne wirtschaftliche Entwicklung dar, und die zentralisierteste Form der monopolistischen Organisationen, die Trusts, sind hier am kräftigsten verwurzelt. Die folgende Tabelle gibt eine klare Vorstellung sowohl von der ungeheuren wirtschaftlichen Macht der Trusts und insbesondere der großen Trusts als auch vom Prozeß ihres Wachstums.

Nach den Angaben von Moody drückt sich das Wachstum der Trusts in der Zeit von 1904 bis 1908 in folgenden Zahlen aus:

Klassifizierung
der Trusts [2]

1904

1908

Zahl der aufgekauften und kontrollierten Gesellschaften

Summe des Kapitals in Aktien und Obligationen
(in Dollars)

Zahl der aufgekauften und kontrollierten Gesellschaften

Summe des Kapitals in Aktien und Obligationen
(in Dollars)

Die sieben größten industriellen Trust

1.524

2.602.752.100

1.638

2.708.438.754

Die kleineren industriellen Trusts

3.426

4.055.039.433

5.038

8.243.175.000

Trusts im Prozeß der Reorganisation

282

528.551.000

Industrielle Trusts insgesamt

5.232

7.246.342.533

6.676

10.951.613.754

Konzessionierte Unternehmungen

1.336

3.735.456.071

2.599

7.789.393.600

Gruppe der größten Eisenbahngesellschaften

1.040

9.397.363.907

745

12.931.154.010

Insgesamt

7.608

20.379.162.511

10.020

31.672.161.364

Nach Poors Manual of Corperations und Poors Manual of Railroads für 1910 beträgt die zweite Gesamtsumme 33,3 Milliarden Dollar. [3] Bereits 1900 war der Anteil der Trusts an der „nationalen“ Produktion sehr hoch. Er betrug: in der Textilindustrie 50 Prozent der Gesamtproduktion, in der Glasindustrie 54 Prozent, in der Papierindustrie und im Druckereigewerbe 60 Prozent, in der Nahrungsmittelindustrie 62 Prozent, in der Produktion alkoholischer Getränke 72 Prozent, in der Metallindustrie (außer Eisen und Stahl) 77 Prozent, in der chemischen Industrie 81 Prozent, in der Eisen- und Stahlindustrie 84 Prozent. [4] Seit dieser Zeit ist ihr Anteil bedeutend gewachsen, so daß der Prozeß der Konzentration und Zentralisation des Kapitals in den Vereinigten Staaten mit fabelhafter Schnelligkeit erfolgt.

In der Tat, es machen sich nur wenige Kenner der jüngsten Entwicklung der finanziellen Organisationen der Großproduktion und der Handelszweige eine Vorstellung von der gewaltigen Konzentration und Beherrschung von differenzierten oder kombinierten Großunternehmungen, welche oft über eine einzelne Volkswirtschaft hinaus die produktiven Kräfte zusammenfassen. [5]

Es ist im Rahmen dieser Arbeit unmöglich, auch nur eine Aufzählung der wichtigsten Trusts in den verschiedenen Industrien zu geben. Wir bemerken nur, daß an der Spitze der Bewegung zwei Mammuttrusts stehen, der Petroleumtrust (die Standard Oil Company) und der Stahltrust (die United States Steel Corporation), die den beiden Finanzgruppen Rockefeller und Morgan entsprechen.

Die Bewegung des Großkapitals in Deutschland geht in gleicher Weise vor sich. Im Jahre 1905 zählte die offizielle Statistik 385 Kartelle in den verschiedensten Produktionszweigen auf. [6] Der bekannte Theoretiker und Praktiker der Kartellbewegung in Deutschland, Dr. Tschierschky, zählt 500-600 deutsche Kartelle auf. [7] Die größten sind: das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat und der Stahlwerksverband. Nach den Angaben von Raffalovich erzeugte das Kohlensyndikat im Jahre 1909 im Dortmunder Revier 85 Millionen Tonnen Kohle, während alle Außenseiter (das heißt die außerhalb des Syndikats Stehenden) nur 4.200.000 (das heißt 4,9 Prozent) erzeugten. [8] Im Januar 1913 betrug die Kohlenerzeugung des Syndikats 92,6 Prozent der Gesamterzeugung des Ruhrgebiets und 54 Prozent der Gesamterzeugung im Reiche. Der Stahlwerksverband produzierte bis zu 43 und 44 Prozent der Gesamtproduktion des Landes. Das Syndikat der Zuckerraffinerien, das 47 Unternehmungen umfaßt, weist eine sehr hohe Ziffer auf (70 Prozent des inländischen und 80 Prozent des ausländischen Absatzes. [9] Der Elektrizitätstrust (die „Interessengemeinschaft“ der beiden Trusts Siemens-Schuckert und AEG) liefert 40 Prozent aller erzeugten Energie usw.

Weniger imposant sind die monopolistischen Organisationen in anderen Ländern, aber absolut und nicht im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Deutschland genommen, ist auch hier der Syndizierungsprozeß sehr bedeutend.

