Nikolai Bucharin

 

Imperialismus und Weltwirtschaft

 

ZWEITER ABSCHNITT
Die Weltwirtschaft und der Prozeß der Nationalisierung des Kapitals

Achtes Kapital
Die Weltwirtschaft und der „nationale“ Staat

 

1. Die Reproduktion des Weltkapitals und die Wurzeln der kapitalistischen Expansion. 2. Die Überproduktion von Industrieprodukten, die Überproduktion von landwirtschaftlichen Produkten und die Überproduktion von Kapital – als die drei Seiten einer und derselben Erscheinung. 3. Der Konflikt zwischen der Weltwirtschaft und dem Rahmen des „nationalen“ Staates. 4. Der Imperialismus als die Politik des Finanzkapitals. 5. Die Ideologie des Imperialismus.

Die Reibungen und Konflikte zwischen den „nationalen“ Gruppen der Bourgeoisie, die im Schoße der modernen Gesellschaft unvermeidlich entstehen, führen in ihrer weiteren Entwicklung zum Kriege als zu der – vom Standpunkt der führenden Kreise der Gesellschaft – einzig möglichen Lösung der Frage. Diese Reibungen und Konflikte werden, wie wir gesehen haben, durch die Veränderungen hervorgerufen, die in den Bedingungen der Reproduktion des Weltkapitals erfolgt sind. Die kapitalistische Gesellschaft, die auf einer ganzen Reihe von antagonistischen Elementen beruht, kann nur durch schmerzhafte und jähe Wendungen den Zustand eines relativen Gleichgewichts erreichen. Die Anpassung der verschiedenen Teile des gesellschaftlichen Organismus aneinander kann nur durch eine kolossale unproduktive Verausgabung von Energie erfolgen; die gewaltigen faux frais dieser Anpassung ergeben sich aus dem Charakter der kapitalistischen Gesellschaft als solcher, d.h. als einer bestimmten geschichtlichen Stufe der Entwicklung überhaupt.

Wir haben die drei Hauptmotive der Eroberungspolitik der modernen kapitalistischen Staaten aufgedeckt: die Verschärfung der Konkurrenz im Kampfe um Absatzmärkte, Rohstoffmärkte und Sphären für Kapitalanlage – sie ist die Folge der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus und seiner Umwandlung in den Finanzkapitalismus.

Aber diese drei Wurzeln der Politik des Finanzkapitals sind im Grunde genommen nur drei Seiten ein und derselben Erscheinung: des Konfliktes zwischen dem Wachstum der Produktivkräfte und der „nationalen“ Beschränktheit der Organisation der Produktion.

In der Tat ist Überproduktion von Industrieprodukten zugleich Unterproduktion von landwirtschaftlichen Produkten. Die Unterproduktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen ist in diesem Falle für uns insofern wichtig, als die Nachfrage der Industrie nach diesen Erzeugnissen übermäßig ist, d.h. daß ungeheure Massen von Produkten der verarbeitenden Industrie nicht gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse ausgetauscht werden können und somit die Proportionalität der Produktion dieser beiden Zweige der Volkswirtschaft gestört ist (und immer mehr gestört wird). Und gerade aus diesem Grunde sucht die sich ausdehnende Industrie nach einer agrarischen „wirtschaftlichen Ergänzung“, was unter kapitalistischen Bedingungen – und insbesondere bei Bestehen der monopolisierenden Form des Kapitalismus, d.h. des Finanzkapitals – unvermeidlich zur Unterwerfung der agrarischen Länder und Anwendung militärischer Mittel führt.

Es war hier vom Warenaustausch die Rede. Aber auch der Kapitalexport stellt keine isolierte Erscheinung dar. Er beruht, wie wir bereits gesehen haben, auf einer relativen Überproduktion von Kapital. Aber die Überproduktion von Kapital ist wiederum nichts anderes als ein anderer Ausdruck für die Überproduktion von Waren

Überproduktion von Kapital – schreibt Marx – heißt nie etwas anderes als Überproduktion von Produktionsmitteln – Arbeits- und Lebensmitteln – die als Kapital fungieren können, d.h. zur Ausbeutung der Arbeit zu einem gegebenen Exploitationsgrad angewandt werden können ...

Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein. [1]

Und umgekehrt: geht die Überproduktion von Kapital zurück, so verringert sich auch der Umfang der Überproduktion von Waren. Deshalb bewirkt der Kapitalexport, indem er die Überproduktion von Kapital verringert, dadurch auch gleichzeitig eine Verringerung der Überproduktion von Waren (wir wollen hier bemerken. daß es einfache Warenausfuhr ist, wenn z.B. eiserne Träger in ein anderes Land ausgeführt werden, um dort verkauft zu werden; gründet aber die Firma, die die Träger produziert, eine Unternehmung im Auslande und führt sie ihre Waren zu deren Ausrüstung aus, so haben wir es in diesem Falle mit einem Export von Kapital zu tun; das Kriterium ist also, ob ein Kaufakt vorliegt oder nicht).

Aber außer der einfachen Verringerung der Überproduktion von Waren, die dadurch bewirkt wird, daß Kapital in Warenform ausgeführt wird, besteht auch ein weiterer Zusammenhang zwischen dem Kapitalexport und dem Rückgang der Überproduktion von Waren. Dieser Zusammenhang ist durch Otto Bauer sehr gut formuliert worden.

So hat also – schreibt er – die Unterwerfung wirtschaftlich rückständiger Länder unter die Ausbeutung der kapitalistischen Klasse eines europäischen Landes zwei Reihen von Wirkungen: unmittelbar Anlagesphären für das Kapital im Kolonialland und dadurch auch vermehrte Absatzgelegenheit für die Industrie des herrschenden Landes; mittelbar auch im herrschenden Lande selbst neue Anlagesphären für das Kapital und vermehrte Absatzgelegenheit für alle Industrien. Dadurch wird die Menge des in jedem Augenblick totgelegten Kapitals im Lande verringert; es steigen im die Preise, Profite, Löhne; so erscheint also auch die kapitalistische Expansionspolitik als ein gesamtwirtschaftliches Interesse. [2]

Wenn wir also die Frage in ihrem ganzen Umfange betrachten, und zwar von ihrer objektiven Seite, d.h. vom Standpunkt der Anpassungsfähigkeit der modernen Gesellschaft, so haben wir hier eine zunehmende Disharmonie zwischen der Grundlage der gesellschaftlichen Wirtschaft im Weltausmaß und der eigenartigen Klassenstruktur der Gesellschaft, deren herrschende Klasse (die Bourgeoisie) in „nationale„ Gruppen mit einander widersprechenden wirtschaftlichen Interessen gespalten ist; diese Gruppen, die sich in einem gemeinsamen Gegensatz zum Weltproletariat befinden, konkurrieren gleichzeitig miteinander im Prozeß der Verteilung des in der gesamten Welt erzeugten Mehrwerts. Die Produktion hat gesellschaftlichen Charakter. Die internationale Arbeitsteilung verwandelt die einzelnen „nationalen“ Spielarten in Teile eines ungeheuren und allumfassenden Arbeitsprozesses, der fast die gesamte Menschheit ergreift. Die Aneignung aber nimmt den Charakter einer „national“-staatlichen Aneignung an, wobei als ihre Subjekte die gewaltigen staatlichen Verbände der finanzkapitalistischen Bourgeoisie fungieren. Im engen Rahmen der staatlichen Grenzen erfolgt die Entwicklung der Produktivkräfte, die bereits über diesen Rahmen hinausgewachsen sind. Unter diesen Bedingungen entsteht ein unvermeidlicher Konflikt, der auf kapitalistischer Grundlage durch die gewaltsame und blutige Ausdehnung der staatlichen Grenzen gelöst wird, die ihrerseits neue, noch gewaltigere Konflikte nach sich zieht.

Die sozialen Träger dieses Widerspruches sind die verschiedenen staatlich organisierten Gruppen der Bourgeoisie mit ihren widerspruchsvollen Interessen. Die Entwicklung des Weltkapitalismus führt einerseits zu einer Internationalisierung des Wirtschaftslebens und zu einer wirtschaftlichen Nivellierung, andererseits aber – und in unermeßlich größerem Maße – erzeugt derselbe Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung eine äußerste Verschärfung der Tendenzen zu einer „Nationalisierung“ der kapitalistischen Interessen bis zur Bildung von geschlossenen „nationalen“ Gruppen, die vom Scheitel bis zur Sohle bewaffnet und bereit sind, sich in jedem Augenblick auf einander zu stürzen. Man kann die Hauptziele der modernen Politik nicht besser definieren, als das Rudolf Hilferding getan hat:

