Tony Cliff

 

Staatskapitalismus in Rußland

 

6. Kapitel:
Weitere Betrachtung der stalinistischen Gesellschaft, Politik und Ökonomie

 

 

Nach dem Klassenbegriff der verschiedenen marxistischen Theoretiker muß die stalinistische Bürokratie als Klasse bezeichnet werden. So schreibt z.B. Lenin:

Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe ihres Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit des andern aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft. [342]

Bucharin gibt eine sehr ähnliche Begriffbestimmung: Unter einer gesellschaftlichen Klasse ist die Gesamtheit der Personen zu verstehen,

die in der Produktion die gleiche Rolle spielen, die im Produktionsprozeß im gleichen Verhältnis zu den anderen stehen, wobei diese Verhältnisse auch in den Dingen (Arbeitsmitteln) ihren Ausdruck finden. [343]

Sollten noch Zweifel über den Klassencharakter der stalinistischen Bürokratie bestehen, so braucht man sich nur Engels’ Beschreibung der Händlerklasse anzuschauen, welche nicht einmal unmittelbar am Produktionsprozeß beteiligt war. Engels schreibt:

Die Zivilisation ... fügt dazu eine dritte, ihr eigentümliche, entscheidend wichtige Arbeitsteilung: Sie erzeugt eine Klasse, die sich nicht mehr mit der Produktion beschäftigt, sondern nur mit dem Austausch der Produkte – die Kaufleute. Alle bisherigen Ansätze zur Klassenbildung hatten es noch ausschließlich mit der Produktion zu tun; sie schieden die bei der Produktion beteiligten Leute in Leitende und Ausführende oder aber in Produzenten auf größerer und auf kleinerer Stufenleiter. Hier tritt zum erstenmal eine Klasse auf, die, ohne an der Produktion irgendwie Anteil zu nehmen, die Leitung der Produktion im ganzen und großen sich erobert und die Produzenten sich ökonomisch unterwirft; die sich zum unumgänglichen Vermittler zwischen je zwei Produzenten macht und sie beide ausbeutet. Unter dem Vorwand, den Produzenten die Mühe und das Risiko des Austausches abzunehmen, den Absatz ihrer Produkte nach entfernteren Märkten auszudehnen, damit die nützlichste Klasse der Bevölkerung zu werden, bildet sich eine Klasse von Parasiten heraus, echten gesellschaftlichen Schmarotzertieren, die als Lohn für sehr geringe wirkliche Leistungen sowohl von der heimischen wie von der fremden Produktion den Rahm abschöpft, rasch enorme Reichtümer und entsprechenden gesellschaftlichen Einfluß erwirbt und eben deshalb während der Periode der Zivilisation zu immer neuen Ehren und immer größerer Beherrschung der Produktion berufen ist, bis sie endlich auch selbst ein eignes Produkt zutage fördert – die periodischen Handelskrisen. [344]

Angesichts dieser Definition ist es verständlich, warum Marx Priester, Juristen usw. als „ideologische Klassen“ bezeichnen konnte, die ein Klassenmonopol darüber ausüben, was Bucharin treffend die „geistigen Produktionsmittel“ genannt hat. Aus folgenden Gründen wäre es falsch, die stalinistische Bürokratie als Kaste zu bezeichnen: Während eine Klasse eine Gruppe von Menschen ist, die eine definitive Stellung im Produktionsprozeß innehat, ist eine Kaste eine rechtlich-politische Gruppe. Die Mitglieder einer Kaste können ganz verschiedenen Klassen angehören, ebenso wie sich eine Klasse aus Mitgliedern ganz verschiedener Kasten zusammensetzen kann. Eine Kaste ist das Ergebnis einer relativ immobilen Wirtschaft mit rigider Arbeitsteilung und stagnierenden Produktivkräften. Die stalinistische Bürokratie verwandelte sich im Gegensatz dazu auf dem Gipfelpunkt einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung in eine herrschende Klasse.

 

 

Die stalinistische Bürokratie als extreme und reine Personifikation des Kapitals

Marx schrieb:

Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert ... Aber soweit sind auch nicht Gebrauchswert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung sein treibendes Motiv. Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen ... Soweit daher sein Tun und Lassen nur Funktion des in ihm mit Willen und Bewußtsein begabten Kapitals, gilt ihm sein eigener Privatkonsum als Raub an der Akkumulation. ... Akkumuliert, Akkumuliert! ... d.h., rückverwandelt möglichst großen Teil des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital. Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen. [345]

Die Abpressung von Mehrwert und seine Verwandlung in Kapital sind die beiden grundlegenden Kennzeichen des Kapitalismus. Sie werden durch die beiden Funktionen der Produktionsleitung (Management) und der Verfügungsgewalt realisiert. Die Funktion des Managements besteht darin, den Mehrwert aus den Arbeitern herauszuholen, während die Verwandlung des Mehrwerts in Kapital durch die Verfügungsgewalt über den Mehrwert gesichert ist.

Für die kapitalistische Wirtschaft sind nur diese beiden Funktionen notwendig. Die Aktionäre erscheinen immer mehr als bloße Konsumenten eines bestimmten Mehrwertanteils. Daß die Ausbeuter einen Teil des Mehrprodukts konsumieren, ist kein besonderes Kennzeichen des Kapitalismus. Das war in allen Klassengesellschaften so. Das Spezifikum des Kapitalismus ist die Akkumulation um der Akkumulation willen mit dem Ziel, konkurrenzfähig zu bleiben.

Im kapitalistischen Unternehmen ist die Akkumulation weitgehend institutionalisiert. Das Unternehmen finanziert sich selbst, während der größte Teil der an die Aktionäre ausgeschütteten Dividenden in die Konsumtion eingeht. In einem staatskapitalistischen System, das allmählich aus dem Monopolkapitalismus hervorgegangen wäre, würden die Aktionäre hauptsächlich als Konsumenten und der Staat als Träger der Akkumulation auftreten. Je größer der Anteil des Mehrwerts, der der Akkumulation und nicht dem Konsum zufließt, desto reiner ist der Kapitalismus verwirklicht. Je mehr das Gewicht der realen Verfügungsgewalt gegenüber dem bloßen Aktienbesitz zunimmt oder, anders ausgedrückt: Je mehr die Ausschüttung von Dividenden der internen Akkumulation (Selbstfinanzierung) des Unternehmens oder des Staates untergeordnet wird, desto reiner tritt der Kapitalismus hervor.

