Tony Cliff

 

Studie über Rosa Luxemburg

 

V. Spontaneität, Bewußtsein und Organisation

 

Menschen machen Geschichte

Rosa Luxemburg ist des mechanischen Materialismus beschuldigt worden, einer Konzeption der historischen Entwicklung, in der objektive ökonomische Kräfte unabhängig vom menschlichen Willen regieren. Diese Beschuldigung ist völlig haltlos. Kaum einer der großen Marxisten hat das menschliche Handeln als Determinante des menschlichen Schicksals stärker betont. Sie schreibt:

Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst. Das Proletariat ist in seiner Aktion von dem jeweiligen Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, aber die gesellschaftliche Entwicklung geht nicht jenseits des Proletariats vor sich, es ist in gleichem Maße ihre Triebfeder und Ursache, wie es ihr Produkt und Folge ist. Seine Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte. Und wenn wir die geschichtliche Entwicklung sowenig überspringen können wie der Mensch seinen Schatten, wir können sie wohl beschleunigen oder verlangsamen ... [Der] Sieg des sozialistischen Proletariats ... ist an eherne Gesetze der Geschichte, an tausend Sprossen einer vorherigen qualvollen und allzu langsamen Entwicklung gebunden. Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewußten Willens der großen Volksmasse aufspringt. [1]

Den von Marx und Engels vorgetragenen Gedanken folgend, glaubte Rosa Luxemburg, daß das Bewußtsein der Ziele des Sozialismus in den Massen der Arbeiter eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung des Sozialismus sei. Im Kommunistischen Manifest heißt es:

Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. [2]

Und Engels schrieb:

Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für wen sie mit Leib und Leben eintreten. [3]

Ähnlich sagt Rosa Luxemburg: „Ohne den bewußten Willen und die bewußte Tat der Mehrheit des Proletariats kein Sozialismus.“ [4]

Und im Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), das von Rosa entworfen wurde, heißt es:

Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewußteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.

Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.

Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt auf dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen durch Niederlagen und Siege, zur vollen Klarheit und Reife durchringen.

Der Sieg des Spartakusbundes steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution: er ist identisch mit dem Siege der großen Millionenmassen des sozialistischen Proletariats. [5]

 

 

Klasse und Partei

Das Proletariat als Klasse muß sich der Ziele des Sozialismus und der Methoden zu seiner Errichtung bewußt sein; doch es braucht eine revolutionäre Partei, die es führt. In jeder Fabrik, in jeder Werft, auf jedem Bauplatz gibt es Arbeiter mit Bewußtsein – Arbeiter, die mehr Erfahrungen im Klassenkampf haben, die vom Einfluß der Kapitalistenklasse freier sind – und weniger fortgeschrittene Arbeiter. Die ersteren müssen sich in einer revolutionären Partei organisieren und versuchen, die letzteren zu beeinflussen und zu führen. Rosa Luxemburg meinte, die Massenbewegung des Proletariats brauche die Führung einer organisierten, festen Grundsätzen folgenden Kraft. Die ihrer Führungsrolle bewußte, revolutionäre Partei müsse sich vor der falschen Ansicht hüten, sie sei die Quelle allen richtigen Denkens und Handelns und die Arbeiterklasse bleibe eine träge Masse ohne Initiative.

Die Sozialdemokratie hat allerdings, dank der theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen ihres Kampfes, in einem nie gekannten Maße Bewußtsein in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen, ihm Zielklarheit und Tragkraft verliehen. Sie hat zum erstenmal eine dauernde Massenorganisation der Arbeiter geschaffen und dadurch dem Klassenkampf ein festes Rückgrat gegeben. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, sich nun einzubilden, daß seitdem auch alle geschichtliche Aktionsfähigkeit des Volkes auf die sozialdemokratische Organisation allein übergegangen, daß die unorganisierte Masse des Proletariats zum formlosen Brei, zum toten Ballast der Geschichte geworden ist. Ganz umgekehrt. Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen. [6]