In Frankreich gibt es eine große Anzah1 von Syndikaten in der Hüttenindustrie, in der Zucker-, Glas, Papier-, Petroleum-, der chemischen, der im Steinkohlenbergbau usw. Besonders bedeutend sind Le Comptoir de Longwy, das fast das gesamte in Frankreich erzeugte Roheisen verkauft, das Zuckersyndikat, das den Markt fast völlig beherrscht, die Société Générale des Glaces de St. Gobain, die gleichfalls eine fast absolute Monopolstellung einnimmt usw.; es muß auch eine Reihe von landwirtschaftlichen Syndikaten genannt werden, denen die landwirtschaftlichen Genossenschaften sehr nahestehen [10], und auch große Organisationen in der Transportindustrie: drei Dampfergesellschaften (die Compagnie Générale de Transatlantique, die Compagnie des Messageries Maritimes und die Compagnie des Chargeurs Réunis) umfassen 41,25 Prozent der gesamten Handelsflotte Frankreichs. [11]

In England, wo die monopolistische Bewegung aus einer ganzen Reihe von Gründen lange Zeit, verhältnismäßig, trotz der starken Konzentration der Industrie, überaus schwach entwickelt war, macht gerade in der letzten Zeit die Vertrustung der Industrie (“amalgamations“, „associations“, „investment trusts“) kolossale Fortschritte. Ähnlich wie die spezifischen Besonderheiten der englischen Arbeiterbewegung bereits der Geschichte angehören, so gehört auch die englische freie Konkurrenz der Geschichte an (wir werden weiter sehen, daß die freie Konkurrenz auch im Sinne der wirtschaftlichen Außenpolitik, das heißt als Politik des Freihandels, immer mehr in den Hintergrund zu treten beginnt). Nur Unkenntnis kann jetzt in England den Vertreter eines wirtschaftlich ganz eigentümlichen Typus sehen. Wir wollen nur als Beispiel einige Trusts anführen: der Trust für Portland Zement (Association of Portland Cement Manufactures) umfaßt 89 Prozent der „nationalen“ Produktion; die Stahltrusts; die Trusts in der Spiritusbrennerei, die Trusts der Tapetenfabriken (89 Prozent der Landeserzeugung an Tapeten und anderen Dekorationsmaterialien); der Trust der Kabelwerke (The Cable Makers’ Association – mit etwa 90 Prozent der Gesamterzeugung); der Salztrust (Salt Union – etwa 90 Prozent); The Fine Cottons Spinners’ and Doublers’ Trust (übt die tatsächliche Kontrolle über fast die gesamte englische Produktion aus); der Färbertrust und der Bleichertrust (Bleachers’ Association und The Dyers’ Association – etwa 90 Prozent); Imperial Tobacco Company (etwa die Hälfte der Gesamtproduktion) usw. [12]

In Österreich gehören zu den größten Kartellen: das Kohlensyndikat in Böhmen (90 Prozent her österreichischen Gesamterzeugung), das Syndikat der Ziegeleien mit einer Gesamtproduktion von 400 Millionen Kronen (die Außenseiter nur 40 Millionen Kronen), das Eisensyndikat, die Syndikate in der Erdölindustrie (Galizien 40 Prozent), Zuckerindustrie, Glasindustrie, Papierindustrie, Textilindustrie usw.

Aber auch in einem so rückständigen und kapitalarmen Lande wie Rußland ist allein die Zahl der Syndikate von höherem Typus und der Trusts (nach den Angaben von Goldstein) größer als 100; außer ihnen besteht eine Reihe lokaler Abkommen von weniger entwickeltem Typus. Nennen wir die bedeutendsten [13]: im Kohlenbergbau der Produgol (60 Prozent der Erzeugung des Donezreviers); in der Eisenindustrie 19 Syndikate; die bedeutendsten davon sind Prodamiet (88-93 Prozent), Krowlja (60 Prozent der Eisenblecherzeugung); Prodwagon (14 von 16 vorhandenen Waggonfabriken); in der Erdölindustrie befindet sich fast die gesamte Erzeugung in den Händen von vier miteinander verbundenen Gesellschaften; wir nennen noch das Kupfersyndikat (90 Prozent), das Zuckersyndikat (100 Prozent), die Abkommen der Textilindustriellen, den Tabaktrust (57-58 Prozent), das Zündholzsyndikat usw. usw.

Sehr stark sind die Syndikate in Be1gien entwickelt; aber auch so junge Länder, wie z.B. Japan, haben gleichfalls den Weg der Bildung kapitalistischer Monopole beschritten. Die alten Produktionsformen des Kapitalismus haben sich somit radikal verändert.

Nach den Berechnungen von E. Laue entfallen von den in den industriellen Unternehmungen aller Länder der Welt in einer Gesamthöhe von 500 Milliarden Franken angelegten Kapitalien 225 Milliarden, das heißt fast die Hälfte auf die kartellierte und vertrustete Produktion (auf die einzelnen Länder verteilt sind dieses Kapital – die Zahlen sind wahrscheinlich zu gering angesetzt – folgendermaßen: Amerika 100 Milliarden Franken. Deutschland – 50 Milliarden Franken, Frankreich – 30 Milliarden Franken, Österreich-Ungarn – 25 Milliarden Franken usw. [14] Das zeigt eine vollkommene Umwandlung der alten Verhältnisse innerhalb dieser Länder, was notwendigerweise zu weittragenden Änderungen in ihren gegenseitigen Beziehungen führen mußte.