(Jedermann weiß, daß diejenigen, die die Verfügungsgewalt über das Kapital in der Hand haben und die extreme Personifikation des Kapitals darstellen, sich die Freuden dieses Lebens nicht entgehen lassen. Aber im Vergleich zur Akkumulation ist ihr Verbrauch unerheblich und ohne grundlegende historische Bedeutung.)

Man kann deshalb sagen, daß die russische Bürokratie, die den Staat „besitzt“ und den Akkumulationsprozeß lenkt, die Personifikation des Kapitals in seiner reinsten Form darstellt. Rußland weicht allerdings von der Norm ab. Es entspricht nicht dem Modell des Staatskapitalismus, der allmählich aus dem Monopolkapitalismus hervorgeht; diese Divergenz macht aber den Begriff des Staatskapitalismus keineswegs bedeutungslos. Ganz im Gegenteil: Es ist äußerst wichtig zu sehen, daß die russische Wirtschaft sich diesem Begriff viel stärker annähert, als das bei einem staatskapitalistischen System der Fall sein könnte, das sich aus dem Monopolkapitalismus heraus entwickelte.

Die Tatsache, daß die Bürokratie den geschichtlichen Auftrag einer kapitalistischen Klasse erfüllt und im Verlauf dieses Prozesses selbst zur Klasse wird, macht sie zur reinsten Personifikation des Kapitals. Obgleich sie sich von der kapitalistischen Klasse unterscheidet, kommt sie doch deren historischem Wesen am nächsten. Die russische Bürokratie stellt auf der einen Seite eine partielle Negation der kapitalistischen Klasse dar, auf der anderen Seite repräsentiert sie die reinste Personifikation der historischen Mission dieser Klasse.

Die Kardinalfrage nach den in Rußland herrschenden Produktionsverhältnissen würde umgangen, bliebe man bei der Aussage stehen, in Rußland befände sich eine bürokratische Klasse an der Macht. Es ist völlig korrekt, Rußland als staatskapitalistisch zu bezeichnen, aber auch das reicht nicht aus. Es ist ebenso notwendig, die Unterschiede herauszuarbeiten, die in rechtlicher Hinsicht zwischen der herrschenden Klasse in Rußland und der herrschenden Klasse eines staatskapitalistischen Systems bestehen. Die präziseste Bezeichnung für die russische Gesellschaft ist deshalb der Begriff „Bürokratischer Staatskapitalismus“.

 

 

Die Form der Mehrwertaneignung durch die Bürokratie unterscheidet sich von der der Bourgeoisie

In Rußland erscheint der Staat als Unternehmer und die Bürokraten als seine bloßen Manager. Eigentums- und Managementfunktionen sind völlig getrennt. Das ist allerdings nur formal so. In Wirklichkeit verfügen die Bürokraten als Kollektiv über das Eigentum. Der Staat der Bürokraten ist der Eigentümer. Die Tatsache, daß dem einzelnen Manager die Produktionsmittel nicht zu gehören scheinen und die Aneignung seines Teils am Nationaleinkommen in Gehaltsform geschieht, mag zu der Fehleinschätzung verleiten, daß der Manager genau wie der Arbeiter nur für seine Arbeitskraft bezahlt wird. Da in jedem gesellschaftlichen Produktionsprozeß Managementfunktionen notwendig sind und sie in diesem Sinne nichts mit Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben, wird auch die unterschiedliche Funktion von Arbeiter und Manager verschleiert, da beide in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß integriert sind. Antagonistische Klassenstrukturen erscheinen so als harmonische. Die Arbeit der Ausgebeuteten und die Arbeit derer, die die Ausbeutung organisieren, erscheinen beide gleichermaßen als Arbeit. Der Staat scheint als personifiziertes Eigentum über dem Volk zu stehen, während die Bürokraten, die den Produktionsprozeß kontrollieren und daher historisch die Personifikation des Kapitals in reinster Form darstellen, als bloße Arbeiter erscheinen, als Produzenten von Werten durch ihre eigene Arbeit.

Doch es liegt auf der Hand, daß das Einkommen der Bürokratie in direktem Verhältnis zur Leistung der Arbeiter und nicht zu ihrer eigenen Leistung steht. Die Höhe ihres Einkommens ist an sich schon ein sicheres Indiz dafür, den qualitativen Unterschied zwischen dem Einkommen der Bürokratie und den Arbeiterlöhnen aufzuhellen. Gäbe es diese qualitative Differenz nicht, müßte man z.B. sagen, der höchstbezahlte Generaldirektor der Vereinigten Staaten verkaufe ebenfalls nur seine Arbeitskraft. Außerdem ist der Staat, der als Unternehmer auftritt und über der Bevölkerung zu stehen scheint, in Wirklichkeit die Organisationsform der Bürokratie als Kollektiv.

Was bestimmt die Aufteilung des Mehrwerts zwischen dem Staat und den einzelnen Bürokraten?

Die quantitative Aufteilung des produzierten Gesamtwerts zwischen Löhnen und Mehrwert hängt von zwei qualitativ verschiedenen Elementen ab, von Arbeitskraft und Kapital. Dagegen kann die Aufteilung des Mehrwerts zwischen der Bürokratie als Kollektiv (dem Staat) und den einzelnen Bürokraten auf keine qualitative Differenz zwischen beiden zurückgeführt werden. Es gibt deshalb keine allgemeinen genauen Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Verteilung des Mehrwerts zwischen Staat und Bürokratie oder die Verteilungs des Anteils der Bürokratie auf die einzelnen Bürokraten vonstatten geht. Ähnlich kann man ja auch nicht von exakten allgemeinen Gesetzen sprechen, die die Verteilung des Profits auf Unternehmensgewinn und Zinsen oder zwischen den verschiedenen Aktienbesitzern kapitalistischer Unternehmen regulieren. (Vgl. Marx: Das Kapital, Bd.III, 23. Kapitel.)

Es wäre allerdings falsch anzunehmen, absolute Willkür bestimme diese Verteilung. Tendenzen können durchaus generalisiert werden. Verschiedene Faktoren beeinflussen diese Aufteilung: der Druck des Weltimperialismus, der eine Beschleunigung der Akkumulation erzwingt, das bereits erreichte Produktionsniveau, die Tendenz zum Fall der Profitrate, die die Akkumulationsressourcen relativ verringert, usw.

Berücksichtigt man diese Umstände, dann wird deutlich, warum ein ständig wachsender Teil des Mehrwerts akkumuliert wird. Gleichzeitig läßt die Bürokratie, die den Akkumulationsprozeß steuert, ihre persönlichen Wünsche nicht zu kurz kommen, und die von ihr konsumierte Mehrwertmenge wächst absolut. Diese beiden Prozesse sind nur möglich, wenn die Ausbeutungsrate der Massen ständig steigt und immer neue Kapitalquellen erschlossen werden. (Das erklärt den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation, der die russische Bauernschaft ausplünderte, und die Plünderung der osteuropäischen Länder).

