N. Bucharin u.
E. Preobraschensky

 

Das ABC des Kommunismus

 

§ 31. Der Zusammenbruch des Kapitalismus und die Arbeiterklasse

Dadurch beschleunigte der Krieg im Anfange die Zentralisation und Organisation der kapitalistischen Wirtschaft. Das, was die Syndikate, Trusts und kombinierten Unternehmungen noch nicht vollendet hatten, trachtete der Staatskapitalismus eilig zu vollbringen. Er schuf ein Netz von verschiedenen Organen, die die Produktion und Verteilung regulierten und bereitete so den Boden vor, auf welchem das Proletariat die zentralisierte Großproduktion übernehmen kann.

Aber der Krieg, der sich mit seiner ganzen Last auf die Arbeiterklasse wälzte, mußte unvermeidlich die Empörung der Proletariermassen auslösen. Vor allem war der Krieg ein in der Geschichte nie dagewesenes Menschengemetzel. Nach verschiedenen Berechnungen erreichte die Zahl der Toten, Verwundeten und Vermißten bis März 1917 allein 25 Millionen Menschen; bis 1. Januar 1918 zählte man gegen 8 Millionen Tote. Um die Menschenverluste genau festzustellen, müßte man noch einige Millionen Kranker hinzufügen. Die Syphilis, die sich während des Krieges in unerhörtem Maße verbreitete, hat allein beinahe die ganze Menschheit verseucht. Die Menschen wurden nach dem Kriege körperlich minderwertiger. Den größten Schaden trugen selbstverständlich die Arbeiterklasse und die Bauernschaft davon.

In den großen Zentren der kriegführenden Staaten haben sich sogar kleine Ortschaften aus besonders krüppelhaft Verunstalteten und Kriegsbeschädigten gebildet: ohne Menschenantlitz, nur mit dem Schädeldach geschützt, sitzen, in Masken gehüllt diese unglücklichen Menschenstümpfe da – das lebendige Zeugnis der bürgerlichen „Kultur“.

Das Proletariat wurde aber nicht allein in wilden Kämpfen hingeschlachtet. Auf die Schultern der noch Lebenden wurden unglaubliche Lasten gewälzt. Der Krieg erforderte wahnsinnige Kosten. Während die Fabrikanten und Werksbesitzer fabelhafte Gewinne, „Kriegsgewinne“, einheimsten, wurden den Arbeitern Riesensteuern auferlegt, um die ungeheuerlichen Kriegsausgaben zu decken. Der französische Finanzminister erklärte der Friedenskonferenz im Herbst 1919, daß sich die Kriegskosten aller kriegführenden Mächte auf eine Trillion, fünf Milliarden Francs belaufen. Nicht jedem ist die Bedeutung dieser Zahlen klar, manchem ist sogar die Berechnung fremd. Früher wurden die Entfernungen der Sterne voneinander nach solchen Zahlen bemessen und jetzt berechnet man nach ihnen die Kosten des verbrecherischen Gemetzels. Eine Trillion enthält eine Million von Millionen. Nach anderen Berechnungen stellten sich die Kriegskosten wie folgt:

in Milliarden Rubel

Kosten des 1. Kriegsjahres

  91,00

Kosten des 2. Kriegsjahres

136,50

Kosten des 3. Kriegsjahres

204,70

Kosten der ersten Hälfte des 4. Kriegsjahres
      (31. Juli bis 31. Dezember 1917)

 
 153,50 

Summe

585,70

Natürlich stiegen seitdem die Kriegskosten noch mehr. Kein Wunder, daß die kapitalistischen Staaten nun der Arbeiterklasse entsprochend hohe Steuern aufzubürden begannen: entweder als direkte Steuern oder durch Besteuerung der Waren, oder, da ja auch die Bourgeoisie hergeben sollte – durch die vom patriotischen Geist getragene Erhöhung der Warenpreise. Die Teuerung nahm zu. Die Fabrikanten aber, besonders diejenigen, die für den Kriegsbedarf arbeiteten, heimsten unerhörte Profite ein.

Die russischen Fabrikanten erhöhten ihre Dividenden um mehr als das Doppelte, einzelne Unternehmungen begannen fabelhafte Dividenden auszuzahlen. Hier einige Zahlen: die Naphtagesellschaft Brüder Mirsojeff verteilte 40% Dividende; die Aktiengesellschaft Brüder Danischewsky 30%; die Tabakfabrik Kalfa 30% usw. In Deutschland betrug der Reingewinn der Unternehmungen im Jahre 1913–1914 in vier lndustriezweigen (chemische, metallurgische, Sprengstoff- und Automobilindustrie) 133 Millionen, im Jahre 1915–1916 schon 259 Millionen, d.h. er nahm im Laufe eines Jahres um das Doppelte zu. In den Vereinigten Staaten vergrößerte sich der Gewinn des Stahltrusts innerhalb eines Jahres, 1915-1916, um das dreifache. Im Jahre 1917 erhöhte sich der Gewinn von 98 Millionen Dollars im Jahre 1915 auf 478 Millionen Dollars. Sehr oft wurden zweihundertprozentige Dividenden ausgezahlt. Ebenso ungeheuerlich wuchsen auch die Bankgewinne. In der Kriegszeit ging der kleine Mann zugrunde, während sich die großen Haifische unglaublich bereicherten. Das Proletariat geriet unter das Joch der Steuern und der Teuerung.

Während des Krieges wurden hauptsächlich Schrappnels, Dynamit, Kanonen, Panzerautos, Aeroplane, Stickgase, Pulver usw. produziert. In den Vereinigten Staaten entstanden sogar ganz neue Städte um die Pulverfabriken. Diese Städte waren in aller Eile aufgebaut, die Fabriken schnell aufgeführt worden, sodaß es oft zu katastrophalen Explosionen kam; man beeilte sich zü sehr mit der Pulvererzeugung und dem Geldverdienen. Kein Wunder, daß die Kanonen- und Pulverfabrikanten glänzende Geschäfte machten und Riesenprofite einsteckten. Doch fürs Volk wurde es immer schlimmer. Denn von den eigentlichen Gütern, die man zur Ernährung, Bekleidung usw. gebraucht hatte, wurde immer weniger und weniger erzeugt. Mit Pulver und Kugeln kann man zwar schießen und zerstören, aber niemanden nähren und kleiden. Alle Kräfte der Kriegführenden gingen aber in der Erzeugung von Pulver und anderen Mordwerkzeugen auf. Die regelrechte, nützliche Produktion verschwand immer mehr und mehr. Die Arbeitskräfte wanderten in die Armee und die ganze Industrie arbeiteten für den Kriegsbedarf. Nützliche Waren wurden immer seltener, sodaß Hungersnot und Teuerung auftraten. Brothunger, Kohlenhunger, Hunger nach allen nützlichen Gütern, dazu die Welthungersnot und die Erschöpfung der gesamten Menschheit – das sind die Folgen des verbrecherischen imperialistischen Gemetzels.