Allerdings beschränkt sich das nicht allein auf den Prozeß der Organisation innerhalb der einzelnen Produktionszweige. Es findet ein fortwährender Prozeß ihrer Verbindung zu einem System, ihrer Umwandlung in eine einheitliche Organisation statt. Das geschieht vor allem durch Bildung von gemischten Unternehmungen, das heißt von Unternehmungen, die die Erzeugung von Rohstoffen und Fertigwaren, von Fertigwaren und Halbfabrikaten usw. vereinigen; dieser Prozeß kann die verschiedensten Produktionszweige erfassen und erfaßt sie auch, da diese Produktionszweige bei der modernen Arbeitsteilung in größerem oder geringerem Maße direkt oder indirekt von einander abhängig sind. Wenn z.B. ein Trust neben dem Hauptprodukt auch ein Nebenprodukt erzeugt, so besteht das Bestreben, auch dieses Gebiet der Produktion zu monopolisieren; dadurch wird wiederum der Anstoß zur Monopolisierung der Produktion derjenigen Produkte gegeben, die dieses Nebenprodukt ersetzen; dann wird die Produktion der Rohstoffe für dieses Nebenprodukt zum Objekt ähnlicher Bestrebungen usw. usw. Es entstehen auf diese Weise die auf den ersten Blick unverständlichen Kombinationen wie z.B. die Verbindung von Eisen- und Zementindustrie, von Petroleum und Traubenzuckerindustrie usw. [15] Diese vertikale Konzentration und Zentralisation der Produktion, so genannt zum Unterschied von der horizontalen, die im Rahmen der einzelnen Produktionszweige erfolgt, bedeutet einerseits eine Verminderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, (den sie vereinigt Arbeit, die bisher unter einigen Unternehmungen verteilt war, in einer einzigen), andererseits aber spornt sie im Gegenteil die Teilung der Arbeit im Rahmen der neuen Produktionseinheiten an; der gesamte Prozeß hat, gesellschaftlich genommen, die Tendenz, die „nationale“ Wirtschaft in ein einheitliches kombiniertes Unternehmen zu verwandeln, in dem alle Produktionszweige organisatorisch untereinander verbunden sind.

Derselbe Prozeß erfolgt in bedeutendem Maße auch auf anderem Wege und zwar durch das Eindringen des Bankkapitals in die Industrie und durch Verwandlung des Kapitals in Finanzkapital.

Wir haben schon in den vorhergehenden Kapiteln gesehen, welche kolossale Bedeutung die Beteiligung an industriellen Unternehmungen und ihre Finanzierung hat. Aber die Finanzierung ist ja gerade eine der Funktionen der modernen Banken.

Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixeren. Sie wird damit in immer größerem Umfange Industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt wird, das Finanzkapital. [16]

Mit Hilfe der verschiedenatigen Formen des Kredits, des Besitzes von Aktien und Obligationen und der unmittellbaren Gründertätigkeit tritt somit das Bankkapital in der Rolle eines Organisators der Industrie auf, und diese Organisation der Gesamtproduktion des ganzen Landes ist um so stärker, je stärker die Konzentration der Industrie einerseits, die Konzentration der Banken andererseits ist. Diese letzte hat schon ungeheuren Umfang angenommen. Es genügt, folgende Beispiele anzuführen: In Deutschland wird das Bankgeschäft praktisch durch sechs Banken monopolisiert: die Deutsche Bank, die Diskonto-Gesellschaft, die Darmstädter Bank, die Dresdner Bank, die Berliner Handelsgesellschaft und der Schaffhausensche Bankverein, deren Kapital im Jahre 1910 schon 1.122,6 Millionen Mark betrug. [17] Wie schnell die Macht dieser Banken angewachsen ist, zeigt die Zunahme der Zahl ihrer Niederlassungen in Deutschland (dazu gehören die Zentralstellen und Filialen, die Depositenkassen und Wechselstuben und die ständigen „Beteiligungen“ an deutschen Aktienbanken). Diese Zahl veränderte sich folgendermaßen: 1895 – 42, 1896 – 48, 1900 – 80, 1902 – 127, 1905 – 194, 1911 – 450. [18] In sechzehn Jahren ist also die Zahl dieser Institutionen fast auf das Elffache gestiegen.

In Amerika gibt es nur zwei Banken dieser Art: die National City Bank (Rockefeller) und die National Bank of Commerce (Morgan). Eine unzählige Menge sowohl industrieller Unternehmungen als auch anderer Banken, die untereinander auf die verschiedenartigste Weise verflochten sind, ist von diesen beiden Banken abhängig

Vom Umfang der Bankgeschäfte der Gruppen Rockefeller und Morgan kann man sich eine annähernde Vorstellung machen, wenn man berücksichtigt, daß die erste im Jahre 1908 3.350 nationale staatliche und andere Banken zu ihren Klienten zählte und ihre Reserven aufbewahrte, die zweite mit 2.757 solcher Banken in Verbindung stand. Ohne die beiden Gruppen kann kein einziger neuer Trust gegründet werden; sie haben ein „Monopol für die Schaffung von Monopolen“, „Monopoly of monopoly making“. [19]

Einer solchen eigenartigen wirtschaftlichen Verbindung zwischen den verschiedenen Produktionszweigen und den Banken entspricht auch eine besondere Form der obersten Leitung von beiden. Und zwar leiten die Vertreter der Industriellen die Banken und umgekehrt. Jeidels teilt mit, daß die sechs erwähnten deutschen Banken im Jahre 1903 über 751 Sitze in Aufsichtsräten industrieller Aktiengesellschaften verfügten. [20] Und umgekehrt: in den Aufsichtsräten dieser Banken sitzen (nach den letzten Mitteilungen für Dezember 1910) 51 Vertreter dieser Industrie. [21]

Was Amerika anbetrifft, so ist folgende Tatsache charakteristisch. Aus einer Liste, die dem Senat bei der Erörterung des Gesetzentwurfes über die Verbesserung des Bankwesens im Jahre 1908 (La Folette-Kommission) eingereicht wurde, ist ersichtlich, daß 89 Personen mehr als 2.000 Direktorposten in verschiedenen Industrie-, Verkehrs- u.a. Gesellschaften bekleiden, wobei Morgan und Rockefeller, direkt oder indirekt, fast alle diese Unternehmungen kontrollieren. [22]