 

 

Zum Verhältnis von Produktion und Recht

In Rußland befindet sich die überwältigende Masse der Produktionsmittel in staatlicher Hand. Aktien oder andere private Besitztitel umfassen einen nur sehr kleinen Teil der Produktionsmittel, so daß sie nur von geringer Bedeutung sind.

Warum ist das so, Gibt es keine Tendenz, Formen privater Eigentumstitel in großem Maßstab wiedereinzuführen? Warum besteht ein Unterschied zwischen dem in Rußland und dem in der übrigen kapitalistischen Welt geltenden Eigentumsrecht?

Um diese Fragen zu beantworten, muß zunächst der Zusammenhang von Produktionsverhältnissen und Eigentumsrecht analylsiert werden. Die Ökonomie ist die Basis des Rechts. Eigentumsverhältnisse sind der juristische Ausdruck der Produktionsverhältnisse. Aber es gibt keine exakte und absolute Parallele zwischen Produktionsverhältnissen und Rechtsentwicklung, genausowenig, wie es eine exakte und absolute Parallele zwischen der ökonomischen Basis und den anderen Elementen des Überbaus gibt. Der Grund dafür liegt darin, daß das Recht die Produktionsverhältnisse nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt ausdrückt. Spiegelte das Recht die Produktionsverhältnisse unmittelbar wider, dann wäre jede schrittweise Veränderung der Produktionsverhältnisse von einem sofortigen parallelen Rechtswandel begleitet, und das Recht verlöre seine Funktion. Denn die Funktion des Rechts besteht ja gewissermaßen darin, die antagonistischen Klassenstrukturen harmonisch auszugleichen und die Bruchstellen des sozioökonomischen Systems zu kitten. Um das zu leisten, muß das Recht sich von der Ökonomie abheben, auf der es basiert.

Vom Inhalt her gesehen spiegelt das Recht die materielle Basis wider, auf die es sich gründet, aber der Form nach stellt es eine Assimilation und Vervollständigung des aus der Vergangenheit übernommenen Rechts dar. Es gibt immer eine zeitliche Verzögerung zwischen Veränderungen der Produktionsbeziehungen und Veränderungen des Rechts. Je tiefgreifender und schneller sich die Produktionsverhältnisse wandeln, desto schwieriger wird es für das Recht, Schritt zu halten und die formale Kontinuität mit der vergangenen Rechtsentwicklung zu bewahren.

Es gibt zahlreiche historische Beispiele dafür, daß eine neue herrschende Klasse nicht bereit war, ihre Machtübernahme öffentlich zu proklamieren, und dementsprechend versuchte, ihre Existenz und ihre Rechte dem aus der Vergangenheit überlieferten Normensystem anzupassen, auch wenn dieses Normensystem in absolutem Gegensatz dazu stand. So bemühte sich die aufsteigende Bourgeoisie sehr lange Zeit um den Beweis, daß Profit und Zins nichts anderes seien als eine andere Form der Grundrente, da zu jener Zeit die Grundrente des Feudalherrn in den Augen der herrschenden Klassen gerechtfertigt war. Die englische Kapitalistenklasse versuchte, ihre politischen Rechte auf die Magna Charta zu gründen, die Rechts-Charta der Feudalklasse, die sowohl dem Inhalt wie der Form nach in absolutem Gegensatz zum bürgerlichen Recht steht. Die Anstrengung einer herrschenden Klasse, ihre Privilegien unter dem Rechtsmantel der Vergangenheit zu verstecken, wird im Falle einer Konterrevolution am größten sein, die ihre Existenz nicht zuzugeben wagt.

Der revolutionäre Sozialismus verbirgt seine Ziele nicht. Das Recht, das er bei der Machtübernahme setzt, ist deshalb sowohl dem Inhalt wie der Form nach revolutionär. Wären die Interventionsarmeen nach der Oktoberrevolution siegreich gewesen, hätte ihre blutige Herrschaft zu einer Wiederherstellung der meisten alten Gesetze geführt, die die Oktoberrevolution über Bord geworfen hatte. Aber da die russische Bürokratie sich schrittweise in eine herrschende Klasse verwandelte, schlugen sich die Veränderungen in den Produktionsverhältnissen nicht sofort in einem vollständigen Rechtswandel nieder. Aus verschiedenen Gründen verkündete die russische Bürokratie nicht offen, daß eine Konterrevolution stattgefunden hatte. Der wichtigste Grund dafür war, daß die stalinistische Außenpolitik darauf angewiesen war, für die Arbeiter in der ganzen Welt eine pseudorevolutionäre Propaganda parat zu haben.

Das allein reicht allerdings nicht aus um zu erklären, warum die Bürokratie nicht in der ganzen Wirtschaft das Privateigentum in Form von Obligationen und Aktien wiederherstellt, so daß jedes Mitglied der Bürokratie in der Lage wäre, seinem Sohn eine gesicherte ökonomische Stellung zu vermachen. Andere Faktoren müssen daneben berücksichtigt werden.

Die Interessen und Wünsche einer Klasse, einer Kaste oder einer sozialen Schicht werden von ihren materiellen Lebensbedingungen geprägt. Nicht nur hat jede Klasse ihre spezifische SteIlung im Produktionsprozeß, jede Klasse hat auch einen spezifischen Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum. Wäre das abstrakte, einfache Verlangen nach maximaler materieller und kultureller Wohlfahrt die Triebkraft der Menschheit, dann würde nicht nur die Arbeiterklasse den Sozialismus herbeiwünschen, sondern auch die Klein- und Mittelbourgeoisie, ja sogar die Großbourgeoisie. Das träfe besonders für die heutige Generation zu, die unter dem Schatten des Atomkrieges lebt. Doch so ist es nicht. Die Menschen machen Geschichte gemäß der äußeren objektiven Realität, in der sie leben, und die ihre Vorstellungen prägt. Der Feudalherr strebt danach, seine Ländereien und die seines Sohnes zu vergrößern; der Kaufmann bemüht sich darum, seinem Sohn eine große Geldsumme zu vermachen, um ihm ökonomische Sicherheit zu geben. Der Arzt, der Jurist und andere Angehörige der freien Berufe versuchen ihre Privilegien auf ihre Söhne zu übertragen, indem sie ihnen eine gute wissenschaftliche Ausbildung zukommen lassen. Da die verschiedenen Klassen und Schichten allerdings durch keine Chinesische Mauer voneinander getrennt sind, wird jede Gruppe natürlich versuchen, noch ein bißchen mehr als ihre eigenen Privilegien an die Nachkommen weiterzugeben. Angehörige der freien Berufe werden ihren Kindern sowohl materielle Mittel wie eine entsprechende Ausbildung zukommen lassen, Kaufleute werden für eine bessere Ausbildung ihrer Kinder sorgen usw.