Die Politik des Finanzkapitals verfolgt somit drei Ziele: erstens Herstellung eines möglichst großen Wirtschaftsgebiets. das zweitens durch Schutzzollmauern gegen die ausländische Konkurrenz abgeschlossen und damit drittens zum Exploitationsgebiet der nationalen monopolistischen Vereinigungen wird. [3]

Die Ausdehnung des Wirtschaftsgebiets bringt den „nationalen“ Kartellen agrarische Gebiete und folglich auch Rohstoffmärkte, sie erweitert die Absatzmärkte und die Sphären der Kapitalanlage; die Zollpolitik gestattet es, die ausländische Konkurrenz niederzuhalten, einen Extraprofit zu gewinnen und den Sturmbock des Dumping in Gang zu setzen; das gesamte „System“ begünstigt die Erhöhung der Profitrate für die monopolistischen Organisationen. Diese Politik des Finanzkapitals – das ist der Imperialismus.

Eine solche Politik setzt gewalttätige Methoden voraus, denn eine Ausdehnung des Staatsgebiets bedeutet Krieg. Aber daraus folgt natürlich nicht die umgekehrte These, daß jeder Krieg und jede Ausdehnung des Staatsgebiets eine imperialistische Politik zur Voraussetzung hätten; das bestimmende Moment ist, daß der betreffende Krieg ein Ausdruck der Politik des Finanzkapitals, und zwar in dem von uns erwähnten Sinne ist. Wie überall, so stoßen wir auch hier auf verschiedene Übergangsformen, deren Vorhandensein jedoch keineswegs die grundlegende These aufhebt. Deshalb sind z.B. die Versuche des bekannten italienischen Nationalökonomen und Soziologen Achille Loria, zwei Begriffe des Imperialismus zu konstruieren, die sich angeblich auf „ganz verschiedene Verhältnisse“ beziehen (des relations tout à fait hétérogènes), grundfalsch. Loria unterscheidet [4] zwischen ökonomischem Imperialismus (l’impérialisme économique) und Handelsimperialismus (l’impérialisme commercial). Das Objekt des ersten seien die tropischen Länder; das Objekt des zweiten aber Länder, die sich auch für europäische Kolonisierung eigneten; die Methode des ersten sei die Waffengewalt, die des zweiten friedliche Vereinbarungen (des accords pacifiques); der erste kenne keinerlei Nuancen und Abstufungen; der zweite habe solche Nuancen, den neben dem Maximum der voIlkommenen Assimilierung oder der einheitlichen Zollunion seien hier auch unvollständige Verbindungen wie z.B. Vorzugstarife zwischen Kolonien und Metropole usw. zu finden.

Das ist die Theorie von Loria. Es ist aber ganz klar, daß er sie sie völlig aus dem Finger gesogen hat. Im Grunde genommen sind „Handelsimperialismus“ und „ökonomischer“ Imperialismus, wie wir das bereits gesehen haben, der Ausdruck einer und derselben Tendenz. Wenn eine geschlossene Zollgrenze und eine Erhöhung der Zollsätze in dem gegebenen Augenblick noch nicht zu einem bewaffneten Konflikt geführt haben, so werden sie im nächsten Augenblick einen solchen Konflikt zur Folge haben; man kann deshalb nicht einen Gegensatz zwischen „friedlichen Vereinbarungen“ und „Waffengewalt“ konstruieren (die friedlichen Vereinbarungen zwischen England und den Kolonien bedeuten eine Verschärfung der Beziehungen zwischen England und den anderen Ländern); ebenso kann nicht von einem ausschließlich „tropischen“ Charakter des „ökonomischen“ Imperialismus gesprochen werden: das Schicksal Belgiens, Galiziens und das wahrscheinliche Schicksal Südamerikas, Chinas, der Türkei und Persiens sind der beste Beweis dafür.