Die Partei soll daher nicht abstrakt irgendwelche Taktiken erfinden, sondern vor allem aus der Erfahrung der Massenbewegung lernen und sie verallgemeinern. Die entscheidenden Phasen der Geschichte der Arbeiterklasse haben die Richtigkeit dieser These vollauf bewiesen. Die Pariser Arbeiter schufen 1871 eine neue Staatsform – einen Staat ohne Berufsarmee und Bürokratie, in dem alle Funktionäre den durchschnittlichen Arbeiterlohn erhielten, jederzeit abwählbar waren usw.; dies alles bevor Marx daranging, Wesen und Struktur eines Arbeiterstaates theoretisch zu konzipieren. Die Arbeiter von Petersburg wiederum bildeten 1905, unabhängig von der bolschewistischen Partei, einen Sowjet, gegen den Willen der lokalen bolschewistischen Führung, während selbst Lenin sich damals skeptisch, wenn nicht ablehnend verhielt. Daher kann man Rosa Luxemburgs Formel von 1904 nur zustimmen:

Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht „erfunden“, sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. [7]

Arbeiter lernen nicht dadurch, daß ihre Führer ihnen didaktisch die Theorie vermitteln. Rosa Luxemburg argumentierte gegenüber Kautsky und Co.:

Die Masse muß, indem sie Macht ausübt, lernen, Macht auszuüben. Es gibt kein anderes Mittel, ihr das beizubringen. Wir sind nämlich zum Glück über die Zeiten hinaus, wo es hieß, das Proletariat sozialistisch zu schulen. Diese Zeiten scheinen für die Marxisten von der Kautskyschen Schule bis auf den heutigen Tag noch zu existieren. Die proletarischen Massen schulen, das heißt: ihnen Vorträge halten und Flugblätter und Broschüren verbreiten. Nein, die sozialistische Proletarierschule braucht das alles nicht. Sie werden geschult, indem sie zur Tat greifen. [8]

Rosa Luxemburg kommt zu dem Schluß: „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.“ [9]

Obwohl sie (völlig zu Recht) die schöpferische Kraft der Arbeiterklasse so stark betonte, neigte Rosa Luxemburg doch dazu, die schädliche, retardierende Wirkung zu unterschätzen, die eine konservative Organisation auf den Kampf der Massen haben kann. Sie glaubte, daß der Aufschwung der Massen eine solche Führung beiseitefegen werde, ohne daß die Bewegung selbst ernsthaften Schaden erleiden würde. 1906 schrieb sie:

Wird es in Deutschland aus irgendeinem Anlag und in irgendeinem Zeitpunkt zu großen politischen Kämpfen, zu Massenstreiks kommen, so wird das zugleich eine Ära gewaltiger gewerkschaftlicher Kämpfe in Deutschland eröffnen, wobei die Ereignisse nicht im mindesten danach fragen werden, ob die Gewerkschaftsführer zu der Bewegung ihren Segen gegeben haben oder nicht. Stehen sie auf der Seite oder suchen sich gar der Bewegung zu widersetzen, so wird der Erfolg dieses Verhaltens nur der sein, daß die Gewerkschaftsführer genau wie die Parteiführer im analogen Fall von der Welle der Ereignisse einfach auf die Seite geschoben und die ökonomischen wie die politischen Kämpfe der Masse ohne sie ausgekämpft werden. [10]

Und sie wurde nicht müde, diese These immer wieder vorzutragen.

 

 

Die historischen Wurzeln der Ansichten Rosa Luxemburgs

Um die Gründe für Rosa Luxemburgs mögliche Unterschätzung der Rolle der Organisation und ihre mögliche Überschätzung der Rolle der Spontaneität zu verstehen, muß man die Situation in Rechnung stellen, in der sie arbeitete. Zunächst mußte sie die opportunistische Führung der deutschen sozialdemokratischen Partei bekämpfen. Diese Führung betonte den Faktor der Organisation über alle Gebühr und schätzte die Spontaneität der Massen gering. Selbst dort, wo sie zum Beispiel die Möglichkeit eines Massenstreiks anerkannten, argumentierten die Reformisten folgendermaßen: Die Bedingungen, unter denen der politische Massenstreik ausgelöst wird, und der richtige Zeitpunkt – z.B. wenn die Streikkassen der Gewerkschaften voll sind –, wird von der Partei- und Gewerkschaftsführung allein festgelegt. Sie fixieren auch die Ziele des Streiks, die nach Ansicht von Bebel, Kautsky, Hilferding, Bernstein und anderen im Kampf für das allgemeine Wahlrecht oder zur Verteidigung des Parlamentarismus bestehen sollten. Vor allem sollte man daran festhalten, daß die Arbeiter nur auf Befehl der Partei und ihrer Führung handeln. Gegen diese Vorstellung von der mächtigen Parteiführung und den ohnmächtigen Massen stand Rosa Luxemburg auf. Und sie mag dabei den Bogen etwas überspannt haben.