Wir müssen hier noch die bedeutende Rolle der staatlichen und kommunalen Unternehmungen erwähnen, die zum „volkswirtschaftlichen“ Gesamtsystem gehören. Zu den staatlichen Unternehmungen gehören vor allem: ein Teil des Bergbaus, (in Deutschland befanden sich z.B. im Jahre 1909 von 309 Kohlenzechen mit einer Erzeugung von 149 Mill. Tonnen 27 mit einer Erzeugung von 20,5 Mill. Tonnen in den Händen des Staates; der Gesamtwert der staatlichen Produktion beträgt 235 Millionen Mark); hierher gehören auch Salzbergwerke, Erzbergwerke usw. (der Wert der Erzeugnisse dieser staatlichen Unternehmungen betrug im Jahre 1910 349 Millionen Mark brutto und 25 Millionen Mark netto) [23]; dann Eisenbahnen (eine ausschließlich privatwirtschaftliche Organisation des Eisenbahnwesens bestand nur in England und auch da nur vor dem Kriege); Post und Telegraphie usw. und die Forstwirtschaft. Zu den kommunalen Unternehmungen, die eine große wirtschaftliche Bedeutung haben, gehören vor allem Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke aller Art. [24] Zum allgemeinen System gehören auch die mächtigen Staatsbanken. Die Formen der gegenseitigen Abhängigkeit dieser „öffentlichen“ und der privatwirtschaftlichen Unternehmungen sind ziemlich vielfältig, wie ja die wirtschaftlichen Beziehungen überhaupt vielfältig sind; eine große Rolle spielt natürlich der Kredit. Besonders enge Beziehungen entstehen auf dem Boden des Systems der sogenannten gemischten Unternehmungen, wo die betreffende Unternehmung aus öffentlichen und privatwirtschaftlichen Elementen besteht (Beteiligung großer, gewöhnlich monopolistischer Firmen), eine Form, die häufig auf dem Gebiete der Kommunalwirtschaft anzutreffen ist. Interessant ist das Beispiel der deutschen Reichsbank. Diese Bank, deren wirtschaftliche Rolle in Deutschland ungeheuer ist, ist derartig innig mit der Privatwirtschaft verbunden, daß bis zum heutigen Tag darüber gestritten wird, ob sie eine einfache Aktiengesellschaft oder eine staatliche Institution sei, ob sie privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Charakter habe. [25]

Alle Teile dieses in einem bedeutenden Maße organisierten Systems – die Kartelle, Banken, die staatlichen Unternehmungen – befinden sich im Prozeß des unaufhörlichen gegenseitigen Zusammenwachsens; dieser Prozeß wird in dem Maße schneller, wie die kapitalistische Konzentration fortschreitet; die Kartellierung und Konzernierung erzeugt sofort eine Interessengemeinschaft der die betreffenden Unternehmungen finanzierenden Banken; die Banken sind daran interessiert, daß die Konkurrenz unter den durch sie finanzierten Unternehmungen aufhört; ebenso fördert jedes Zusammengehen der Banken die Verbindungen zwischen den industriellen Gruppen; schließlich geraten auch die staatlichen Unternehmungen in eine immer größere Abhängigkeit von den großen finanziellen und industriellen Gruppen und umgekehrt. So treiben die einzelnen Sphären des Prozesses der Konzentration und Organisation einander vorwärts und erzeugen eine außerordentlich starke Tendenz zur Umwandlung der gesamten nationalen Wirtschaft in eine gewaltige kombinierte Unternehmung unter der Leitung der Finanzmagnaten und des kapitalistischen Staates, in eine Wirtschaft , die den nationalen Markt monopolisiert und eine Voraussetzung der organisierten Produktion in ihrer höchsten nichtkapitalistischen Form darstellt.

Der Weltkapitalismus, das Weltsystem der Produktion gestaltet sich folglich in der letzten Zeit folgendermaßen: einigen zusammengeballten organisierten Wirtschaftskörpern (den „zivilisierten Großmächten“) steht die Peripherie der unentwickelten Länder mit agrarischer oder halbagrarischer Struktur gegenüber. Der Prozeß der Organisation (die übrigens gar nicht der Zweck oder der treibende Beweggrund der Herren Kapitalisten ist, wie das ihre Ideologen behaupten, sondern nur das objektive Ergebnis ihres Strebens nach maximalen Profit) hat die Tendenz, die „nationalen“ Grenzen zu überschreiten; aber hier sind Hindernisse vorhanden, die sehr viel wesentlicher sind. Es ist erstens viel leichter, die Konkurrenz im nationalen Rahmen zu überwinden, als im internationalen Rahmen (internationale Abkommen entstehen gewöhnlich aus der Grundlage von bereits vorhandenen nationalen Monopolen); zweitens lassen die vorhandenen Unterschiede der wirtschaftlichen Struktur und folglich auch der Produktionskosten Vereinbarungen für die fortgeschrittenen „nationalen“ Gruppen unvorteilhaft erscheinen; drittens ist die Verbundenheit mit dem Staate und seinen Grenzen selbst ein immer größer werdendes Monopol, das zusätzliche Profite gewährleistet.

Von den Faktoren letzter Art untersuchen wir zunächst die Zollpolitik.

Ihr Charakter hat sich vollkommen geändert. War der Zweck der Zölle früher die Verteidigung, so gegenwärtig der Angriff; wurden früher solche Waren mit Zöllen belegt, deren Erzeugung im Lande selbst so unentwickelt war, daß sie der Konkurrenz auf dem Weltmarkte nicht standhalten konnte, so werden jetzt gerade die konkurrenzfähigsten Produktionszweige „geschützt“.

