Nikolai Bucharin

 

Die eiserne Kohorte der Revolution

(1922)


Aus Russische Korrespondenz, 1922, Jahrg.3., Nr.11/12, S.729-732.
Nachgedruckt in Karl-Heinz Neumann (Hrsg.), Marxismus Archiv, Bd.I, Marxismus und Politik, Frankfurt/M. 1971, S.268-271.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Seit fünf Jahren besitzt das russische Proletariat die Macht, und selbst seine Gegner sehen, daß sich diese Macht festigt, mächtige, unterirdische Wurzeln ausschickt und durch sie den aufgelockerten russischen Boden erfaßt, das russische Voll< umgestaltet; mit der eisernen Hand eines Riesen führt es Millionen Menschen auf dornigem, blutigem Wege, durch Draht- verbaue, durch das Trommelfeuer des Feindes, über die Hungersteppe zum leuchtenden Sie der geeinten Menschheit.

Wie hat sich dieses historische Wunder vollzogen, auf das das Kleinbürgertum der ganzen Welt mit vor Staunen aufgesperrtem Munde oder in machtloser Wut blickt?

Selbstverständlich sind hier die „Schuldigen“ in erster Linie die allgemeinen historischen Umstände, innerhalb derer die schwarzen Arbeitsbataillone mit eisernem Tritt einherschritten und das verhaßte alte Regime stürzten. Die Geschichte gab der russischen Arbeiterschaft außergewöhnlich günstige Bedingungen für seinen Sieg: die durch den Krieg zerrüttete Maschine des russischen Selbstherrschertums; eine schwache Bourgeoisie, die sich die imperialistischen Reißzähne noch nicht schärfen konnte und dumm genug war, während des Krieges die Kräfte des Zarismus zu desorganisieren; mächtige, elementare Schichten der Bauernschaft, die sich „noch nicht zum Patriotismus durchgefunden hatten“, mit wildem Haß auf den Gutsbesitzer blickten und ungestüm die von dem Schweiß der Bauern getränkte Erde forderten. Das verlieh dem proletarischen Adler den Sieg, er breitete seine jungen Schwingen aus und stieg zum Himmel auf.

Aber zu diesen Bedingungen kam noch etwas dazu: das Vorhandensein einer beispiellos heroischen, eisernen Kohorte der Revolution, unserer Partei, einer Partei, die in der Geschichte der großen Klassenkämpfe einzig dasteht. Die Partei, die durch die harte Schule der illegalen Arbeit gegangen war, die im Pulverkampfe ihren Klassenwillen gestählt, in Qualen, Entbehrungen und Leiden ihre Söhne genährt und herangezogen und die Arbeiterrecken auf den Plan gestellt hatte, denen es vorbehalten blieb, die ganze Welt umzugestalten und zu erobern ...

Zum Verständnis dessen, wie eine solche Partei entstehen konnte, muß man einen flüchtigen Blick auf gewisse Grundzüge ihrer Entwicklung werfen.

Vor allem einige Worte über ihren Generalstab. Jetzt erkennen sogar schon unsere Gegner an, daß wir eine erstklassige Führung haben. Einer der bedeutendsten Ideologen der deutschen Bourgeoisie, Graf Keyserling, schreibt in seinem Buche Wirtschaft, Politik, Weisheit, daß sich die Stärke Sowjet-Rußlands „ausschließlich“ daraus erkläre, daß Rußland Führer habe, die sämtlichen Führern der bürgerlichen Länder weit überlegen sind. Das ist natürlich eine Übertreibung: „ausschließlich“ beruht unsere Sache nicht darauf. Daß viel dadurch erklärt wird, ist zweifellos. Aber woher kommt dies? Es kommt von einer sorgfältigen Auswahl der Führer, einer Auswahl, die ihre wirkliche Qualifikation, ihre absolute Gefestigtheit und Willenseinheit garantiert Diese Losungen bilden das Fundament der Parteileitung, und hier verdankt die Panel dem Genossen Lenin sehr viel. Das, was die Philister des Opportunismus als „Antidemokratie, Verschwörertum, persönliche Diktatur, beschränkte Unduldsamkeit“ usw. verschrien, war in Wirklichkeit ein ausgezeichnetes Organisationsprinzip. Die Bildung einer Gruppe Einmütiger, einzig und allein für die revolutionäre Idee brennender und dabei gänzlich in ihren Ansichten übereinstimmender Menschen, bildete die erste notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Kampf. Diese Bedingung wurde durch die schonungslose Verfolgung aller Abweichungen vom orthodoxen Bolschewismus sichergestellt. Und diese beständige Selbstreinigung ballte die Reihen dieser innersten Parteigruppe zu der Faust, die keine Gewalt lösen konnte.