Ein anderer Flügel der Arbeiterbewegung, gegen den Rosa Luxemburg zu kämpfen hatte, war die polnische PPS. Die PPS war eine chauvinistische Organisation, und ihr Hauptziel die nationale Unabhängigkeit Polens. Für diesen Kampf gab es aber keine gesellschaftliche Massenbasis: Die Großgrundbesitzer und die Bourgeoisie beteiligten sich nicht am Unabhängigkeitskampf, während das polnische Proletariat (das die russischen Arbeiter als seine Verbündeten ansah) nicht für einen Nationalstaat kämpfen wollte (siehe: Rosa Luxemburg und die nationale Frage, Kapitel VI). Unter diesen Bedingungen ließ sich die PPS auf abenteuerliche Aktivität ein, wie z.B. die Organisation von Terroristengruppen etc. Solche Aktionen waren jedoch nicht Sache der ganzen Arbeiterklasse, sondern nur der Parteiorganisationen. Auch hier galt der gesellschaftliche Prozeß wenig, die Entscheidung der Führung alles. Auch in ihrem langen Kampf gegen den Voluntarismus der PPS betonte Rosa Luxemburg den Faktor der Spontaneität.

Eine dritte Richtung der Arbeiterbewegung, gegen die Rosa zu Felde zog, war der Syndikalismus, eine Kombination aus Anarchismus und Gewerkschaften, wobei der anarchistische Individualismus einer übertriebenen Betonung der Organisation Platz machte. Die stärkste Basis hatte diese Strömung in Frankreich, wo sie ihre Kraft aus der industriellen Rückständigkeit und noch mangelnden Konzentration der Wirtschaft zog. Der Syndikalismus gedieh nach den Niederlagen, die die französische Arbeiterbewegung 1848 und 1871 davongetragen hatte, und nach dem Verrat Millerands und der Partei Jaurès, der bei den Arbeitern ein Mißtrauen gegenüber jedem politischen Handeln und jeder politischen Organisation hervorrief. Der Syndikalismus identifizierte den Generalstreik mit der sozialen Revolution, statt ihn nur als ein wichtiges Element der modernen Revolution zu betrachten. Er glaubte, der Generalstreik könne auf Befehl ausgelöst werden und der Sturz der bürgerlichen Herrschaft werde unweigerlich folgen. Das war wiederum eine zu simple und einseitige Konzeption des revolutionären Faktors: der Glaube, der voluntaristische und freie Wille der Führer könne, unabhängig vom Zwang eines Massenaufstandes entscheidende Aktionen initiieren. Die deutschen Reformisten wiesen diesen Voluntarismus zwar zurück, entwickelten aber eine ähnliche Politik. Wo die französischen Syndikalisten eine Karikatur des Massenstreiks und der Revolution zeichneten, machten sich die deutschen Opportunisten insgesamt über die Theorie des Massenstreiks und der Revolution lustig und warfen sie über Bord. Zur gleichen Zeit, als Rosa gegen die deutsche Ausgabe des Voluntarismus kämpfte, kritisierte sie auch die französische Version in ihrer syndikalistischen Form und machte deutlich, daß es sich dabei im wesentlichen um eine bürokratische Ablehnung der Initiative und Spontaneität der Arbeiter handelte.

 

 

Kritik an Rosa Luxemburgs Ansichten über das Verhältnis von Klasse und Partei

Der Hauptgrund für Rosa Luxemburgs Überschätzung des Faktors der Spontaneität und ihre Unterschätzung des Faktors der Organisation liegt wahrscheinlich in der Notwendigkeit, im unmittelbaren Kampf gegen den Reformismus die Spontaneität als den ersten Schritt bei jeder Revolution zu betonen. Dieses eine Stadium im Kampf des Proletariats setzte sie vorschnell mit dem ganzen Kampf gleich.