Hier einige Beispiele aus den verschiedenen Ländern.

In Frankreich nahm die landwirtschaftliche Produktion in den ersten Kriegsjahren wie folgt ab:

In Zentnern

in 1914

in 1918

Getreide

42.272.500

15.300.500

Wurzelfrüchte

46.639.000

15.160.000

Industriepflanzen

59.429.000

20,448.000

In England erschöpften sich die Erzvorräte wie folgt:

Gegen Ende 1912 waren

241.000

Tonnen vorhanden

Gegen Ende 1913 waren

  138.000  

Gegen Ende 1914 waren

  108.000  

Gegen Ende 1915 waren

  113.000  

Gegen Ende 1916 waren

      3.000  

Gegen Ende 1917 waren

        600  

In Deutschland betrug die Erzeugung von Gußeisen im Jahre 1913 19,3 Millionen Tonnen; im Jahre 1916 nur mehr 13,3 Millionen; im Jahre 1917 13,1 Millionen; im Jahre 1918 12 Millionen und im Jahre 1919 noch weniger.

In die verzweifelte Lage geriet aber die ganze Weltindustrie durch den Kohlenmangel. In Europa war England der Steinkohlenlieferant. Aber in England nimmt die Kohlengewinnung schon um die Mitte des Jahres 1918 um 13% ab; schon im Jahre 1917 standen die lebenswichtigen Industrien fast ohne Kohle da: die elektrischen Werke erhielten den sechsten Teil der erforderlichen Kohlenmenge, die Textilindustrie den elften Teil ihres Friedensbedarfes. Zur Zeit der Versailler „Friedens“konferenz durchlebten fast alle Länder eine furchtbare Kohlenkrise: die Fabriken wurden aus Mangel an Heizmaterial gesperrt, der Eisenbahnverkehr wurde eingesehränkt. So entstand die große Zerrüttung der Industrie und des Transportwesens.

In Rußland sah es geradeso aus. Schon im Jahre 1917 war es durch den Krieg um die Kohlengewinnung sehr schlecht bestellt. Der Moskauer lndustrierayon erforderte 12 Millionen Pud monatlich. Die Kerenski-Regierung versprach zwar 6 Millionen (die Hälfte) zu beschaffen, in Wirklickeit wurde aber folgendes geliefert: im Januar 1,8 Millionen Pud, Im Februar 1,3 Millionen Pud, im März 0,8 Millionen Pud. Kein Wunder, daß die russische Industrie verfiel. Es begann, so wie in der ganzen Welt, der Auflösungsprozeß des Kapitalismus.

Im Jahre 1917 (unter Kerenski) wurdein Rußland die folgende Anzahl von Fabriken gesperrt:

Monate

Fabriksanzahl

Arbeiterzahl

März

  74

  6.646

April

  55

  2.916

Mai

108

  8.701

Juni

125

38.455

Juli

206

47.754

Der Zerfall ging mit Riesenschritten vor sich.

Um das Anwachsen der Teuerung, die durch die geringe Warenmenge und die große Menge des Papiergeldes hervorgerufen wurde, zu übersehen, genügt es, einen Blick auf das Land, das im Kriege am wenigsten gelitten hatte, zu werfen, und zwar auf England.

Die Durchschnittspreise für die fünf wichtigsten Lebensmittel (Tee, Zucker, Butter, Brot, Fleisch) betrugen:

Tee, Zucker

Brot, Fleisch, Butter

Durchschnittspreis

1901-1905

   500   

   300   

Ende Juli

1914

   579   

   350   

Ende Januar

1915

   786   

   413   

Ende Januar

1916

   946,5

   465   

Ende Januar

1917

1.310   

   561   

Ende Januar

1918

1.221,5

   681   

Ende Mai

1919

1.247   

   777,5

Im Laufe des Krieges erhöhten sich die Preise selbst in England um mehr als das Doppelte, während die Arbeitslöhne in derselben Zeit nur um 18% zunahmen. Die Warenpreise stiegen also sechsmal so schnell wie die Arbeitslöhne. Besonders schlecht war die Lage in Rußland, wo der Krieg das Land verwüstet und dank der Kapitalisten, in ein armseliges, nacktes Bettelweib verwandelt hatte. Selbst in Amerika, das am wenigsten unter dem Kriege gelitten hatte, stiegen die Preise der 15 wichtigsten Produkte im Zeitraum von 1913 bis einschließlich 1918 um 160%, die Arbeitslöhne aber nur um 80%.

Schließlich kam auch die Kriegsindustrie aus Mangel an Kohle, Stahl und allem Unentbehrlichen in Zerrüttung. Die Länder der ganzen Welt, mit Ausnahme von Amerika, vorarmten vollständig. Hunger, Zerstörung und Kälte nahmen ihren Siegeszug fast über die ganze Erde. Alle diese Leiden trafen die Arbeiterklasse besonders schwer. Sie versuchte zwar, dagegen zu protestieren, doch stürmte der Krieg auf sie mit der ganzen Macht des bürgerlichen Räuberstaates ein. Die Arbeiterklasse war in allen Ländern – in den monarchistischen wie in den demokratischen unerhörten Verfolgungen ausgesetzt. Die Arbeiter wurden nicht nur des Streikrechtes beraubt, sondern auch schon beim geringsten Protestversuche schonungslos niedergeschlagen. Auf diese Weise führte die Herrschaft des Kapitalismus zum Bürgerkrieg zwischen den Klassen.

Die Verfolgungen der Arbeiterklasse während der Kriegszeit werden in der Resolution der III. Internationale über den weißen Terror glänzend gekennzeichnet:

Gleich zu Beginn des Krieges haben die herrschenden Klassen, die auf den Schlachtfeldern mehr als 10 Millionen Menschen morden und verkrüppeln ließen, auch im Innern ihrer Länder das Regime der blutigen Diktatur aufgerichtet. Die russische zaristische Regierung hängte die Arbeiter, sie schoß auf sie, sie organisierte Judenpogrome. Die österreichische Monarchie erdrosselte den Aufstand der ukrainischen und tschechischen Arbeiter und Bauern. Die englische Bourgeoisie schlachtete die besten Vertreter des irländischen Volkes ab. Der deutsche Imperialismus wütete im Innern seines Landes und die revolutionären Matrosen waren die ersten Todesopfer dieser Bestie. In Frankreich knallte man die russischen Soldaten nieder, die nicht willig waren, die Profite der französischen Bankiers zu verteidigen. In Amerika lynchte die Bourgeoisie die Internationalisten, verurteilte sie Hunderte der besten Leuten des Proletariats zu 20 Jahren Zuchthaus und schoß die streikenden Arbeiter nieder.