Wie Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb, besitzt die Staatsbürokratie den Staat als Privateigentum. In einem Staat, der über die gesamten Produktionsmittel verfügt, verfügt die Staatsbürokratie über andere Möglichkeiten der Privilegienvererbung als der Feudalherr, der Bourgeois oder der freiberuflich Tätige. Wenn die Posten von Betriebsdirektoren, Abteilungschefs usw. vorwiegend durch Kooptation vergeben werden, dann wird jeder Bürokrat mehr Wert darauf legen, seinem Sohn seine guten Verbindungen zu „vererben“ als etwa eine Million Rubel (wenngleich die nicht bedeutungslos sind). Es liegt nahe, daß er gleichzeitig versuchen wird, die Konkurrentenzahl und Posten in der Bürokratie dadurch einzuschränken, daß er die Möglichkeiten der Massen einschränkt, eine höhere Ausbildung zu bekommen etc.

 

 

Die Synthese der Extreme

Rußland erscheint als Synthese einer von der proletarischen Revolution hervorgebrachten Eigentumsform mit Produktionsverhältnissen, die aus einer Kombination der rückständigen Produktivkräfte und den Zwängen des Weltkapitalismus resultieren. Dem Inhalt nach weist diese Synthese Kontinuität mit der vorrevolutionären Periode auf. Der Form nach zeigt sie Kontinuität mit der revolutionären Periode. Beim Niedergang der Revolution kehrt die Form nicht zu ihrem unmittelbaren Ausgangspunkt zurück. Trotz ihrer Unterordnung unter den Inhalt hat sie beträchtliche Bedeutung.

Die Geschichte macht nicht selten Sprünge: nach vorne oder auch zurück. Wendet sie sich rückwärts, kehrt sie nicht zum unmittelbaren Ausgangspunkt zurück, sondern verbindet in einer spiralenförmigen Rückentwicklung Elemente der beiden Systeme, die sie durchlief.

Zum Beispiel würde in einem staatskapitalistischen System, das organisch und schrittweise aus dem Privatkapitalismus hervorginge, Privateigentum in Form von Obligationen und Aktien vorherrschen. Aber daraus kann nicht geschlossen werden, daß das auch für ein staatskapitalistisches System zutrifft, das sich schrittweise aus den Trümmern einer Arbeiterrevolution herausbildete. Im Falle des Staatskapitalismus, der aus dem Monopolkapitalismus hervorgeht, schlägt sich die Kontinuität der Geschichte in der Existenz von Privateigentum nieder; im Falle des Staatskapitalismus, der aus einem Arbeiterstaat hervorging, der degenerierte und sich auflöste, zeigt sich die Kontinuität der Geschichte darin, daß kein Privateigentum besteht.

Diese spiralenförmige Entwicklung führt in Rußland zu einer Synthese, die zwei Extreme kapitalistischer Entwicklung in sich vereint. ln Rußland hat der Kapitalismus die höchste Stufe erreicht, die er erreichen kann, und die wahrscheinlich kein anderes Land je erreichen wird; das geschah gleichzeitig auf einem derart niedrigen Entwicklungsniveau, daß alle materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus erst noch geschaffen werden müssen. Die Niederlage der Oktoberrevolution diente dem russischen Kapitalismus, der immer noch weit hinter dem Weltkapitalismus herhinkt, als Sprungbrett.

Diese Synthese zeigt sich auf der einen Seite in der extrem hohen Konzentration und organischen Zusammensetzung des Kapitals; auf der anderen Seite wird sie darin deutlich, daß, trotz der hochentwickelten Technik die Arbeitsproduktivität und das kulturelle Niveau gering sind. Diese Synthese erklärt das Entwicklunstempo der Produktivkräfte in Rußland, das den Frühkapitalismus weit in den Schatten stellt und in scharfem Kontrast zum Niedergang und zur Stagnation des Spätkapitalismus steht. Der Frühkapitalismus zeichnete sich durch unmenschliche Brutalität gegenüber den arbeitenden Massen aus. Man braucht nur an die Bekämpfung der „Vagabunden“ die Armengesetze oder die Frauen- und Kinderarbeit von täglich 15-18 Stunden zu denken. Der Spätkapitalismus wiederholt viele der Brutalitäten seiner Kindheit. Wie der Faschismus gezeigt hat, besteht der Unterschied nur darin, daß er sie erheblich effektiver durchführen kann. Beide Perioden sind dadurch charakterisiert, daß neben der automatischen Wirksamkeit der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten direkte Gewalt angewandt wird. Auf Grund der Verbindung eines staatskapitalistischen Systems mit den Aufgaben des Frühkapitalismus hat die russische Bürokratie einen unstillbaren Appetit auf Mehrwert und unbegrenzte Kapazitäten zur Ausübung unmenschlicher Brutalitäten. Hinzu kommt, daß sie in der Lage ist, die Unterdrückung mit größter Effektivität zu organisieren. Wenn Engels schrieb feststellte, daß der Mensch von den wilden Tieren abstamme und dementsprechend barbarische und fast bestialische Mittel gebraucht, um sich selbst von der Barbarei zu befreien, dann meinte er damit sicherlich nicht die sozialistische Revolution, in der die Geschichte sich ihrer selbst bewußt wird. Aber er beschrieb treffend die Vorgeschichte der Menschheit. Peter der Große wird in die Geschichte als Kämpfer eingehen, der die Barbarei mit barbarischen Methoden bekämpfte. Herzen schrieb, daß er „mit der Knute in der Hand die Zivilisation einführte und mit der Knute in der Hand das Licht verfolgte“.

Stalin wird als Unterdrücker der Arbeiterklasse in die Geschichte eingehen. Er wird in die Geschichte eingehen als die Macht, die ohne die Knute die Produktivkräfte und die menschliche Kultur hätte entfalten können, da die Welt reif genug dafür war, der aber gleichwohl die Entwicklung mit der „Knute in der Hand“ vorantrieb und gleichzeitig die ganze Menschheit der Gefahr des völligen Niedergangs durch imperialistische Kriege aussetzte. Die proletarische Revolution schwemmte alle Hindernisse hinweg, die der Entwicklung der Produktivkräfte im Wege standen. Sie schaffte einen Teil der alten Barbarei ab. Aber da sie in einem rückständigen Land stattfand und isoliert blieb, wurde sie besiegt und machte den Weg frei für den Kampf die Barbarei mit barbarischen Methoden.