Fassen wir zusammen: die Entwicklung der Produktivkräfte des Weltkapitalismus hat in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung genommen. Überall ist der Großbetrieb im Prozeß des Konkurrenzkampfes als Sieger hervorgegangen und hat die „Kapitalmagnaten“ in einer ehernen Organisation zusammengefaßt, die das gesamte Wirtschaftsleben beherrscht. Die Herrschaft wird durch eine Finanzoligarchie ausgeübt, die die Produktion, welche durch die Banken in einem Knotenpunkt zusammengefaßt wird, leitet. Dieser Prozeß der Organisation der Produktion erfolgte von unten auf und wurde im Rahmen der modernen Staaten verankert, die die Interessen des Finanzkapitals direkt zum Ausdruck bringen. Jede im kapitalistischen Sinne dieses Wortes entwickelte „Volkswirtschaft“ hat sich in eine Art von „national“-staatlichen Trust verwandelt. Andererseits ist der Prozeß der Organisation der wirtschaftlich fortgeschrittenen Teile der Weltwirtschaft von einer außerordentlichen Verschärfung der gegenseitigen Konkurrenz begleitet. Die Überproduktion von Waren, die eine Folge der Zunahme der Großbetriebe ist, die Ausfuhrpolitik der Kartelle und die Verengung der Absatzmärkte infolge der Kolonial- und Zollpolitik der kapitalistischen Mächte, die zunehmende Disproportionalität zwischen der kolossal entwickelten Industrie und der rückständigen Landwirtschaft und schließlich die ungeheure Zunahme des Kapitalexports und die wirtschaftliche Unterwerfung ganzer Gebiete durch die „nationalen“ Bankkonsortien – alles dies treibt den Gegensatz zwischen den Interessen der „nationalen“ Gruppen des Kapitals auf die Spitze. Diese Gruppen finden in der Stärke und Macht der staatlichen Organisation und in erster Linie ihrer Heere und Flotten ihr letztes Argument. Eine starke Militär- und Staatsmacht, das ist der letzte Trumpf im Kampfe der Mächte untereinander. Die Fähigkeit zum Kampfe auf dem Weltmarkt hängt somit von der Macht und Geschlossenheit der „Nation“, von ihren militärischen und finanziellen Hilfsquellen ab. Eine sich selbst genügende staatlich-nationale und wirtschaftliche Einheit, die ihre Großmachtstellung unermeßlich bis zur Weltherrschaft erweitert, das ist das Ideal, das sich das Finanzkapital geschaffen hat.

Mit harten, klaren Augen blickt er (der Imperialist) auf das Gemenge der Völker und erblickt über ihnen allen die eigene Nation. Sie ist wirklich, sie lebt in den mächtigen, immer mächtiger und größer werdenden Staate und ihrer Erhöhung gilt all sein Streben. Die Hingabe des Einzelinteresses an ein höheres Allgemeininteresse, das die Bedingung jeder lebensfähigen sozialen Ideologie ausmacht, ist damit gewonnen, der volksfremde Staat und die Nation selbst zu einer Einheit verbunden und die nationale Idee als Triebkraft in den Dienst der Politik gestellt. Die Klassengegensätze sind verschwunden und aufgehoben in dem Dienst der Gesamtheit. An Stelle des für die Besitzenden ausweglosen, gefährlichen Kampfes der Klassen ist die gemeinsame Aktion der zum gleichen Ziel nationaler Größe vereinten Nation getreten. [5]

Die Interessen des Finanzkapitals erhalten somit einen großartigen ideologischen Ausdruck. Es wird mit allen Mitteln versucht, diese Ideologie auch der Arbeiterklasse einzuimpfen, denn wie ein deutscher Imperialist von seinem Standpunkt sehr richtig bemerkt, „man muß nicht bloß die Beine des Soldaten, sondern auch seinen Geist und sein Gemüt in die Gewalt bekommen“. [6]

 

 

Anmerkungen

1. K. Marx: Kapital, Bd.III, 1. T., S.238 u. 239. Deshalb können die die Warenausfuhr bestimmen (wie Absatz, Rohstoffe, Arbeitskräfte usw.) zugleich auch die Kapitalausfuhr bestimmen. Siehe darüber Hermann Schumacher: Weltwirtschaftliche Studien. Leipzig 1911, Artikel Die Wanderungen der Großindustrie in Deutschland und in den Vereinigten Staaten, besonders S.406 u. 407.

2. Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, S.469 u. 470.

3. R. Hilferding: Das Finanzkapital, S.412.

4. Siehe Achille Loria: Les deux notions de l’impérialisme in Revue économique internationale, 1907, Bd.III, S.459ff.

5. R. Hilferding: Das Finanzkapital, S.428 u. 429.

6. Die deutsche Finanzreform der Zukunft, Teil 3 von Staatsstreich oder Reformen von einem Auslandsdeutschen. Zürich 1907, S.203.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003