Die kapitalistische Ordnung krachte in allen Fugen. Die Anarchie der Produktion führte zum Kriege, der eine ungeheuere Verschärfung der Klassengegensätze hervorrief; auf diese Weise führte der Krieg zur Revolution. Der Kapitalismus begann nach zwei Hauptrichtungen (siehe § 13) zu zerfallen. Die Epoche des Zusammenbruches des Kapitalismus begann.

Sehen wir uns diesen Zusammenbruch etwas näher an. Die kapitalistische Gesellschaft war in allen ihren Teilen nach einer Schablone aufgebaut: die Fabrik war genau so organisiert wie die Kanzlei oder das Regiment der imperialistischen Armee: oben – die Reichen, die befehlen, unten – die Armen, Arbeiter und Angestellte, die gehorchen; zwischen ihnen – die Ingenieure, Unteroffiziere und höhere Angestellte. Daraus ersieht man, daß die kapitalitische Gesellschaft sich solange behaupten kann, als der Arbeiter-Soldat sich dem Gutsbesitzer-General oder –Offizier, einem Adels- oder Bourgeoisiesöhnchen fügt und solange der Fabriksarbeiter den Befehlen des Herrn Direktors, der ein Riesengehalt bezieht, oder den Anordnungen des Inhabers selbst, der aus ihnen seinen Mehrwert herauspreßt, nachkommt. Sobald aber die arbeitenden Massen erkennen, daß sie nur Schachfiguren in den Händen ihrer Feinde sind, beginnen die Fäden, die den Soldaten mit dem General, den Arbeiter mit dem Fabrikanten verbinden, zu reißen: Die Arbeiter hören auf, ihren Fabrikanten zu gehorchen, ebenso die Soldaten ihren Offizieren, die Angestellten ihren Vorgesetzten. Nun beginnt die Periode des Verfalles der alten Disziplin, mit der die Reichen die Armen beherrschten und die Bourgeoisie sich aus der Hand der Proletarier Riemen schnitt. Diese Periode wird unvermeidlich solange dauern, bis die neue Klasse, das Proletariat, sich die Bourgeoisie unterworfen und gezwungen hat, den Werktätigen zu dienen, bis das Proletariat die neue Disziplin geschaffen hat.

Dieses Durcheinander, in dem das Alte zerstört und das Neue noch nicht geschaffen ist, kann nur mit dem vollen Siege des Proletariats im Bürgerkrieg endigen.

 

 

§ 32. Der Bürgerkieg

Der Bürgerkrieg ist ein verschärfter Klassenkampf, der sich in Revolution umwandelt. Der imperialistische Weltkrieg zwischen den einzelnen Gruppen der Bourgeoisie um die Teilung und Neuaufteilung der Welt, wurde mit Hilfe der Kapitalssklaven geführt. Er wälzte den Arbeitern aber solche Lasten auf, daß der Klassenkampf in den Bürgerkrieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker überging, der schon von Marx als der einzig gerechte Krieg genannt wurde.

Es ist ganz natürlich, daß der Kapitalismus zum Bürgerkrieg führt und der imperialistische Krieg zwischen den bürgerlichen Staaten den Klassenkrieg zur Folge hat. Unsere Partei hat das schon im Anfang des Krieges, im Jahre 1914, vorausgesagt, als noch niemand an die Revolution auch nur dachte. Es war aber klar, daß einerseits die unerhörten, durch den Krieg der Arbeiterklasse aufgebürdeten Lasten die Empörung des Proletariats herausfordern werden und daß andererseits die Bourgeoisie, infolge der allzugroßen Interessengegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen dieser Räuber, nicht imstande sein wird, einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Unsere Vorhersage geht jetzt voll und ganz in Erfüllung. Nach den schrecklichen Jahren des Blutbades, der Grausamkeiten und der Verwilderung brach der Bürgerkrieg gegen die Unterdrücker aus. Dieser Bürgerkrieg eröffnete die russische Revolution im Februar und Oktober des Jahres 1917; die finnländische, ungarische, österreichische und deutsche Revolution setzte ihn fort; dann begann die Revolution auch in den anderen Ländern ... Indessen ist aber die Bourgeoisie offenkundig nicht im stande, einen dauernden Frieden zu schaffen. Die Verbündeten besiegten Deutschland schon im November 1918, den Versailler Raubfrieden unterschrieben sie erst nach vielen Monaten; und wann er endlich gebilligt sein wird, ist unbekannt. Alle sehen, daß dieser Frieden nicht von Dauer sein kann: nach ihm haben sich schon die Südslaven mit den Italienern, die Polen mit den Tschechoslowaken, die Polen mit den Litauern, die Letten mit den Deutschen gebalgt. Und alle bürgerlichen Staaten zusammen fallen über die Republik der sieghaften russischen Arbeiter her. So endet der imperialistische Krieg mit dem Bürgerkrieg, aus dem das Proletariat als Sieger hervorgehen muß.

Der Bürgerkrieg ist keine Laune irgend einer Partei, auch kein Zufall: er ist der Ausdruck der Revolution, die unvermeidlich ausbrechen muß, weil der imperialistische Raubkrieg den großen Arbeitermassen endlich die Augen geöffnet hat.

Wenn man glaubt, daß die Revolution ohne Bürgerkrieg möglich sei, so ist es dasselbe, wie wenn man an die Möglichkeit einer „friedlichen“ Revolution glauben würde. Diejenigen,die so denken (z.B. die Menschewiki, die von der Schädlichkeit des Bürgerkrieges schreien), kehren von Marx zu den vorsintflutlichen Sozialisten zurück, die glauben, daß es möglich sei, den Fabrikanten zu überreden. Das ist geradeso, wie wenn man glaubt, daß man den Tiger durch „Streicheln“ dazu bringen könnte, sich von Gras zu nähren und die Kälblein in Ruhe zu lassen. Marx war ein Anhänger des Bürgerkrieges, d.h. des bewaffneten Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Anläßlich der Pariser Kommune (des Aufstandes der Pariser Arbeiter im Jahre 1871) [35] schrieb Marx, daß die Kommunards nicht entschlossen genug waren: in dem von Marx verfaßten Aufruf der I. Internationale heißt es im Tone des Tadels:

Selbst die Polizeisergeanten, statt, wie sich gebührte, entwaffnet und eingesperrt zu werden, fanden die Tore von Paris weit geöffnet, um sicher nach Versailles zu entkommen. Nicht allein, daß den Ordnungsmännern (so wurden die Kontre-Revolutionäre genannt) nichts geschah, man erlaubte ihnen sogar, sich wieder zu sammeln und mehr als einen starken Posten mitten in Paris zu besetzen ... In seinem Widerstreben, den durch Thiers’ [36] (französischer Denikin) nächtlichen Einbruch in Montmartre eröffneten Bürgerkrieg aufzunehmen, machte sich das Zentralkomitee diesmal eines entscheidenden Fehlers dadurch schuldig, daß es nicht sofort auf das damals vollständig hilflose Versailles marschierte und damit den Verschwörungen des Thiers und seiner Krautjunker ein Ziel setzte. Statt dessen erlaubte man der „Ordnungspartei“ nochmals, ihre Stärke an der Wahlurne zu versuchen, als am 26. März die Kommune gewählt wurde.