 

 

Ökonomie und Politik

Der Staat ist eine „besondere Formation bewaffneter Menschen, Gefängnisse usw.“ eine Waffe in der Hand einer Klasse, um eine oder mehrere andere Klassen zu unterdrücken. In Rußland ist der Staat eine Waffe in der Hand der Bürokratie zur Unterdrückung der arbeitenden Massen. Aber der stalinistische Staat übt noch andere Funktionen aus. Er stellt auch eine Antwort auf die Probleme der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die Organisation der gesellschaftlichen Produktion dar. Eine ähnliche Aufgabe wurde mutatis mutandis von den Staaten des alten China, des alten Ägypten und Babylons erfüllt. Der Staat entstand dort nicht nur als Resultat der Klassenspaltung und somit indirekt als Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung; sondern er entwickelte sich auch zu einem unabkömmlichen Bestandteil des Produktionsprozesses, da die für die großen Bewässerungsanlagen notwendigen Arbeiten nur in großen Maßstab organisiert werden konnten. Zwischen der Herausbildung der Klassenspaltung und der Stärkung des Staates besteht eine so enge Wechselbeziehung, daß jede Trennung von Politik und Ökonomie unmöglich ist.

In ähnlicher Weise entstand der stalinistische Staat in Rußland nicht nur als Folge der Vertiefung der Kluft zwischen Bürokratie und Massen und des Bedürfnisses nach einer „besonderen Formation bewaffneter Menschen“, sondern der stalinistische Staat stellt auch eine direkte Antwort auf die Erfordernisse der Entwicklung der Produktivkräfte dar und ist ein notwendiges Element der Produktionsweise.

Einer der chaldäischen Könige sagte einmal:

Ich habe die Geheimnisse der Flüsse zum Wohle der Menschheit gemeistert ... ich habe das Wasser der Flüsse in die Wildnis gelenkt; ich habe die ausgetrockneten Kanäle mit Wasser gefüllt und die Wüstenebenen bewässert. Ich habe ihnen Fruchtbarkeit und Überfluß gebracht und sie zu Orten der Freude gemacht.

Plechanow, der diesen Ausspruch zitiert, bemerkt dazu:

Trotz der Prahlerei ist das eine recht zutreffende Beschreibung der Rolle des orientalischen Staates bei der Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. [346]

Auch Stalin kann für sich in Anspruch nehmen, Industrien aufgebaut und die Produktivkräfte Rußlands entfaltet zu haben; allerdings war die Tat des chaldäischen Königs historisch notwendig und zu seiner Zeit progressiv, während Stalins Tyrannei historisch überflüssig und reaktionär ist.

Wie in den Gesellschaften des Altertums führt im heutigen Rußland die Doppelfunktion des Staates des Wachhundes der herrschenden Klasse und als Organisator der gesellschaftlichen Produktion zu einer völligen Verschmelzung von Politik und Ökonomie. Diese Verschmelzung ist sowohl für den Kapitalismus in seinem höchsten Entwicklungsstadium wie für den Arbeiterstaat charakteristisch. Im Arbeiterstaat bedeutet diese Verschmelzung, daß die Arbeiterklasse, die im Besitz der politischen Macht ist, sich immer mehr der Situation nähert, wo „an die Stelle der Regierung über Personen die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen [tritt]“. [347]

Für den Kapitalismus in seinem höchsten Entwicklungsstadium bedeutet diese Verschmelzung dagegen, daß zum ökonomischen Zwangsautomatismus politische Gewaltanwendung hinzutritt, ja, daß direkte Gewaltanwendung eine immer größere Rolle spielt:

Es ist die Besonderheit der kapitalistischen Ordnung, daß in ihr alle Elemente der künftigen Gesellschaft vorerst eine Form annehmen, in der sie sich dem Sozialismus nicht nähern, sondern von ihm entfernen ... im Wehrwesen ... die Entwicklung die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht ... also materiell die Annäherung an das Volksheer herbei. Aber dies in der Form von modernem Militarismus, wo die Beherrschung des Volkes durch den Militärstaat, der Klassencharakter des Staates zum grellsten Ausdruck kommt. [348]

Diese Verschmelzung beweist, daß unsere Geschichtsepoche derart reif für den Sozialismus ist, daß der Kapitalismus sich gezwungen sieht, immer weitere Elemente des Sozialismus in sich aufzunehmen. Engels sprach von einem Hereinbrechen der sozialistischen Gesellschaft in den Kapitalismus. Doch diese Aufnahme sozialistischer Elemente erleichtert die Last der Ausbeutung und Unterdrückung nicht, sondern macht sie ganz im Gegenteil noch drückender, (In einem Arbeiterstaat sind die Arbeiter ökonomisch frei, weil sie politisch frei sind. Auch im Arbeiterstaat verschmelzen Ökonomie und Politik, aber mit umgekehrten Ergebnissen.)

Bilden Politik und Ökonomie eine Einheit, dann wird es theoretisch falsch, zwischen politischer und ökonomischer Revolution oder Konterrevolution zu unterscheiden. Die Bourgeoisie kann als Bourgeoisie, als Privateigentümer, unter ganz verschiedenen Herrschaftsformen existieren: unter einer feudalen wie unter einer konstitutionellen Monarchie, unter einer bürgerlichen Republik wie unter einem bonapartistischen System wie dem Napoleons des ersten und Napoleons des dritten; sie kann unter einer faschistischen Diktatur existieren, wie eine Zeitlang auch unter einem Arbeiterstaat (der Kulak und der NEP-Mann überlebten bis 1928). In all diesen Fällen ist die Bourgeoisie in unmittelbarem Besitz der Produktionsmittel. In all diesen Fällen steht der Staat nicht unter der unmittelbaren Kontrolle der Bourgeoisie, doch in keinem Fall hört die Bourgeoisie auf, die herrschende Klasse zu sein. Ist der Staat der Hort der gesamten Produktionsmittel, dann ist die Verschmelzung von Politik und Ökonomie vollkommen; politische Entmachtung und ökonomische Enteignung, fallen zusammen. Wäre der oben zitierte chaldäische König politisch entmachtet worden, so hätte das notwendig auch seine ökonomische Enteignung bedeutet. Das trifft auch für die stalinistische Bürokratie zu und mutatis mutantis ebenso für einen Arbeiterstaat. Da die Arbeiter in einem Arbeiterstaat auch nicht als Individuen die Produktionsmittel besitzen und ihr Kollektiveigentum in der Kontrolle über den Staat seinen Ausdruck findet, der Hort der Produktionsmittel ist, werden auch sie ökonomisch enteignet, wenn sie politisch entmachtet werden.