Friedrich List, der Apostel der Schutzzollpolitik sprach in seinem Buch Das nationale System der politischen Oekonomie von Erziehungszöllen, die zudem nur eine zeitweilige Maßregel darstellen sollten. Es heißt bei ihm:

Wir haben hier nur von der Douanengesetzgebung als Mittel zur industriellen Erziehung zu sprechen ... Schutzmaßregeln sind nur zum Zwecke der Förderung und Beschützung der inneren Manufakturkraft und nur bei Nationen zu rechtfertigen, welche ... durch einen hohen Grad von Zivilisation und politischer Ausbildung berufen sind. mit den ersten Agrikulturmanufakturhandelsnationen, mit den größten See- und Landmächten gleichen Rang zu behaupten. [26]

Jetzt kommt so etwas, trotz aller Versicherungen einiger bürgerlicher Gelehrter, nicht in Frage. Die moderne Politik des Hochschutzzolles ist nichts anderes als die staatliche Formel für die Wirtschaftspolitik der Kartelle; die modernen Zölle sind Kartellzölle, sind ein Mittel, um den Kartellen zusätzliche Profite zu sichern. Es ist in der Tat ganz klar, daß die „Produzenten“ die Preise auf dem inneren Markt um den ganzen Betrag des Zolls erhöhen können, wenn die Konkurrenz auf dem inneren Markte ausgeschaltet oder auf ein Mindestmaß reduziert ist. Aber dieser zusätzliche Profit schafft die Möglichkeit, die Waren auf dem auswärtigen Markt zu Preisen abzusetzen, die unter den Selbstkosten liegen, zu „Schleuderpreisen“. So entsteht die eigenartige Ausfuhrpolitik der Kartelle (das Dumping). Alles dies erklärt auch die auf den ersten Blick seltsame Erscheinung, daß die modernen Zölle auch die exportierende Industrie „schützen“. Schon Engels war sich über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Kartelle und den modernen Zöllen in ihrer spezifischen Besonderheit durchaus im klaren:

Die Tatsache – so schrieb er –, daß die rasch und riesig anschwellenden modernen Produktivkräfte den Gesetzen des kapitalistischen Warenaustausches. Innerhalb deren sie sich bewegen sollen, täglich mehr über den Kopf wachsen – diese Tatsache drängt sich heute auch dem Bewußtsein der Kapitalisten selbst mehr und mehr auf. Dies zeigt sich namentlich in zwei Symptomen. Erstens in der neuen allgemeinen Schutzzollmanie, die sich von der alten Schutzzöllnerei besonders dadurch unterscheidet, daß sie gerade die exportfähigen Artikel am meisten schützt. Zweitens in den Kartellen (Trusts) der Fabrikanten ganzer großer Produktionssphären zur Regulierung der Produktion und damit der Preise und Profite. [27]

Aber gerade unsere Zeit hat einen Riesenschritt in dieser Richtung gemacht und die konsolidierte Industrie, in erster Linie die Schwerindustrie, tritt als eifrigste Anhängerin der Hochschutzzölle auf, denn je höher der Zoll, desto größer ist der zusätzliche Profit, desto schneller können neue Märkte erobert werden, desto größer ist die gewonnene Profitmasse. Eine Schranke wird hier nur gebildet durch einen Rückgang der Nachfrage, der nicht mehr durch höhere Preise zu kompensieren ist, aber auch in diesem Rahmen ist die Steigerungstendenz eine unbestrittene Tatsache.

Wenn wir jetzt die Weltwirtschaft betrachten, dann zeigt zeigt sich folgendes Bild. Die Kartellzölle und das Dumping der fortgeschrittenen Länder rufen den Widerstand der rückständigen Länder hervor, die ihre Abwehrzölle erhöhen [28]; und umgekehrt: die Erhöhung der Zölle durch die rückständigen Länder bildet einen weiteren Ansporn zu einer noch größeren Erhöhung der Kartellzölle, die das Dumping erleichtern; es braucht hier nicht gesagt zu werden, daß dieselbe Wechselwirkung auch bei anderen Kombinationen erfolgt: in den Beziehungen der fortgeschrittenen Länder untereinander ebenso wie in den Beziehungen unter rückständigen Ländern. Diese endlose Schraube, die durch das Wachstum der Kartellorganisationen ständig weitergedreht wird, hat jene „Schutzzollmanie“ erzeugt, von der Engels gesprochen hat, und die heute noch viel stärker geworden ist.

Seit Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist allen Ländern mit moderner Entwicklung eine Abkehr vom Freihandel zu beobachten, die sich schnell aus der „Erziehung“ der Industrie in einen Schutz der Kartelle verwandelt und in die moderne Politik der Hochschutzzölle ausmündet.