Hier spricht sich Marx offen für die Vernichtung der Weißgardisten im Bürgerkriege mit den Waffen in der Hand aus.

Die Lehrer des Sozialismus nahmen also die Revolution sehr ernst. Es war ihnen klar, daß das Proletariat die Bourgeoisie nicht überreden könne, daß es dieser seinen Willen durch den Krieg in dem mit „Gewehren, Bajonetten und Kanonen geführten Bürgerkriege aufzwingen müsse.“

Der Bürgerkrieg läßt die Klassen der kapitalistischen Gesellschaft infolge ihrer Interessengegensätze mit Waffen in der Hand gegeneinander aufmarschieren. Die Tatsache, daß die kapitalistische Gesellschaft in zwei Teile gespalten ist, daß sie ihrem Wesen nach mindestens zwei Gesellschaften darstellt – diese Tatsache blieb in gewöhnlichen Zeiten verborgen. Warum? Weil die Sklaven ohne Murren ihren Herren gehorchten. Im Bürgerkriege nimmt aber dieses Schweigen ein Ende und der unterdrückte Teil der Gesellschaft erhebt sich gegen den unterdrückenden. Unter diesen Umständen ist selbstverständlich an kein „friedliches Zusammenleben“ der Klassen zu denken; die Armee zerfällt in Weißgardisten (aus Adel, Bourgeoisie, der reichen Intelligenz usw. zusammengesetzt) und in Rotgardisten (aus Arbeitern und Bauern bestehend); jede Nationalversammlung, wie sie auch sein mag, in welcher Fabrikanten und Arbeiter zusammensitzen, wird unmöglich: Wie sollen sie „friedlich“ in der Konstituante [37] sitzen, während sie in den Straßen aufeinanderschießen? Im Bürgerkrieg erhebt sich Klasse gegen Klasse. Deshalb kann er wohl mit dem vollen Siege der einen Klasse über die andere, aber keineswegs mit einer Verständigung, irgendeinem Kompromiß enden. Und was wir im Bürgerkrieg in Rußland und in den anderen Ländern (Deutschland, Ungarn) gesehen haben, bestätigt das vollkommen: jetzt gibt es entweder nur die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur der Bourgeoisie und der Generäle. Die Regierung der Mittelklassen und ihrer Parteien (Sozial-Revolutionäre, Menschewiki usw.) stellt nur eine Übergangsbrücke nach einer von den beiden Seiten dar. Als in Ungarn die Räteregierung [38] mit Hilfe der Menschewiki gestürzt worden war, wurde sie sofort von einer „Koalition“ abgelöst, der bald darauf die Reaktion folgte. Gelang es den konstitutionellen Sozial-Revolutionären auf einige Zeit Ufa, das Gebiet jenseits der Wolga und Sibirien in ihren Besitz zu bekommen – in vierundzwanzig Stunden waren sie vom Admiral Koltschak, der sich auf die Großbourgeoisie und die Gutsbesitzer stützte, hinausgejagt. An die Stelle der Diktatur der Arbeiter und Bauern setzte er die Diktatur der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie.

Der entscheidende Sieg über den Feind und die Verwirklichung der proletarischen Diktatur – das ist das unvermeidliche Resultat des Welt-Bürgerkrieges.

 

 

§ 33. Die Formen des Bürgerkrieges und seine Kosten

Die Epoche der Bürgerkriege wurde von der russischen Revolution eröffnet, die nur eine Teilerscheinung, der Beginn der allgemeinen, der Weltrevolution war. In Rußland brach die Revolution früher aus als in den anderen Ländern, weil sich dort der Kapitalismus früher zu zersetzen begann. Die russische Bourgeoisie und die russischen Gutsbesitzer, die Konstantinopel und Galizien erobern wollten und mit den französischen und englischen Bundesgenossen das Blutbad angezettelt hatten, brachen infolge ihrer Schwäche und Unorganisiertheit früher zusammen, die allgemeine Zerrüttung und Hungersnot traten früher auf. Deshalb war es gerad dem russischen Proletariat leichter, mit seinen Feinden fertig zu werden, als erstes den Sieg davonzutragen und seine Diktatur zu verwirklichen.

Daraus folgt aber durchaus nicht, daß die russische kommunistische Revolution die vollkommenste in der Welt sei und der Kommunismus umso eher verwirklicht werden könne, je unentwickelter der Kapitalismus in einem Lande sei. Nach dieser Beurteilung müßte sich der Sozialismus zuerst in China, Persien, der Tükei und anderen kapitalistisch unentwickelten Ländern verwirklichen, wo es fast gar kein Proletariat gibt. Die ganze Lehre von Marx wäre falsch.

Wer so denkt, verwechselt den Beginn der Revolution mit ihrem Charakter, ihrer „Vollendung“. In Rußland brach die Revolution infolge der schwachen Entwicklung des Kapitalismus früher aus. Aber gerade diese Schwäche, die Rückständigkeit unseres Landes, die Minderheit, in welcher sich das Proletariat befindet, die vielen Kleinhändler usw., machen es uns schwer, die kommunistische Wirtschaft zu organisieren. In England wird die Revolution später eintreten. Doch dort wird das Proletarlat nach seinem Siege den Kommunismus schneller organisieren können, denn es bildet dort die überwiegende Mehrheit, ist an gesellschaftliche Arbeit gewöhnt. Diese Produktion ist in England unvergleichlich zentralisierter. Die Revolution wird zwar in England später beginnen, doch höher, entwickelter sein als in Rußland.

Viele glauben, daß die Grausamkeit des Bürgerkrieges die Folge des russischen „Asiatentums“, der russischen Rückständigkeit sei. Die Gegner der Revolution in Westeuropa predigen immer, daß in Rußland der „asiatische Sozialismus“ blühe und daß die Revolution in anderen Ländern sich ohne Grausamkeiten vollziehen werde. Das ist dummes Gerede. In einem kapitalistisch entwickelten Lande muß der Widerstand der Bourgeoisie stärker sein; auch die Intellektuellen (Techniker, Ingenieure, Offiziere usw.) sind mit dem Kapital enger verknüpft und deshalb dem Kommunismus feindlicher gesinnt. Der Bürgerkrieg wird darum in diesen Ländern unvermeidlich heftiger sein als in Rußland. Wir sehen es ja auch schon in Deutschland. Dort hat die Revolution bewiesen, daß der Kampf kapitalistisch entwickelter Länder heftigere Formen annimmt.