Dann scharten sich um diese Faust die ersten Parteicadres. Die harte Disziplin des Boschewismus, die spartanische Gefestigtheit seiner Reihen, das strenge „Fraktionsprinzip“ selbst in Zeiten der Zusammenarbeit mit den Menschewiki, die außerordentliche Einheitlichkeit der Anschauungen, die Zentralisierung der ganzen Reihen waren stets die charakteristischesten Züge unserer Partei. Die gesamten Parteiarbeiter waren der Partei bis aufs letzte ergeben: der „Parteipatriotisnius“, die ausschließliche Hingabe an die Durchführung der Parteiweisungen, der erbitterte Kampf mit feindlichen Gruppierungen, der überall, in den Fabriken und Betrieben, auf offenen Versammlungen und in den Klubs und selbst im Gefängnis geführt wurde, machten aus unserer Partei einen eigenartigen revolutionären Orden. Das war auch der Grund, weshalb der Typ des „Bolschewiken“ allen liberalen und reformistischen Gruppen, allen „Weichen“, „Weitherzigen“, „Duldsamen“ so unsympathisch war. Und ebenso wurde von den Parteimitgliedern ständig Parteiarbeit in den Massen gefordert, Arbeit unter jeder Bedingung ohne Rücksicht auf Schwierigkeiten. Gerade bei diesem Punkte begannen die ersten Differenzen mit den Menschewiki, aber gerade von hier nahm die Auswahl der Cadres ihren Anfang. Nicht aus Schwätzern, nicht aus „sympathisierenden Intellektuellen“, nicht aus Mitläufern, die heute hier und morgen dort sind, sondern aus Leuten, die bereit sind, für die Revolution, für das Weitertragen des Kampfes, für den Sieg der Partei überall hinzugehen: ins Zuchthaus, auf die Barrikaden, in die Verbannung, und die sich nicht scheuen, beständige Unrast und Verfolgung auf sich zu nehmen: aus ihnen fügte sich der zweite Ring unserer Partei zusammen: die ersten Cadres der bolschewistischen Arbeiter.

Aber bei all dem war unsere Partei doch nie eine Sekte, die sich abschloß und in ihrem eigenen Saft kochte. Man muß dies mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Sie sah niemals in sich einen Selbstzweck, sondern das stählerne Instrument, das die Masse umformt und festigt und das ihr Gestalt gibt. Die ganze Kunst der politischen Dialektik besteht darin, daß, wenn man gefestigte und geschlossene Reihen besitzt, man sich nicht in sich abschließt, nicht zur Sekte wird, sondern eine wirklich vorwärtstreibende Kraft bleibt, die die gigantischen Räder des Mechanismus der ganzen Klasse und der ganzen Masse der Arbeitenden in Bewegung setzt. Und hier beweist die Geschichte der Partei, und besonders die Geschichte ihrer revolutionären Perioden, wie richtig sich die Partei zu den Fragen der Masse verhalten hat. Wer hat am energischsten von allen unter den Soldaten des imperialistischen Heeres gearbeitet, auf die Gefahr hin von den Offizieren erschossen zu werden? Der Bolschewik. Wer hat unermüdlich agitiert und organisiert? Der Bolschewik. Er ließ sich keine einzige Möglichkeit der Einwirkung auf die Massen entgehen, er nützte die zaristische Duma und die Gewerkschaften aus, die Massenversammlungen und den Klub, die Sonntagsschule und den Speisesaal der Fabrik, überall und allenthalben war der allgegenwärtige Bolschewik.

So fügte sich der dritte und vierte Ring zusammen, der schon über den Rahmen der Partei hinausging: ein Ring von Arbeiterorganisationen, die unter dem Einfluß der Partei standen, und der Ring der ganzen Klasse und Masse, den die Avantgarde der Partei durch die Organisationen führte.

Wir müssen nun bei einigen Details unserer Parteipolitik verweilen, die ebenfalls eine Erklärung für die gewaltigen Erfolge der Russischen Kommunistischen Partei geben.

Vor allem war es die theoretische marxistische Konsequentheit. Nicht umsonst erklärte nach der Frühlingskrise 1921 Herr Martow das Weiterbestehen der bolschewistischen Diktatur damit, daß die Partei „eben doch eine marxistische Schule gehabt habe“. Ja, die Partei hatte eine gute, marxistische Schule gehabt. Das theoretische Voraussehen des Ganges der Ereignisse, die Analyse der Klassengruppierungen, „das Rechnen mit Millionen“, das, wie es Genosse Lenin treffend bezeichnet, das Wesen der Politik ausmacht, alles das charakterisiert unsere Parteileitung auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe. Aber hier muß man eine spezifische Eigenschaft anführen, die vor allem im Genossen Lenin personifiziert ist, als dem anerkannten Leiter der ganzen Partei. Nie war der Marxismus bei uns zu einem toten Dogma geworden, sondern stets war er ein lebendiges Werkzeug der Praxis gewesen. Nicht der Buchstabe, sondern der Geist, nicht Scholastik und Talmudismus, sondern das geniale Verstehen der marxistischen Dialektik als einer Waffe im praktischen Kampfe. Wir haben marxistisches Wissen, aber keine „marxistischen“ Vorurteile. Wir beherrschen das gewaltige Instrument, aber es beherrscht nicht uns. Und dieser lebendige, revolutionäre Marxismus läßt uns in der Tat Wunder verrichten.