In Deutschland bildet der Zolltarif von 1879 diesen Wendepunkt, seit dieser Zeit haben wir hier eine unaufhörliche Zunahme der Zollsätze (man vergleiche z.B. den Tarif von 1902 und die späteren); in Österreich erfolgte diese Wendung im Jahre 1878, die weiteren Tarife zeigen ebenfalls eine Tendenz zur Steigerung (besonders die Tarife von 1882, 1887, 1906 usw.); in Frankreich wird der entscheidende Schritt in der Richtung der Schutzzollpolitik mit dem Generaltarif von 1881 gemacht, der die Zölle für Industriewaren um 24 Prozent erhöhte; es ist hier noch der hochschutzzöllnerische Tarif von 1892 zu erwähnen (Zölle auf Industriewaren in einer Höhe von 69 Prozent ihres Wertes, auf landwirtschaftliche Erzeugnisse in einer Höhe von 25 Prozent) und die „Revision“ dieses Tarifs im Jahre 1910; in Spanien enthält bereits der Tarif von 1877 hohe Zölle für Industriewaren; besondere Aufmerksamkeit verdient der Tarif von 1906, der die Zollsätze allgemein erhöhte. In den Vereinigten Staaten, dem klassischen Lande der Trusts und der modernen Zollpolitik kommen die charakteristischsten Züge des Schutzzollwesens besonders kraß zum Ausdruck. Die Erhöhung der Zölle, die mit der Entwicklung der Trusts beginnt im Jahre 1883; sie erreichte damals 40 Prozent des Wertes der verzollbaren Waren. 1873/74 betrugen sie 38 Prozent, 1887 47,11 Prozent, 1890 (MacKinley Bill) kam eine weitere Erhöhung (91 Prozent für Wollwaren, für besonders feine Sorten sogar bis zu 150 Prozent ihres Wertes); für eingeführte Metalle 40-80 Prozent usw. [29]; dann kam die Dingley Bill (1897) und als eine der krassesten Erscheinungen der Tendenz zur Steigerung der Zölle der Payne-Tarif von 1909. England, diese Zitadelle des Freihandels, macht eine Epoche des Umschwungs durch; immer entschiedener und hartnäckiger wird die Forderung nach einer „Tarifreform“ erhoben, nach einer Ersetzung des free trade (des freien Handels) durch einen fair trade (einen „gerechten“ Handel), das heißt durch ein Schutzzollsystem (siehe z.B. die Tätigkeit Chamberlains, der Imperial Federation League und der United Empire League usw.). Das System der Vorzugstarife im Verkehr zwischen Metropole und Kolonien ist eine teilweise Verwirklichung dieser Bestrebungen. Im Jahre 1898 führte Kanada Vorzugstarife für die Metropole ein; 1900 und 1906 wurden diese Tarife vervollständigt und „verbessert“; jetzt betragen die Ermäßigungen 10-15 Prozent gegenüber den ausländischen Waren. Im Jahre 1903 folgten die südafrikanischen Kolonien dem Beispiel Kanadas (6¼ bis 25 Prozent), 1903 und 1907 schließt sich Neuseeland ihnen an; im Jahre 1907 Australien (5-10 Prozent). Auf den sogenannten Reichskonferenzen (das heißt den Konferenzen der Vertreter der Kolonien und der britischen Regierung) kommen immer mehr schutzzöllnerische Ansichten zum Ausdruck. „Nur ein Denker zweiten Ranges kann jetzt Anhänger des Freihandels und zugleich Optimist in bezug auf England sein,“ so erklärt mit der unbegrenzten Selbstzufriedenheit des Bourgeois der bekannte Gelehrte Ashley, der damit die Stimmungen der Herrschenden Klassen Englands zum Ausdruck bringt. [30]

Der Krieg hat hier bekanntlich den Schlußstrich gezogen und der Schutzzoll ist zur Tatsache geworden. Schließlich müssen wir auch die außerordentlich hohen Zollsätze Rußlands erwähnen.

Seit 1877 – so schreibt Herr Kurtschinski – wird eine neue Richtung eingeschlagen ... die einen immer deutlicheren Übergang zu einem hochschutzzöllnerischen Tarif darstellt, der später ständig steigt. Im Jahre 1877 wurde diese Erhöhung durch den Übergang zur Erhebung der Zölle in Goldvaluta bewirkt, was sie mit einem Male um etwa 40 Prozent steigerte. Die folgenden Jahre brachten weitere Erhöhungen der Sätze für eine ganze Reihe von Waren im Sinne einer immer weiter ausgedehnten Anwendung der schutzzöllnerischen Grundsätze; im Jahre 1800 wurden alle Zölle um 20 Prozent erhöht. Den Abschluß dieser Entwicklung stellte der überschutzzöllnerische Tarif von 1891 dar, auf Grund dessen die Zollsätze für viele Waren im Vergleich zum Tarif von 1868 um 100 bis 300 Prozent und sogar noch mehr erhöht wurden. [Von mir unterstrichen. N.B.] Der heute gültige Zolltarif ist ... im Jahre 1903 veröffentlicht worden und am 16. Februar 1906 in Kraft getreten. Zahlreiche Zollsätze sind durch ihn erhöht worden ... (Von mir unterstrichen. N.B.) [31]

Es unterliegt somit keinem Zweifel, daß eine allgemeine Tendenz zur Absperrung der „nationalen Wirtschaften“ durch hohe Zollmauern vorhanden ist. Das wird keinesfalls durch den Umstand widerlegt, daß in manchen Fällen auch eine Senkung der Sätze und gegenseitige Konzessionen bei Handelsverträgen usw. vorkommen; das alles sind aber nur Ausnahmen, die einen zeitweiligen Stilstand, einen Waffenstillstand im unaufhörlichen Kriege darstellen. Die allgemeine Tendenz wird dadurch keinesfalls aufgehoben, denn sie ist keine einfache empirische Tatsache, keine Zufallserscheinung, die für die modernen Verhältnisse unwesentlich ist; im Gegenteil, es ist gerade die Struktur des neuesten Kapitalismus, die diese Form der Wirtschaftspolitik erzeugt; mit ihr steht und fällt diese.