 

 

Ist ein allmählicher Übergang eines Arbeiterstaates in einen kapitalistischen Staat möglich?

Das Proletariat kann den bürgerlichen Staatsapparat nicht übernehmen, sondern muß ihn zerschlagen. Folgt daraus nicht, daß die These von der allmählichen Verwandlung des Arbeiterstaates unter Lenin und Trotzki (1917-1923) in den kapitalistischen Staat Stalins dem Wesen der Marxschen Staatstheorie widerspricht? Dieser Einwand ist ein Eckpfeiler der Theorie, daß Rußland heute noch ein Arbeiterstaat ist. Diejenigen, die an dieser Theorie festhalten, zitieren Trotzki aus dem Jahre 1933 (aber sie unterlassen es, entgegengesetzte Aussagen zu zitieren, die er später machte).

Trotzki schrieb in Die Sowjetunion und die IV. Internationale:

Die Marxsche These vom katastrophenartigen Charakter des Machtwechsels von einer Klasse zur anderen trifft nicht nur für revolutionäre Perioden zu, wenn die Geschichte wild voranstürmt, sondern auch für konterrevolutionäre Perioden, in denen sich die Gesellschaft zurückentwickelt. Wer behauptet, die Sowjetregierung habe sich allmählich aus einer proletarischen in eine bürgerliche Macht verwandelt, spult den Film des Reformismus gewissermaßen nur rückwärts ab. [349]

Zur Debatte steht die Gültigkeit des letzten Satzes. Eine kapitalistische Restauration kann auf verschiedene Weise vor sich gehen. Die politische Restauration kann der ökonomischen Restauration vorangehen. Das wäre der Fall gewesen, wenn der Versuch der Weißen Garden und Interventionsarmeen, die Bolschewiki zu stürzen, Erfolg gehabt hätte.

Auf der anderen Seite kann auch die ökonomische Restauration, wenngleich nicht vollständig, der politischen Restauration vorangehen. Das wäre der Fall gewesen, wenn die Kulaken und die NEP-Leute, die ihre ökonomischen Privilegien bis 1928 festigen konnten, das Regime erfolgreich gestürzt hätten. In beiden Fällen wäre der Übergang des Arbeiterstaates in einen kapitalistischen Staat allmählich erfolgt. Allerdings hieße es tatsächlich „den Film des Reformismus rückwärts abzuspulen“, wenn man behauptete, dieser Prozeß hätte sich in der Wirklichkeit allmählich abspielen können.

Aber in dem Fall, daß die Bürokratie eines Arbeiterstaates in eine herrschende Klasse transformiert wird, sind politische und ökonomische Restauration unauflöslich verknüpft.

Der Staat entfernt sich allmählich immer weiter von den Arbeitern, und die Beziehungen zwischen Staat und Arbeitern bekommen immer mehr Ähnlichkeit mit denen zwischen kapitalistischen Unternehmern und Arbeitern. In einem solchen Falle verwandelt sich die bürokratische Clique, die zunächst nur als eine Entartung des Arbeiterstaates erscheint, allmählich selber in eine Klasse, die die Aufgabe der Bourgeoisie innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse wahrnimmt. Die allmähliche, evolutionäre Loslösung der Bürokratie von der Kontrolle der Klasse, die bis 1928 erfolgte, nahm mit dem ersten Fünf-Jahres-Plan den Charakter einer revolutionären, qualitativen Veränderung an.

Aber nach wie vor steht die Frage im Raum, ob das alles nicht der marxistischen Staatstheorie widerspricht. Vom Standpunkt der formalen Logik aus gesehen stimmt das sicherlich, denn es ist unbestreitbar, daß, wenn das Proletariat den bürgerlichen Staat nicht schrittweise in einen Arbeiterstaat verwandeln kann, sondern ihn zerschlagen muß, umgekehrt auch die Bürokratie bei ihrer Transformation zur herrschenden Klasse den Arbeiterstaat nicht Schritt für Schritt in einen bürgerlichen Staat umwandeln kann, sondern ihn ebenfalls zerschlagen muß. Aber vom Standpunkt der Dialektik aus muß das Problem anders gestellt werden. Was sind die Gründe dafür, daß die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat nicht allmählich umstülpen kann? Und treffen diese Gründe auch dann unausweichlich zu, wenn es sich um die allmähliche Veränderung des Klassencharakters eines Arbeiterstaates handelt?

Marx und Engels schrieben, daß nur in England die Zerschlagung der Staatsmaschine als erste Tat der proletarischen Revolution eventuell nicht notwendig sei. Das gelte nicht für Kontinentaleuropa. Sie schrieben, daß in England die soziale Revolution unter Umständen „mit ausschließlich friedlichen und legalen Mitteln“ stattfinden könne. Lenin kommentierte das wie folgt:

Das war 1871 verständlich, als England noch das Muster eines rein kapitalistischen Landes war, aber eines Landes ohne Militarismus und in hohem Grade ohne Bürokratie. [350]

Die Bürokratie und das stehende Heer hindern also die Arbeiter daran, auf friedlichem Wege an die Macht zu kommen. Aber der Arbeiterstaat hat weder eine Bürokratie noch ein stehendes Heer. Deshalb kann ein friedlicher Übergang von einem Arbeiterstaat, der derartige Institutionen nicht kennt, in ein staatskapitalistisches Regime, das sie sehr wohl kennt, erfolgen. Schauen wir uns an, ob die Gründe, die eine schrittweise soziale Revolution unmöglich machen, auch eine schrittweise Konterrevolution ausschließen. Kämpfen Soldaten in einer hierarchisch aufgebauten Armee um die Macht über diese Armee, stoßen sie sofort auf den Widerstand der Offizierskaste. Die Ausschaltung dieser Kaste kann nur mit Hilfe revolutionärer Gewalt geschehen. Wenn dagegen die Offiziere einer Volksmiliz immer weniger unter der Kontrolle der Soldaten stehen und auf keine institutionalisierte Bürokratie stoßen, kann ihre Verwandlung in eine vom Willen der Soldaten unabhängige Offizierskaste allmählich erfolgen. Der Übergang eines stehenden Heeres in eine Volksmiliz wird immer von einem ungeheuren Ausbruch revolutionärer Gewalt begleitet sein; auf der anderen Seite kann und muß der Übergang einer Volksmiliz in ein stehendes Heer, wenn er das Ergebnis von Tendenzen innerhalb der Miliz selber ist, allmählich vor sich gehen. Der Widerstand der Soldaten gegen die aufsteigende Bürokratie kann dazu führen, daß die Offiziere mit Gewalt gegen die Soldaten vorgehen. Aber das muß nicht so sein. Was für die Armee gilt, trifft auch für den Staat zu. Ein Staat ohne Bürokratie oder mit einer schwachen Bürokratie, die vom Willen der Massen unabhängig ist, kann sich allmählich in einen Staat verwandeln, in dem die Bürokratie von jeder Arbeiterkontrolle befreit ist.