Stets herrschte die größte taktische Elastizität. Die überwiegende Mehrzahl der politischen Fehler besteht in der Übertragung von Methoden, die unter bestimmten Umständen richtig waren, auf andere Umstände, wo sie schädlich wirken. Das Nichtverstehen der Konkretheit der Umstände und folglich der Notwendigkeit der größten Konkretheit in der Taktik verursacht die gute Hälfte aller politischen Fehler. Aber gerade hier kann sich unsere Partei als mustergültig bezeichnen.

Sie verstand es, außerordentlich duldsam zu sein, wenn man mit den „gutgläubigen“ Irrtümern der Masse rechnen mußte. Wir erinnern uns dabei an die Periode unmittelbar nach der Februarrevolution, als man sich „duldsam zeigen“ und mit der größten Ausdauer versuchen mußte, die Massen unter seinen Einfluß zu bringen.

Aber ebenso verstand sie es beispiellos kühn und entschlossen zu sein und unerhört rasch zu handeln. So war die Partei in den Oktobertagen. Damals stellte die Geschichte die Partei an das Stauwehr. Es handelte sich darum, nüchtern die ganze Lage zu beurteilen, aber sich dann an das Stauwehr zu stürzen, um die gigantische Flut losrauschen zu lassen. Die kleinste Verzögerung, jedes Schwanken, jede Unentschlossenheit wäre verderblich gewesen. Der größte Wagemut war erforderlich, eine beispiellose Kühnheit und Entschlossenheit. Die Partei stürzte sich an das Stauwehr und ergriff die Macht.

Aber sie verstand es auch, das Steuerruder herumzuwerfen, wenn es nötig war. Dieser Teil der Parteipolitik ist besonders lehrreich. Wenn wir uns daran erinnern, wie sich die Partei auf die Bauernschaft stützte, das bäuerliche, von den Sozialrevolutionären hinterlassene Programm wörtlich übernahm; oder wie sie das Partei- und damit zugleich das Staatsruder 1921 herumwarf, als wir vom „Kriegskommunismus“ zur „neuen ökonomischen Politik“ übergingen, dann reichen diese beiden Beispiele aus, um die Elastizität der Parteipraxis zu begreifen, die ihren ganzen Realismus mit einem überzeugten Vorwärtsschreiten zu unserem endgültigen Ziel vereinigte.

Die Arbeiterklasse kann im Rahmen des Kapitalismus nicht so erstarken, daß sie gänzlich reif zur Leitung der Gesellschaft wäre. Die Arbeiterklasse ist vom Kapitalismus unterdrückt und unterjocht. Wenn sie sich in ihrer ganzen Größe aufrichtet, so kann sie nur die kapitalistische Umhüllung der Gesellschaft abwerfen. Aber erst in der Periode ihrer Diktatur werden ihre Kräfte reif, organisiert sie ihren Verwaltungsapparat und wächst zum wirklichen „Leiter der Gesellschaft“ heran. Hier in dieser Periode „gestaltet sie ihre eigene Natur um“, der Sklave verwandelt sich in den Führer und Schöpfer. Diese gewaltige Arbeit fordert die größte Kräfteanspannung, sowohl von der ganzen Masse, als von ihrem Klassenvortrupp. Unsere Partei kann stolz sein: sie schuf ihre Regimentskommandeure aus Roten Soldaten, sie schuf ihre Verwaltungsbeamten aus Arbeitern und ebenso begründete sie ihre Cadres an der kulturellen Front des Wirtschaftskampfes. Die neue Generation, die heranwachsende Jugend tritt schon in das riesige Laboratorium des Sowjetstaates ein. Nachdem wir den schrecklichen Bürgerkrieg, Hunger und Seuche hinter uns haben, ersteht das große Rote Land und die Siegestrompeten rufen die Arbeiterklasse der ganzen Welt, die Kolonialsklaven und Kulis zum Kampf auf Leben und Tod mit dem Kapitalismus. Vor dieser unzähligen Armee marschiert die heldenhafte Phalanx der Kämpfer, bedeckt mit Narben und Schrammen, unter den ruhmreichen Feldzeichen. Sie schreitet vor allen einher, ruft alle und führt alle an.

Denn sie ist die eiserne Kohorte der proletarischen Revolution, – die Russische Kommunistische Partei.

 


Zuletzt aktualisiert am 24.8.2003