Tony Cliff

 

Staatskapitalismus in Rußland

 

Einleitung

Das bedeutendste Ereignis in der Geschichte des Sozialismus war ohne Zweifel die russische Revolution. Zum ersten Mal zeigt sich eine moderne Arbeiterklasse als bewußter Herr über das Schicksal der Gesellschaft, zum ersten Mal griff sie bewußt in einen politischen Kampf ein, um ihre Lebensbedingungen selbst zu bestimmen.

Im Verlaufe dieses Eingriffs entwickelte die russische Arbeiterklasse Kampfmethoden, Formen der Selbstmobilisierung und der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, die seitdem beispielhaft für das Proletariat der übrigen Welt sind. Diese „Lehren des Oktober“, verkörpert in den konkreten Formen der Rätedemokratie, der Kontrolle der Arbeiter über den Staat durch eine Arbeitermiliz, sind unabdingbare Erfahrungsquellen für die Klasse, die den Sozialismus erringen will. Obwohl einige dieser Formen rudimentär geblieben sind, ist ihre Kenntnis von unschätzbarer Bedeutung für die Beurteilung der Schwierigkeiten, die sich der Arbeiterklasse auf dem Weg zum Sozialismus stellen, und um die Methoden für die Überwindung dieser Schwierigkeiten zu finden.

Aber wenn die Revolution von 1917 so bedeutsam für die Arbeiterklasse ist, weil sie den Weg von möglicher zu wirklicher Macht aufzeigt, so ist ihre ist spätere Degeneration noch bedeutsamer, weil sie zur Ursache der tiefsten Verwirrung im Denken der Arbeiterklasse wurde, die je existierte.

Das Kernproblem des nachrevolutionären Rußland ist die strittige Frage nach der proletarischen Politik. Ist das stalinistische Rußland ein sozialistischer Staat oder nicht? Ist dieses monströse Zerrbild einer Demokratie, mit seinen Massensäuberungen und Schauprozessen, das zwangsläufige Ende des demokratischsten Kampfes, der geführt werden kann, der proletarischen Revolution? Wie lassen sich die gegen die Arbeiterklasse gerichteten Aktivitäten der kommunistischen Parteien in der ganzen Welt erklären, von ihrer Agitation für einen imperialistischen Krieg unter dem Slogan des Antifaschismus bis zur allseitigen Sabotage eben dieses Krieges während des Hitler-Stalin-Paktes; von ihrer Kollaboration mit den Kapitalisten beim Abwürgen von Streiks, als sie den Krieg dann wieder unterstützten, zu ihrer Kollaboration mit denselben Kapitalisten in der Nachkriegszeit, als sie dem revolutionären Proletariat auf dem europäischen Kontinent das Rückgrat brachen; von ihrer enthusiastischen Unterstützung des Einsatzes der Atombombe im Jahr 1945 zu der „moralischen“ Verurteilung der atomaren Kriegsführung zehn Jahre später? Wie soll man die Tatsache aus der Welt schaffen, daß das militanteste Proletariat in Europa, die deutsche Arbeiterklasse, die die besten Voraussetzungen hat, die Arbeit eines „kommunistischen“ Regimes zu beurteilen, sich gerade am wenigsten zu den Repräsentanten dieses Regimes, der Kommunistischen Partei Deutschlands, hingezogen fühlt? Wie ist die