Diejenigen, die sich über den Terror der Bolschewiki beklagen, vergessen, daß die Bourgeoisie, um sich ihren Geldbeutel zu erhalten, vor nichts zurückschreckt. Die Resolution des internationalen kommunistischen Kongresses sagt darüber Folgendes:

Als der imperialistische Krieg sich in den Bürgerkrieg zu verwandeln begann und den herrschenden Klassen, den größten Verbrechern, die die Geschichte der Menschheit kennt, die Gefahr des Unterganges ihrer Blutherrschaft vor Augen stand, wurde ihre Bestialität noch grausamer ...

Die russischen Generäle – diese lebendige Verkörperung des Zarenregimes – schossen und schießen auch jetzt die Arbeiter massenhaft nieder, mit direkter und indirekter Unterstützung der Sozialverräter. Während der Herrschaft der Sozial-Revolutionäre und Menschewiki in Rußland füllen Tausende von Arbeitern und Bauern die Gefängnisse und die Generäle rotteten wegen Ungehorsams ganze Regimenter aus. Jetzt haben Kraßnow [39] und Denikin; die die wohlwollende Unterstützung der Ententemächte genießen, Zehntausende von Arbeitern totgeschlagen und gehängt, „jeden Zehnten“ niedergeschossen, ja, sie ließen sogar die Leichen der Gehängten noch drei Tage am Galgen hängen, um die Andern abzuschrecken. Im Ural und Wolgagebiet schnitten die tschechoslowakisch-weißgardistischen Banden [40] den Gefangenen die Arme und Beine ab, ersäuften sie in der Wolga, begruben sie lebendig in der Erde. In Sibirien schlugen die Generäle Tausende von Kommunisten nieder und vernichteten unzählige Arbeiter und Bauern. Die deutschen und österreichischen Bourgeois und die Sozialverräter haben ihre Kanibalennatur zur Genüge gezeigt, als sie in der Ukraina auf transportablen eisernen Galgen die von ihnen beraubten Arbeiter und Bauern, die Kommunisten, ihre eigenen Landsleute – unsere österreichischen und deutschen Genossen – hängten. In Finnland, dem Lande des bürgerlichen Demokratismus, haben sie den finnischen Bourgeois geholfen, 18-24.000 Proletarier niederzuschießen und mehr als 15.000 in den Gefängnissen zu Tode zu martern. In Helsingfors trieben sie Frauen und Kinder als Schutz gegen Maschinengewehrfeuer vor sich her. Durch ihre Unterstützung wurde den finnischen Weißgardisten und deren schwedischen Helfershelfern die Abhaltung blutiger Orgien gegen das besiegte finnische Proletariat möglich gemacht. In Tammerfors zwang man die zum Tode verurteilten Frauen, ihre Gräber selbst zu graben, in Wiborg mähte man Hunderte von russischen und finnischen Männern, Frauen und Kindern nieder.

Im Innern des Landes haben deutsche Bourgeois und deutsche Sozialdemokraten durch die blutige Unterdrückung des kommunistischen Arbeiteraufstandes, durch die bestialische Errmordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs, durch Totschlag und Vernichtung der spartakistischen Arbeiter die äußerste Stufe der reaktionären Welt erklommen. Der Massen- und der Einzelterror der Weißen – das ist die Fahne, unter der die Bourgeoisie marschiert.

Dasselbe Bild zeigt sich auch in anderen Ländern. In der demokratischen Schweiz ist alles zur Niedermetzelung der Arbeiter bereit, falls sie es wagen sollten, das kapitalistische Gesetz zu verletzen. In Amerika erscheinen das Zuchthaus, das Lynchgericht (Selbstgericht) und der elektrische Stuhl zur Hinrichtung als auserwählte Symbole der Demokratie und der Freiheit. In Ungarn und in England, in der Tschechoslowakei und in Polen – überall das gleiche. Die bürgerlichen Mörder schrecken vor keiner Schandtat zurück. Zur Befestigung ihrer Herrschaft entfachen sie den Chauvinismus und organisieren sie die ukrainische bürgerliche Demokratie mit dem Menschewiken Petljura, stützen sie die politische Demokratie mit dem Sozialpatrioten Pilsudski [41] an der Spitze, setzen sie ungeheuere Judenpogrome in Szene, die in ihrer Grausamkeit weit über die von den zaristischen Polizisten organisierten Pogrome hinausgehen. Und wenn die polnischen, reaktionären und „sozialistischen“ Verbrecher die Vertreter des russischen Roten Kreuzes ermordet haben, so ist das nur ein Tropfen im Meere der Verbrechen und Greueltaten, die der untergehende bürgerliche Kanilbalismus (Menschenfresserei) täglich noch begeht.

In dem Maße, als der Bürgerkrieg fortschreitet, nimmt er auch neue Formen an. Ist das Proletariat in allen Ländern unterdrückt, so führt es diesen Krieg in Form von Aufständen gegen die Staatsmacht der Bourgeoisie. Wenn das Proletariat nun in dem einen oder anderen Lande gesiegt und sich der Staatsgewalt bemächtigt, was geschieht dann? Es hat dann die organisierte Staatsgewalt, die proletarische Armee, den ganzen Machtapparat zu seiner Verfügung, es kämpft mit seiner eigenen Bourgeoisie, die gegen das Proletariat Verschwörungen und Aufstände organisiert. Es kämpft aber dann auch als Staat mit den bürgerlichen Staaten. Der Bürgerkrieg nimmt also hier eine neue Form an, die des wirklichen Klassenkrieges, in welchem der proletarische Staat mit den bürgerlichen Staaten kämpft. Die Arbeiter erheben sich nicht bloß gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes, sondern der Arbeiterstaat führt einen regelrechten Krieg gegen die imperialistischen Kapitalsstaaten. Dieser Krieg wird nicht zum Raube von fremden Gute, sondern für den Sieg des Kommunismus, für die Diktatur der Arbeiterklasse geführt.

So ist es auch tatsächlich. Nach der russischen Oktoberrevolution fielen alle kapitalistischen Staaten von allen Seiten über die Sowjetmacht her: Deutschland und Frankreich, Amerika und Japan usw. Je mehr die russische Revolution durch ihr Beispiel die Arbeiter der anderen Länder ansteckte, desto fester schloß sich das internationale Kapital gegen die Revolution zusammen und suchte gegen das Proletariat einen räuberischen Kapitalistenbund zu organisieren.