Die bedeutende wirtschaftliche Rolle, die die Zölle heute spielen, bringt auch einen aggressiven Charakter der Politik des „modernen Kapitalismus“ mit sich. In der Tat erhalten die monopolistischen Organisationen dank den Zöllen jetzt zusätzliche Profite, die sie auch als Ausfuhrprämien im Kampf um die Märkte benutzen (Dumping). Dieser zusätzliche Profit kann im allgemeinen auf zwei Wegen entstehen: erstens durch einen intensiveren inneren Absatz im eigenen Staatsgebiet; zweitens durch Erweiterung dieses Gebiets. Was aber den ersten Weg anbelangt, so bildet hier die Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes eine Schranke; es ist unmöglich sich vorzustellen, daß die Großbourgeoisie beginnen könnte, den Anteil der Arbeiterklasse zu erhöhen, um sich so an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Sie versucht als guter Geschäftsmann den anderen Weg zu gehen, den Weg der Ausdehnung des Wirtschaftsgebiets. Je größer das Wirtschaftsgebiet, desto größer ist unter sonst gleichen Bedingungen der zusätzliche Profit, desto leichter ist es, Ausfuhrprämien zu bezahlen und ein Dumping zu praktizieren, desto größer ist der auswärtige Absatz, desto höher die Profitrate. Nehmen wir an, daß der Anteil der ausgeführten Waren im Vergleich zum inneren Absatz außerordentlich groß ist; es ist dann unmöglich, die Verluste, die durch den Verkauf zu Schleuderpreisen auf dem auswärtigen Markt entstehen, durch Monopolpreise auf dem inneren Markte zu kompensieren – das Dumping wird sinnlos. Umgekehrt erlaubt ein richtiges Verhältnis zwischen innerem und auswärtigem Absatz die Herauspressung eines Höchstmaßes von Profit. Dies ist aber nur bei einem gewissen Umfang des inneren Marktes möglich, der bei gleicher Intensität der Nachfrage durch den Umfang des Gebietes bestimmt wird, das innerhalb der Zollgrenzen und folglich auch der staatlichen Grenzen liegt. Wenn es früher in der Epoche der freien Konkurrenz genügte, daß die Waren einfach auf den fremden Märkten Eingang fanden und eine solche wirtschaftliche Okkupation die Kapitalisten des ausführenden Landes zufriedenstellen konnte, so erfordern die Interessen des Finanzkapitals in unserer Epoche vor allem, daß das eigene Staatsgebiet ausgedehnt wird, d.h. sie diktieren eine Eroberungspolitik, einen unmittelbaren Druck der bewaffneten Macht, „ imperialistischen Eroberungen“. Es ist aber ganz selbstverständlich, daß dort, wo das alte liberale System des freien Handels infolge von besonderen geschichtlichen Bedingungen zu einem bedeutenden Teile aufrechterhalten blieb, und wo andererseits das Staatsgebiet genügend groß ist, neben die Eroberungspolitik das Bestreben tritt, die zersplitterten Teile des staatlichen Organismus zu vereinigen, die Kolonien mit den Metropolen zu verschmelzen, ein ungeheures einheitliches „Imperium“ mit einer gemeinsamen Zollmauer zu schaffen. Dies trifft für den englischen Imperialismus zu. Auch das ganze Gerede von der Bildung, eines mitteleuropäischen Zollverbandes hat keinen anderen Zweck als die Schaffung eines ungeheuren Wirtschaftsgebietes, das ein monopolistisches Mittel für die Konkurrenz auf dem auswärtigen Markte darstellen soll. In Wirklichkeit ist dieser Plan ein Produkt der Interessen und der Ideologie des Finanzkapitals, das, indem es in alle Poren der Weltwirtschaft eindringt, zugleich eine äußerst starke Tendenz zur Abschließung der nationalen Organismen, zur wirtschaftlichen „Autarkie“ als einem Mittel zur Befestigung seiner Monopolstellung erzeugt. So erfolgt parallel mit der Internationalisierung des Kapitals ein Prozeß der „nationalen“ Zusammenballung des Kapitals, ein Prozeß seiner „Nationalisierung“, der äußerst folgenschwer ist. [32]

Dieser Prozeß der „Nationalisierung“ des Kapitals, d.h. die Schaffung von gleichartigen, in staatliche Grenzen eingeschlossenen, einander schroff gegenüberstehenden wirtschaftlichen Organismen wird auch durch Veränderungen in den drei großen Sphären der Weltwirtschaft angespornt: in der Sphäre der Absatzmärkte, der Sphäre der Rohstoffmärkte und der Sphäre der Kapitalanlagen. Wir müssen deshalb die Veränderungen in den Bedingungen der Reproduktion des Weltkapitals von diesen drei Standpunkten aus analysieren.

 

 

Anmerkungen

1. Wir können hier die Unterschiede zwischen diesen Formen nicht ausführlich behandeln. Für unsere Aufgabe genügt es zu sagen, daß wir keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Kartell und Trust erblicken und im Trust nur die zentralisiertere Form derselben Erscheinung sehen. Jegliche (rein formale) Versuche (wie z.B. Eduard Heilmann: Über Individualismus und Solidarismus in der kapitalistischen Konzentration im Jafféschen Archiv, Bd.39, Heft 3), einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem „autokratischen“ Trust und dem „demokratischen“ Syndikat (oder Kartell) zu machen, berühren das Wesen der Dinge, das sich aus der Rolle dieser Gebilde in der Sozialwirtschaft ergibt, nicht im geringsten. Daraus folgt aber nicht, daß zwischen ihnen keinerlei Unterschiede bestünden, und in einem gewissen Sinne müssen diese Unterschiede gemacht werden. Keinesfalls sind sie aber durch Gegenüberstellung des „demokratischen“ und des „autokratischen“ Prinzips zu finden (siehe die entsprechenden Kapitel im Hilferdingschen Finanzkapital). Kurz gesagt läuft dieser Unterschied darauf hinaus, daß im „Gegensatz zur Vertrustung ... die Kartellierung keineswegs die Aufhebung der Interessengegensätze zwischen den einzelnen dem Kartell angeschlossenen Werken“ bedeutet (Hilferding Organisationsmacht und Staatsgewalt, Neue Zeit, 32. Jahrg., Bd.II, S.142).