Tatsache zu erklären, daß die ungarischen Arbeiter zu den Waffen greifen mußten, um ihre Freiheit gegen russische Panzer zu verteidigen? Diese und ähnliche Fragen lassen sich nur beantworten, wenn die Charakteristika des stalinistischen Regimes in Rußland richtig verstanden werden. Und nur auf der Basis dieser Kenntnisse kann der Kampf für den Sozialismus weitergehen.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu versuchen und dazu beizutragen, den Schlüssel zu einem solchen Verständnis zu finden. Der Autor zeigt, daß auch nach einer siegreichen proletarischen Revolution ein rückständiges Land wie Rußland, isoliert durch die Niederlagen der sozialistischen Revolutionen in Europa, unter ständiger Bedrohung durch einen imperialistischen Angriff nur existieren kann, wenn es seine militärische Stärke der seiner Feinde angleicht. Militärische Macht aber kann nur durch massive Investitionen erreicht werden. Das bedeutet unter den Bedingungen der Rückständigkeit: Zwangssparen, Einschränkungen im Konsum der Massen, maximale Auspressung von Mehrwert aus den Arbeitern, um Kapital zu akkumulieren. Aber um Mehrwert herauszupressen, müssen die Verantwortlichen dieses Prozesses außerhalb der Kontrolle der ausgebeuteten Massen stehen, es muß Klassenunterschiede geben; die Arbeiterdemokratie, die die Oktoberrevolution in die Welt gesetzt hatte, mußte zerschlagen werden. Die Revolution mußte verraten werden, um das System des Staatskapitalismus aufzubauen.

Einmal errichtet und konsolidiert, verhält sich die herrschende Klasse des staatskapitalistischen Systems wie jede andere herrschende Klasse: sie verteidigt ihre angeeigneten Privilegien gegen jene, von denen sie sie usurpiert hat, gegen die Arbeiter; sie gebraucht ihr Monopol über die Mittel der Massenerziehung und -propaganda, um sich gegenüber der eigenen und anderen Arbeiterklassen zu rechtfertigen und um sich die drohende Gefahr des proletarischen Bewußtseins vom Leibe zu halten; sie bedient sich der Arbeiterklasse so oft sie kann in ihren Kämpfen mit anderen konkurrierenden herrschenden Klassen und ist in der Lage, dies wirkungsvoller als irgendeine andere herrschende Klasse in der Welt zu tun. Sie hat diese Möglichkeiten durch die historischen Bedingungen ihrer Entstehung aus einer proletarischen Revolution und deren späteren Isolierung, die das Regime jeder genaueren Untersuchung entzog.

Das vorliegende Werk beschränkt sich jedoch nicht auf eine Analyse der Entstehung und des Charakters des russischen Staatskapitalismus, es versucht ebenso die Bewegungsgesetze dieses Systems aufzuzeigen, nachdem es einmal entstanden ist.

Es erübrigt sich festzustellen: Wenn die Niederlage der europäischen Arbeiterklasse die bedeutendste Einzelursache für die Niederlage der russischen Revolution war, so könnte ein entschlossener Kampf derselben Arbeiterklasse den Anstoß für eine neue und größere Auflage der russischen Revolution geben, eine Revolution, die unter den gegenwärtigen Umständen eine festgefügte sozialistische Gesellschaft in diesem Lande als Teil einer sozialistischen Welt begründen würde.

Dies ist das eine Thema von Cliffs Arbeit. Seine Methode ist die der marxistischen Analyse, eine Fortsetzung der großen Tradition der Auseinandersetzung mit den Problemen, die aus der alltäglichen Erfahrung der Arbeiterklasse erwachsen. Nur das bewußte politische Eingreifen der gesamten Arbeiterklasse kann diese Probleme lösen und gleichzeitig die Probleme der bedrohten Zivilisation. Cliffs Werk kann dazu beitragen, ein solches Bewußtsein zu entwickeln, und insofern ist es von bleibender Bedeutung. Der Leser, der in den Begriffen der Marx’schen Theorie ungeübt ist, mag einige Schwierigkeiten haben, wenn er das vorliegende Buch Seite für Seite liest. Die Kapitel V, VI und besonders VIII könnten Schwierigkeiten bereiten und sollten vom weniger geschulten Leser zuletzt gelesen werden. Leser, die einige Erfahrung im Marx’schen Denken haben, besonders wie es von Trotzki und der IV. Internationalen entwickelt worden ist, würden möglicherweise gut daran tun, ihr Studium des Hauptteils des Werkes mit dem Kapitel VII zu beginnen, das in gewisser Hinsicht als Ausgangspunkt und Leitlinie des ganzen Werkes dient.

 

 


Zuletzt aktualisiert am 18.9.2002