Einen solchen Versuch machten die Kapitalisten auf Anregung Wilsons, des klugen und durchtriebenen Schelmen und Führers des amerikanischen Kapitals, auf der sogenannten Friedenskonferenz zu Versailles. Sie gaben diesem räuberischen Bunde den Namen „Liga der Nationen“, d.h. „Völkerbund“ [42]. In Wirklichkeit ist er aber kein Bund der Völker, sondern der Kapitalisten der verschiedenen Länder und ihrer Staatsmächte.

Dieser Bund ist ein Versuch, einen ungeheuerlichen Welttrust zu schaffen, der unseren ganzen Planet umspannen, die ganze Welt ausbeuten und allerorts die Empörung der Arbeiterklasse und ihre Revolution in der grausamsten Weise unterdrücken würde. Alles Gerede davon, daß dieser Bund der Friedenssache wegen gegründet wird, ist eine dumme Fabel. Sein eigentliches Ziel ist erstens die schonungslose Ausbeutung des ganzen Weltproletariats aller Kolonien mit ihren Kolonialsklaven und zweitens die Erdrosselung der sich entwickelnden Weltrevolution.

Die erste Geige in dem „Völkerbunde“ spielt Amerika, das sich im Kriege ungeheuer bereichert hat. Amerika ist jetzt der Gläubiger aller bürgerlichen Staaten Europas. Ferner ist Amerika auch deshalb eine Macht, weil es über Rohstoffe, Heizmaterial und Getreide verfügt. Damit will es alle anderen Räuber in Abhängigkeit von sich halten. Im „Völkerbunde“ ist ihm die führende Rolle gesichert.

Es ist interessant, festzustellen, wie die Vereinigten Staaten ihre leitende räuberische Politik mit allerlei edlen Worten decken. Der Eintritt in den Raubkrieg vollzog sich unter der Losung der „Rettung der Menschheit“ usw. Den Vereinigten Staaten war es vorteilhaft, ein zerstückeltes Europa vor sich zu haben, das in Dutzende, dem Scheine nach „selbständige“, doch von Amerika abhängige Staaten geteilt ist. Und dieses räuberische Interesse legte sich die edle Maske „des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen“ an. Die kapitalistische Gendarmerie, die weiße Garde und die Polizei, die nach Wilsons Plan überall die Revolution zu würgen hätte, wurde unter der Phrase der Strafe für „Friedensbruch“ aufgestellt. Im Jahre 1919 wurden plötzlich alle Imperialisten friedliebend und erklärten unter ungeheurem Geheul, daß die wirklichen Imperialisten und Gegner des Friedens – die Bolschewiki seien. Hier verbarg sich die direkte Erwürgung der Revolutionäre hinter der Maske der „Friedensliebe“ und der „Demokratie“.

Der „Völkerbund“ hat sich auch tatsächlich schon als internationaler Gendarm und Henker erwiesen. Seine Vollstrecker haben die ungarische Räterepublik in Ungarn und der Slowakei erdrosselt. Sie suchen fortwährend das russische Proletariat zu erwürgen: die englischen, amerikanischen, japanischen, französischen und andere Heere gingen im Norden und im Süden, im Westen und im Osten Rußlands zusammen mit den Henkern der Arbeiterklasse vor. Selbst Negersklaven ließ der „Völkerbund“ auf die russischen und ungarischen Arbeiter los (Odessa, Budapest). Welche Stufe der Niedertracht der „Völkerbund“ erreichen kann, sehen wir z.B. daraus, daß die „zivilisierten“ Räuber in Handschuhen einen „Mörderbund“ unterhielten, mit dem General Judenitsch an der Spitze, dem Haupte der sogenannten „nordwest-russischen Regierung“. Der Völkerbund hetzt Finnland, Polen usw. gegen Sowjetrußland auf, organisiert mit Hilfe von Konsuln der fremden Mächte Verschwörungen: seine Agenten sprengen Brücken, werfen Bomben auf Kommunisten usw. Es gibt keine Niedertracht, deren der „Völkerbund“ nicht fähig wäre.

Je stärker der Ansturm des Proletariates ist, desto enger schließt sich die Kapitalistenbande zusammen. Im Kommunistischen Manifest 1847 schrieben Marx und Engels: „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot [43], französische Radikale und deutsche Polizisten.“ Seit jener Zeit sind viele Jahre verstrichen. Das Gespenst des Kommunismus wird zu Fleisch und Blut. Und gegen sie zieht nicht nur das „alte Europa“, sondern die ganze kapitalistische Welt zu Felde. Der „Völkerbund“ wird jedoch nicht imstande sein, seine beiden Aufgaben zu vollenden: die Organisation der ganzen Weltwirtschaft zu einem einzigen Trust und die Erwürgung der aufflammenden Weltrevolution. Unter den Großmächten selbst herrscht keine volle Einigigkeit. Amerika und Japan stehen einander feindlich gegenüber und beide Mächte setzen ihre Rüstungen fort. Es wäre lächerlich, zu glauben, daß das zermalmte Deutschland freundschaftliche Gefühle zu den „uneigennützigen“ Räubern der Entente hegen könnte. Es bleibt also auch hier ein Riß offen. Die Kleinstaaten bekriegen sich gegenseitig. Aber noch wichtiger ist, daß in den Kolonien Aufstände und Kriege beginnen: in Indien, in Ägypten, in Irland usw. Die unterjochten Länder erheben sich gegen ihre „zivilisierten“ europäischen Unterdrücker. Den Bürger- und Klassenkrieg, den das Proletariat gegen die imperialistische Bourgeoisie führt, schließen sich die Aufstände in den Kolonien an, welche die Herrschaft des Weltimperialismus mit untergraben und vernichten. Das imperialistische System kracht also einerseits unter dem Drucke des sich erhebenden Proletariats, den Kriegen der proletarischen Republiken, den Aufständen und Kriegen der durch den Imperialismus unterjochten Nationen, andererseits infolge der Gegensätze und Uneinigkeiten unter den kapitalistischen Großmächten. Statt des „dauerhaften Friedens“ – völliges Chaos; statt der Bändigung des Weltproletariats – erbitterter Bürgerkrieg. In diesem Bürgerkriege wachsen die Kräfte des Proletariats, indes die Kräfte der Bourgeoisie abnehmen. An seinem Ende steht unabwendbar der Sieg des Proletariats.

Der Sieg der proletarischen Diktatur kann aber keineswegs ohne Opfer errungen werden. Der Bürgerkrieg erfordert, so wie jeder andere Krieg, Opfer an Menschen und materiellen Gütern. Jede Revolution ist mit solchen Kosten verbunden. Es wird darum in den ersten Zeiten dieses Bürgerkrieges die durch den imperialistischen Krieg hervorgerufene Zerrüttung sich da und dort noch mehr verschärfen. Denn die besten Arbeiter müssen statt zu arbeiten und die Produktion zu organisieren, mit dem Gewehr in der Hand an der Front stehen und sich gegen die Grundbesitzer und Generäle verteidigen; darunter leidet natürlich das Fabriksleben. Doch das ist in jeder Revolution unvermeidlich. In der bürgerlichen französischen Revolution in den Jahren 1789–1793 [44], in der die Bourgeoisie, die französischen Gutsbesitzer stürzte, hatte der Bürgerkrieg große Zerstörungen zur Folge. Nach der Niederwerfung des feudalen (adeligen) Gutsbesitzes aber begann Frankreich rasch emporzusteigen.