2. Prof. Nasarewski: Studien zur Geschichte und Theorie der kollektiv-kapitalistischen Wirtschaft. Syndikate, Trusts und gemischte Unternehmungen. Bd.1, Teil 1, Studien zur Geschichte der Konzentration der amerikanischen Industrie, Moskau 1912, S.318 u. 319.

3. Ebenda. Siehe auch George Renard u. A.A. Dubac: L’évolution industrielle et agricole depuis cent cinquante ans, Paris 1912, p. 204.

4. I. Goldstein: Syndikate und Trusts und die moderne Wirtschaftspolitik, M. 1912, S.51.

5. Eugen von Philippovich, Monopole und Monopolpolitik in Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und Arbeiterbewegung. VI. Jahrg. (1915). Heft 1, S.158.

6. Liefmann: Kartelle und Trusts, 2. Aufl., Stuttgart 1910.

7. Dr. Tschierschky: Kartell und Trust, Leipzig (Göschen) 1911, S.52.

8. A. Raffalovich: Les syndicats et les cartels en Allemagne en 1910 in Revue internationale du commerce, de l’industrie et de la banque in der Nummer vom 30. Juli 1911.

9. Siehe auch Martin Saint-Léon: Cartels et trusts, 3me édition, Paris 1909, S.56.

10. Martin Saint-Léon, ebenda, S.89ff.

11. G. Lecarpentier: Commerce maritime et marine marchande, Paris 1910, S.165.

12. Hermann Levy: Monopoly and Competition, London 1911, S.222-267.

13. Die Angaben sind entnommen den Arbeiten von L. Kafengaus: Die Syndikate in der russischen Eisenindustrie; Goldstein, a.a.O.; Sagorski, a.a.O.

14. Goldstein, ebenda, S.5.

15. Nasarewski, a.a.O., S.354ff.

16. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital, S.283.

17. Siehe W. Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert, 3. Aufl., Berlin 1913, Kap.X; nach neueren Zeitungsmeldungen (Berliner Vorwärts) hat die Diskontogesellschaft den Schaffhausenschen Bankverein bereits verschlungen.

18. Riesser: Die deutschen Großbanken, Beilage VIII. S.745.

19. Nasarewski, a.a.O., S.362.

20. Parvus (der „ursprüngliche“ Parvus), Der Staat, die Industrie und der Sozialismus, S.77; Riesser, a.a.O., Beilage IV, S.651ff.

21. Riesser, ebenda, S.501.

22. Nasarewski, a.a.O., S.349ff.

23. K.Th. v. Eheberg: Finanzwissenschaft.

24. Siehe Kommunales Jahrbuch, 1913/14, herausgegeben von Lindemann, Schwander u. Sidekum, S.566ff.

25. Siehe Willy Baumgart: Unsere Reichsbank, ihre Geschichte und ihre Verfassung, Berlin 1915. Die Bedeutung des Staates, als Organisators der Industrie, ist während des Krieges außerordentlich gewachsen. Wir werden später, bei der Behandlung der Frage der Zukunft der nationalen und der Weltwirtschaft, darauf eingehen.

26. Friedrich Lists Gesammelte Schriften, Das nationale System der politischen Oekonomie, Stuttgart u. Tübingen 1851, S.302 u. 303.

27. Karl Marx: Kapital Bd.III, I. S.97 (Fußnote von Engels, Unterstreichungen von mir. N.B.) Alles das hindert J. Grunzel nicht, die erwähnten Erscheinungen gründlich zu mißverstehen. Siehe seine Handelspolitik, den IV. Band des Grundriß der Wirtschaftspolitik, S.76. Die Gerechtigkeit erfordert aber die Feststellung, daß der Unterschied zwischen Erziehungszöllen und Kartellzöllen ein Gemeinplatz der ökonomischen Literatur von Brentano bis Hilferding ist. Siehe z.B. Josef Hellauer, System der Welthandelslehre, Bd.1, 1910, S.37; Tschierschky, a.a.O., S.86 usw.

28. Es darf nicht vergessen werden, daß, wenn wir von der Politik usw. der Länder sprechen, wir darunter die Politik der Regierungen und bestimmter sozia1er Kräfte, auf die sich die Regierungen stützen, verstehen. Jetzt muß das leider noch erwähnt werden, den der „nationalstaatliche Standpunkt, der wissenschaftlich absolut unhaltbar ist“, ist der Standpunkt von solchen Leuten, wie z.B. Plechanow und Co.

29. Issajew: Weltwirtschaft, S.115 u. 116. Interessant sind übrigens die „Erklärungen“ von Prof. Issajew. Die Erhöhung der Tarife in den Jahren 1862-1864 erklärt er z.B. durch die »schutzzöllnerischen Neigungen der Leute, die die amerikanischen Finanzen leiteten«. So heißt es bei I. wörtlich (S.114 u. 115). Siehe auch Grunzel, a.a.O.

30. W.J. Ashley: La conférence imperiale britannique de 1907 in Revue économique internationale, 1907, tome 4. p.477.

31. Siehe die Ergänzungen von Kurtschinski zur russischen Übersetzung von Ehebergs Finanzwissenschaft, S.411. Übrigens sagt sogar Kurtschinski von der Erhöhung der Zollsätze für deutsche Fabrikwaren im Jahre 1901, daß das „kaum für die russische Volkswirtschaft vorteilhaft“ sei (S.412). Er verwechselt also die „Wirtschaft„ nicht mit den „Wirten„. Das zur Beachtung für diejenigen, die „im Alter umlernen“.

32. Wenn wir von „nationalem“ Kapital, „nationaler“ Wirtschaft usw. sprechen, meinen wir überall nicht das nationale Element im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern das staatlich-territoriale Element des Wirtschaftslebens.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003