Die Moskauer Prozesse waren der Bürgerkrieg der Bürokratie gegen die Massen, ein Krieg, in dem nur eine Seite bewaffnet und organisiert war. Sie legten Zeugnis davon ab, daß die Bürokratie sich endgültig von jeder Kontrolle durch die Massen befreit hatte. Trotzki, der glaubte, die Moskauer Prozesse und die „Verfassung“, seien Schritte in Richtung auf eine Restauration des Privatkapitalismus mit legalen Mitteln, zog jetzt sein Argument zurück, es hieße nur den „Film des Reformismus rückwärts abspulen“, wenn man von der allmählichen Umwandlung des proletarischen Staats in einen bürgerlichen Staat spreche.

In Wirklichkeit gibt die neue Verfassung der Bürokratie die Möglichkeit, auf „legale“ Weise die ökonomische Konterrevolution durchzuführen, das heißt, den Kapitalismus auf kaltem Wege wiederherzustellen. [351]

 

 

Stalinismus = Barbarei?

Der Begriff Barbarei, hat verschiedene Bedeutungen. Wir sprechen von der barbarischen Ausbeutung der Arbeiter, der barbarischen Unterdrückung der Kolonialvölker, der barbarischen Ermordung der Juden durch die Nazis usw. Das Wort barbarisch in diesem Sinne bezeichnet keine Entwicklungsstufe der menschlichen Geschichte und keine bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern bezieht sich auf die Art der Handlungen einer Klasse, die sogar eine aufsteigende, fortschrittliche Klasse sein kann. Wir sprechen z.B. von der barbarischen Vertreibung der englischen Bauern durch den Frühkapitalismus oder von der barbarischen Ausplünderung der südamerikanischen Bevölkerung usw. Der Begriff Barbarei kann aber auch etwas ganz anderes meinen, auch wenn dabei von der ersten Bedeutung des Wortes noch etwas mitschwingt. Mit ihm kann die vollständige Zerstörung der Zivilisation durch den Rückfuß der Gesellschaft auf eine vorgeschichtliche Stufe gemeint sein. In dieser zweiten Bedeutung erscheint die Barbarei als eine ganze Epoche der menschlichen Geschichte. Ein besonderes Geschehnis kann allerdings in des Wortes doppelter Bedeutung barbarisch sein. Die Taten der herrschenden Klassen in einem dritten Weltkrieg wären in beiderlei Hinsicht barbarisch, da sie auch den völligen Niedergang der Gesellschaft zur Folge hätten. Aber die beiden Bedeutungen des Begriffs müssen auseinander gehalten werden. Verwendet man den Begriff in seiner ersten Bedeutung, um unsere Geschichtsepoche zu charakterisieren, dann ist damit der Preis gemeint, den die Menschheit für den Aufschub der sozialistischen Revolution bezahlen muß. Seiner zweiten Bedeutung nach spiegelt es die völlige Hoffnungslosigkeit in einer zugrundegehenden, verfallenen Gesellschaft wider. Es wäre demnach falsch, den Nazismus als Barbarei im zweiten Sinne zu bezeichnen, als „erneuerten Feudalismus“, „Termitenstaat“, als ahistorische Periode usw., denn das Nazi-System beruhte auf der Ausbeutung des Proletariats, das historisch der Totengräber des Systems und der Befreier der Menschheit ist. Noch weniger richtig wäre es, das stalinistische Regime als barbarisch im zweiten Sinne zu charakterisieren, denn das stalinistische Regime bringt unter dem Druck der russischen Rückständigkeit und angesichts der Vernichtungsgefahr durch die internationale Konkurrenz eine sehr schnell wachsende Arbeiterklasse hervor.

Es geht bei dieser Frage nicht um philologische Haarspaltereien. Sie ist von größter Bedeutung. Es wäre genauso falsch, den Begriff Barbarei in seiner zweiten Bedeutung für Rußland zu verwenden, wie es falsch wäre, die russischen Arbeiter als Sklaven zu bezeichnen, wenn die Begriffe Sklave und Proletarier etwas ganz Verschiedenes bedeuten. Benutzt man den Begriff der Sklaverei in derselben Weise wie den der Barbarei in seiner ersten Bedeutung, um einen bestimmten Aspekt der Lebensbedingungen des russischen Arbeiters unter Stalin wie des deutschen Arbeiters unter Hitler zu kennzeichnen – das Fehlen gesetzlich verbriefter Freiheiten und die teilweise Aufhebung des Arbeiters als Arbeiter –, dann ist das durchaus korrekt. Aber als grundlegende Definition des Regimes wäre es falsch. Deshalb sind wir absolut dagegen, den Begriff Barbarei in seiner zweiten Bedeutung zur Charakterisierung des stalinistischen Regimes zu verwenden. Wir halten es für genauso unmöglich, den Begriff auf diese Weise zur Charakterisierung unserer Geschichtsepoche zu verwenden. Allenfalls ist es verzeihlich, den Begriff in seiner ersten Bedeutung zu gebrauchen, um bestimmte Aspekte des niedergehenden kapitalistischen Systems zu beschreiben, gleichgültig, ob es sich um den amerikanischen, den russischen, den japanischen oder den englischen Kapitalismus handelt.

Ist das stalinistische Rußland ein Beispiel für kapitalistische Barbarei? Ja. Ist es ein Beispiel für jene Barbarei, die eine vollständige Negation des Kapitalismus darstellt? Nein.

 

 

Ist das stalinistische Regime progressiv?

Eine Gesellschaftsordnung, die notwendig ist, um die Produktivkräfte zu entfalten und die materiellen Voraussetzungen für eine höhere Gesellschaftsform zu schaffen, ist progressiv. Die Betonung liegt auf „materielle Bedingungen“, denn schließt man alle Bedingungen ein (Klassenbewußtsein, die Existenz revolutionärer Massenparteien etc.), dann ist jede Gesellschaftsordnung progressiv, da ihre bloße Existenz beweist, daß nicht alle Voraussetzungen für ihren Sturz vorhanden sind.