Es wird jeder einsehen, daß In einer solch ungeheueren Revolution, wie es die Weltrevolution des Proletariats ist, in der die im Laufe von Jahrhunderten aufgerichtete Gesellschaftsordnung der Unterdrückung zusammenbricht, die Opfer der Revolution besonders groß sein müssen. Der Bürgerkrieg wird heute im Weltmaßstabe geführt; zum Teile geht er in einen Krieg zwischen den bürgerlichen und proletarischen Staaten über. Die proletarischen Staaten, die sich gegen die Räuberimperialisten verteidigen, führen einen Klassenkrieg, der heilig ist. Er erfordert aber Blutopfer. Und je weiter der Krieg um sich greift, desto mehr Opfer fallen, desto mehr schreitet die Zerrüttung fort.

Die Kosten einer Revolution können jedoch keineswegs als Beweisgrund gegen diese Revolution angesehen werden. Die im Laufe von Jahrhunderten aufgerichtete kapitalistische Ordnung hat zudem das ungeheuerliche imperialistische Menschengemetzel heraufbeschworen, in dem Meere von Blut vergossen wurden. Welcher Bürgerkrieg kann sich mit dieser wilden Zerstörung und Vernichtung aller von der Menschheit aufgehäuften Güter vergleichen? Die Menschheit muß ein für allemal mit dem Kapitalismus ein Ende machen. Um dessentwillen lohnt es sich, die Zeit der Bürgerkriege durchzuhalten, dem Kommunismus den Weg zu bahnen, der alle Wunden heilen und die Entwicklung der Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaft schnell vorwärts bringen wird.

 

 

§ 34. Allgemeine Auflösung oder Kommunismus?

Die sich entwickelnde Revolution wird aus denselben Gründen zu einer Weltrevolution, aus welchen der imperialistische Krieg zum imperialistischen Weltkrieg wurde. Alle wichtigen Länder sind miteinander verknüpft, stellen Glieder der Weltwirtschaft dar, wurden in den Krieg verwickelt und durch diesen Krieg auf besondere Weise miteinander verbunden; in allen Ländern verursachte der Krieg furchtbare Verheerungen, führte er zur Hungersnot, zur Knechtung des Proletariats, zur allmählichen Zersetzung und zum Verfall des Kapitalismus, zur Auflösung der Knütteldisziplin in der Armee, in den Fabriken und Werken. Und mit derselben unerbittlichen Unabwendbarkeit führt er zur kommunistischen Revolution des Proletariats.

Haben einmal die Auflösung des Kapitalismus und die kommunistische Revolution begonnen, so können sie durch nichts aufgehalten werden. Jeder Versuch, die menschliche Gesellschaft in die alten kapitalistischen Bahnen zu lenken, ist im voraus zum vollen Mißerfolg verurteilt. Das Bewußtsein der proletarischen Massen hat eine solche Höhe erreicht, daß sie für das Kapital und seine Interessen, für die Erweiterung und Unterdrückung von Kolonien usw. weder arbeiten noch einander morden wollen und werden. Heute ist es unmöglich, in Deutschland die Armee Wilhelms wiederherzustellen. Und so wie es unmögüch ist, die imperialistische Disziplin im Heere wiederherzustellen, indem man den proletarischen Soldaten zwingt, sich dem Joch des adeligen (feudalen) Generals zu unterwerfen, ist es nicht möglich, die kapitalistische Arbeitsdisziplin wiederherzustellen und den Arbeiter zu zwingen, für den Kapitalisten oder Gutsbesitzer zu arbeiten. Die neue Armee kann nur vom Proletariat geschaffen, die neue Arbeitsdisziplin nur durch die Arbeiterklasse verwirklicht werden.

Es ist jetzt nur eines möglich: entweder allgemeiner Verfall, völliges Chaos, weitere Verwilderung, Unordnung und Anarchie oder Kommunismus. Alle Versuche, den Kapitalismus in einem Lande aufzurichten, wo die Massen schon einmal im Besitze ihrer eigenen Macht waren, bestätigen das. Weder die finnische Bourgeoisie, noch die ungarische, weder Koltschak noch Denikin, noch Skowpadsky [45] waren imstande, das wirtschaftliche Leben in Gang zu bringen, sie vermochten selbst nicht ihre eigene blutige Ordnung aufzurichten.

Der einzige Ausweg für die Menschheit ist der Kommunismus. Und da er nur durch das Proletariat verwirklicht werden kann, so ist dasselbe heute der wahre Retter der Menschheit vor den Schrecknissen des Kapitalismus, vor der barbarischen Ausbeutung, vor der Kolonialpolitik, vor stehenden Heeren, Hungersnot, Verwilderung und Vertierung, und allem, was das Finanzkapital und der Imperialismus an Schrecklichem mit sich geführt haben. Darin liegt die große historische Bedeutung des Proletariats. Es kann in einzelnen Schlachten, ja selbst in einzelnen Ländern Niederlagen erleiden, doch sein Sieg ist ebenso unabwendbar, wie der Untergang der Bourgeoisie unvermeidlich ist.

Aus dem Vorangeführten geht klar hervor, daß Gruppen, Klassen und Parteien, die an die Wiederherstellung des Kapitalismus denken oder glauben, daß jetzt die Zeit für den Sozialismus nicht gekommen sei, in Wirklichkeit eine kontrerevolutionäre, eine reaktionäre Rolle spielen, ob sie es wollen oder nicht, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Dazu gehören alle Parteien der Verständigung-Sozialisten. Darüber siehe auch das folgende Kapitel.

 

 

Literatur

L. Kamenew: Das ökonomische System des Imperialismus
N. Lenin: Der lmperialismus als die neueste Etappe des Kapitalismus
N. Bucharin: Die Weltwirtschaft und der Imperialismus
G. Ziperowitsch: Syndikate und Trusts in Rußland
N. Lekin (Antonow): Der Militarismus
Pawlowitsch: Was ist Imperialismus?
Pawlowitsch: Die großen Eisenbahnwege
Pawlowitsch: Der Militarismus und Marinismus
Pawlowitsch: Die Ergebnisse des Weltkrieges

Ein grundlegendes, aber schwer zu lesendes Werk ist:
Das Finanzkapital von R. Hilferding

Außerdem siehe folgende Bücher:
K. Kautsky: Der Weg zur Macht
Kerschenzew: Der englische Imperialismus
Losowsky: Eisen und Kohle (der Kampl um Elsaß-Lothringen)
G. Sinowjew: Österreich und der Weltkrieg
Pokrowsky: Frankreich zur Zeit des Krieges
Cheraskow: England zur Zeit des Krieges
M Lurie (Larin): Das Sieger-Land
Derselbe: Die Folgen des Krieges
G. Sinowjew: Dreibund und Dreiverband
A. Lomow: Die Auflösung des Kapitalismus und die Organisation des Kommunismus
N. Osinsky: Der Aufbau des Sozialismus (erstes Kapitel)

Außerdem sei noch auf den Roman Jack Londons: Die eiserne Ferse verwiesen.

 

 

Anmerkungen

35. Die Pariser Kommune von 18. März-28.Mai 1871 war das erste Mal in der Geschichte, wo die revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse zu einer Arbeiterregierung führten. Trotz der vielen Fehler der Kommune (z.B. sie hat nicht die Banken ergriffen und den Kampf gegen das kapitalistische Versailler Regime offensiv durchgesetzt) hat Marx den Versuch in seiner berühmten Broschüre Der Bürgerkrieg in Frankreich verteidigt. Sie wurde nach einem heldenhaften Widerstand des Pariser Proletariats blutig niedergeschlagen.

36. Louis-Adolphe Thiers (1797-1877): französischer Staatsmann und Politiker, Orleanist; Ministerpräsident (1836 und 1840); 1848 Deputierter der Konstituierenden und 1849-51 der Gesetzgebenden Versammlung; erster Präsident der Dritten Republik (1871-73); Henker der Pariser Kommune.

37. Die Einberufung der Konstituante oder Konstituierenden Versammlungwurde von der Provisorischen Regierung in einer am 2. (15.) März 1917 veröffentlichten Deklaration bekanntgegeben, die Wahlen waren für den 17. (30.) September 1917 angesetzt. Kurz darauf wurden sie auf den 12. (15.) November verschoben. Die Konstituierende Versammlung wurde von der Sowjetregierung am 5. (18.) Januar 1918 eröffnet. Die Wahlen erfolgten nach Listen, die vor der Oktoberrevolution aufgestellt waren. Da die Konstituierende Versammlung ablehnte, die Deckte des II. Sowjetkongresses über den Frieden, über den Grund und Boden und über den Übergang der Macht an die Sowjets zu bestätigen, wurde sie am 6. (19.) Januar 1918 ohne jeglichen Widerstand aufgelöst.

38. Am 21. März 1919 wurde die Räterepublik in Ungarn ausgerufen. Sofort marschierten die Tschechoslowakei und Rumänien in Ungarn ein. Bis November 1919 wurde die revolutionäre Regierung nidergeschlagen und eine Diktatur unter Admiral Horthy wurde eingesetzt.

39. P.N. Kraßnow (1869-1947): General der zaristischen Armee; aktiver Teilnehmer des Kornilow-Putsches im August 1917; 1918-19 Befehlshaber der weißen Kosakenarmee am Don; flüchtete 1919 ins Ausland; arbeitete mit den Nazis zusammen während des Zweiten Weltkriegs; nach dem Krieg von den Russen hingerichtet.

40. Gemeint ist der konterrevolutionäre Aufstand des Tschechoslowakischen Korps, der von den Imperialisten der Entente entfacht wurde. Das Tschechoslowakische Korps wurde in Rußland bereits vor der Oktoberrevolution aus kriegsgefangenen Tschechen und Slowaken, Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee, aufgestellt. Entsprechend einer Vereinbarung mit der Sowjetregierung, wurde dem Korps die Genehmigung erteilt, nach Abgabe der Waffen Rußland über Wladiwostok zu verlassen. Doch die konterrevolutionäre Führung provozierte Ende Mai 1918 einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetregierung. Die Aufständischen wirkten im engen Kontakt mit den Weißgardisten und besetzten einen bedeutenden Teil des Ural, des Wolgagebiets und Sibiriens, wo sie die Macht der Bourgeoisie wiederherstellten. Viele Soldaten des Korps überzeugten sich vom Betrug des Kommandos, flüchteten aus dem Korps und weigerten sich, gegen die Revolution zu kämpfen. Etwa 12.000 Tschechen und Slowaken kämpften in den Reihen der Roten Armee. Im Jahre 1919 wurde der Aufstand des Tschechoslowakischen Korps niedergeschlagen.

41. Semen W. Petljura (1877-1926): einer der Führer der ukrainischen Nationalisten; während der ausländischen Intervention und des Bürgerkriegs einer der Anführer der Konterrevolution in der Ukraine. – Jósef Pilsudski (1867-1935): als Student nach Sibirien wegen eines angeblich geplanten Attentats auf den Zaren Alexander III. verbannt; nach seiner Wiederkehr 1892 gründete er die Polnische Sozialistische Partei (PPS); diese Partei verfolgte aber eher eine nationalistische Politik; interniert 1917 von Zentralmächten, befreit 1918 von den deutschen Revolutionären; kehrte nach Warschau zurück und wurde zum Chef der neuen Polnischen Republik; März 1920 griff er Sowjetrußland an, von der Roten Armee Juni 1920 zurückgeschlagen (der Versuch der Roten Armee, Polen zu erobern, scheiterte aber vor den Toren Warschaus); trat 1923 zurück; führte im Mai 1926 einen Putsch und wurde zum Militärdiktator Polens bis zu seinem Tod.

42. Völkerbund: internationale Organisation, die in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bestand. Er wurde im Jahre 1919 auf der Versailler Friedenskonferenz der Siegermächte des Ersten Weltkriegs gegründet. Die, Satzung des Völkerbundes mußte den Anschein erwecken, als ob diese Körperschaft das Ziel hatte, gegen die Aggression, für die Abrüstung und für die Festigung des Friedens und der Sicherheit zu kämpfen. In Wirklichkeit aber übten die Führer des Völkerbundes Nachsicht mit den Aggressoren, förderten das Wettrüsten und die Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs.

43. Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773-1859): ösaterreichischer Staatsmann und Diplomat; Außenminister (1809-21) und Staatskanzler (1821-48); ein Begründer der Heiligen Allianz; wurde zum Rücktritt durch die Revolution von 1848 gezwungen. – François-Pierre-Guillaume Guizot (1787-1874): französischer Historiker und Staatsmann, Orleanist; leitete 1840-48 die Innen- und Außenpolitik Frankreichs; vertrat die Interessen der großen Finanzbourgeoisie; wurde zum Rücktritt von der Revolution von 1848 gezwungen.

44. Die bürgerliche französische Revolution in den Jahren 1789-1793

45. Skowpadsky

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003