Aus dieser Definition folgt nicht der umgekehrte Schluß, daß, wenn eine Gesellschaftsordnung reaktionär und zu einem Hindernis für die Entfaltung der Produktivkräfte wird, die Produktivkräfte in ihr nicht mehr wachsen oder ihre absolute Wachstumsrate sinkt. Zweifellos wurde der Feudalismus in Europa zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert reaktionär, aber das hinderte die Produktivkräfte nicht daran, sich schneller als zuvor zu entfalten. Ähnlich schrieb Lenin einerseits, daß die imperialistische Periode (die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnt) den Verfall und Niedergang des Kapitalismus signalisiere, während er gleichzeitig schrieb:

Es wäre ein Fehler zu glauben, daß diese Fäulnistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschließt; durchaus nicht. Einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenzen. Im großen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleich, sondern die Ungleichmäßigkeit äußert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder (England). [352]

Lenin sprach in einem Atemzug vom Niedergang des Kapitalismus und davon, daß die demokratische Revolution mit der Beseitigung der feudalen Barrieren dem russischen Kapitalismus enorme Entwicklungsmöglichkeiten eröffne, der in amerikanischem Tempo voranschreiten werde. Und diese Ansicht vertrat er zu einer Zeit, in der er noch davon ausging, daß die „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ die Aufgaben der bürgerlichen Revolution in Rußland übernehmen würde. Schaut man sich die Zahlen für die Veränderung der Industrieproduktion seit 1891 an, dann ist es offensichtlich, daß die Weltproduktivkräfte während der imperialistischen Periode alles andere als stagnierten:

Weltindustrieproduktion
(1913 = 100)

1891

  33

1900

  51

1906

  73

1913

100

1920

102

1929

148

Was die Leistungsfähigkeit der Produktion angeht, braucht man nur an die Kontrolle der Atomenergie zu denken, um sich zu vergegenwärtigen, was für Riesenschritte nach vorn gemacht wurden. Wären die rückständigen Länder von der übrigen Welt isoliert, könnte man mit Sicherheit sagen, daß der Kapitalismus für sie ein Fortschritt wäre. Gingen zum Beispiel die Gesellschaften zugrunde, hätte der indische Kapitalismus eine genauso lange und glorreiche Zukunft vor sich wie der britische Kapitalismus im 19. Jahrhundert. Das gleiche träfe für den russischen Staatskapitalismus zu; doch für revolutionäre Marxisten ist die Weltsituation der Bezugspunkt, von dem sie ausgehen, und aus diesem Grunde ist der Kapitalismus für sie reaktionär, wo immer er existiert. Denn das Problem, das die Menschheit bei Strafe ihres Untergangs lösen muß, besteht nicht darin, wie die Produktivkräfte entwickelt, sondern zu welchem Zweck und im Rahmen welcher gesellschaftlichen Verhältnisse sie genutzt werden sollen. Was den reaktionären Charakter des russischen Staatskapitalismus betrifft, kann dieser trotz der rapiden Entfaltung der Produktivkräfte in Rußland nur dann zurückgewiesen werden, wenn der Beweis dafür angetreten wird, daß der Weltkapitalismus die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus noch nicht geschaffen hat oder daß das stalinistische Regime darüber hinaus Voraussetzungen für den Sozialismus schafft, die in der Welt noch nicht vorhanden waren.

Die erste Annahme bedeutete in ihrer Konsequenz, daß wir noch nicht in der Geschichtsepoche der sozialistischen Revolution leben. Alles, was man zur zweiten Annahme sagen kann, ist, daß das stalinistische Rußland dem Sozialismus eine höhere Konzentration des Kapitals und der Arbeiterklasse vermachen wird als irgendein anderes Land. Doch diese Differenz ist lediglich quantitativer Natur: Vergleicht man die amerikanische mit der englischen Wirtschaft, dann ist offenkundig, daß die Kapitalkonzentration und die Vergesellschaftung der Arbeit in Amerika viel weiter fortgeschritten sind, doch das verleiht dem amerikanischen Kapitalismus keinen historisch progressiven Charakter.

Man könnte die Behauptung aufstellen, die Planung in Rußland stelle ein Element dar, das die russische Wirtschaft im Vergleich zur Wirtschaft kapitalistischer Länder als Fortschritt erscheinen lasse. Nichts wäre verkehrter als das. Solange die Arbeiterklasse die Produktion nicht kontrolliert, ist sie nicht Subjekt, sondern Objekt der Planung. Das gilt für die Planung innerhalb des gigantischen Ford-Konzerns genauso wie für die Planung in der gesamten russischen Wirtschaft; und solange die Arbeiter bloße Objekte der Planung sind, hat die Planung für sie nur unter dem Gesichtspunkt der Konzentration von Kapital und Arbeit Bedeutung, die materielle Voraussetzungen für den Sozialismus darstellen.

In einem Unternehmen mit 100.000 Beschäftigten ist die Planung komplizierter und weiter entwickelt als in einem Unternehmen mit 100 Beschäftigten; das trifft in noch höherem Grade für ein staatskapitalistisches System mit 10.000.000 Beschäftigten zu. Das macht die Produktionsverhältnisse des Großkonzerns im Vergleich zu dem Kleinunternehmen nicht fortschrittlicher. In beiden wird der Plan von der blinden externen Konkurrenz diktiert, die zwischen den unabhängigen Produzenten herrscht.

Die bloße Existenz des stalinistischen Regimes beweist schon seinen reaktionären Charakter, denn ohne die Niederlage der Oktoberrevolution bestünde das Regime gar nicht, und die Oktoberrevolution selber war der Beweis dafür, daß die Welt für den Sozialismus reif ist.

 

 

Anmerkungen

342. Lenin: Werke, Bd.29, S.410.

343. N. Bucharin: Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922, S.323-324.

344. Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW, Bd.21, S.161.

345. K. Marx: Das Kapital, Bd.1, S.618-621, zit. nach MEW, Bd.23.

346. G.V. Plechanow: The Materialist Conception of History, London 1940, S.32.

347. F. Engels: Anti-Dühring, a.a.O., S.348.

348. Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution, in: Rosa Luxemburg: Politische Schriften, Bd.1, Ffm 1966, S.117.

349. Lenin: Staat und Revolution, Werke, Bd.25, S.428.

350. Fourth International and the Soviet Union – Thesis adoptet by the first International Conference of the Fourth International, Genf, Juli 1936.

351. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Werke, Bd.22, S.305-306.

352. J. Kuczynski: Weltproduktion und Welthandel in den letzten 100 Jahren, Libau 1935, S.20-21.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004