Revolutionen beginnen in der Tat als spontane Handlungen ohne Führung einer Partei. Die Französische Revolution begann mit dem Sturm auf die Bastille. Niemand organisierte ihn. Gab es eine Partei an der Spitze des rebellierenden Volkes? Nein. Selbst die zukünftigen Führer der Jakobiner, etwa Robespierre, stellten sich der Monarchie noch nicht entgegen und waren noch nicht in einer Partei organisiert. Die Revolution vom 14. Juli 1789 war ein spontaner Akt der Massen. Dasselbe gilt für die russischen Revolutionen von 1905 und vom Februar 1917. Die Revolution von 1905 begann mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen der zaristischen Armee und Polizei auf der einen Seite und der Masse der Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder auf der anderen Seite, die von dem Popen Gapon (der in Wahrheit ein agent provocateur des Zaren war) angeführt wurden. Waren die Arbeiter von einer entschlossenen Führung, die eine eigene sozialistische Politik ausgearbeitet hatte, organisiert? Sicherlich nicht. Sie trugen Ikonen mit sich und wollten ihr geliebtes „Väterchen“ – den Zaren – bitten, ihnen gegen ihre Ausbeuter zu helfen. Dies war der erste Schritt einer großen Revolution. Zwölf Jahre später, im Februar 1917, erhoben sich die Massen wiederum spontan, diesmal mit mehr Erfahrung und mit mehr Sozialisten in ihren Reihen als in der vorangegangenen Revolution. Kein Historiker hat den Organisator der Februarrevolution herausfinden können, denn sie war nicht organisiert.

Sobald sie jedoch durch einen spontanen Aufstand ausgelöst sind, entwickeln sich Revolutionen in anderer Weise. In Frankreich wurde der Übergang von der halb-republikanischen Regierung der Gironde zu der revolutionären, die die feudalen Eigentumsverhältnisse vollständig vernichtete, nicht von unorganisierten Massen ohne eine Parteiführung vollzogen, sondern unter deutlicher Führung der Jakobiner-Partei. Ohne eine solche Partei am Ruder wäre dieser wichtige Schritt, der den allgemeinen Kampf gegen die Girondisten voraussetzte, unmöglich gewesen. Das Volk von Paris konnte sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung spontan und führerlos gegen den König erheben. Aber die Mehrheit war zu konservativ, hatte zu wenig historische Erfahrung und Wissen, um nach nur zwei oder drei Revolutionsjahren zwischen denen, die die Revolution vorwärtstreiben wollten, und denen, die auf einen Kompromiß abzielten, unterscheiden zu können. Die historische Situation verlangte einen Kampf gegen die Partei des Kompromisses, die Verbündeten von gestern, bis zum bitteren Ende. Die bewußte Führung dieses großen Unternehmens stellten die Jakobiner, die den Zeitpunkt festsetzten und den Sturz der Gironde am 10. August 1792 bis ins letzte Detail organisierten. Ähnlich war auch die Oktoberrevolution kein spontaner Akt, sondern einschließlich des Zeitpunkts in praktisch allen wichtigen Einzelheiten von den Bolschewiki organisiert. Während des Hin und Hers der Revolution zwischen Februar und Oktober – der Juni-Demonstration, den Julitagen und dem darauf folgenden geordneten Rückzug, dem Zurückschlagen des rechten Kornilow-Putsches etc. – kamen die Arbeiter und Soldaten stärker unter den Einfluß und die Leitung der bolschewistischen Partei. Und eine derartige Partei war notwendig, um die Revolution aus ihren Anfangsstadien zu ihrem endgültigen Sieg zu führen.

Auch wenn man zugibt, daß Rosa Luxemburg die Bedeutung einer solchen Partei vielleicht unterschätzte, sollte man ihr wahrhaft großes historisches Verdienst nicht zu gering einschätzen: daß sie nämlich angesichts des vorherrschenden Reformismus die wichtigste Kraft betonte, die die konservative Kruste durchbrechen konnte – die Spontaneität der Arbeiter. Rosa Luxemburgs Stärke lag in ihrem uneingeschränkten Vertrauen auf die historische Initiative der Arbeiterklasse.

Wenn auch einige Mängel, vor allem im Hinblick auf die Vermittlung von Spontaneität und Führung während der Revolution, in der Luxemburgschen Konzeption aufgezeigt werden können, so bedeutet dies noch nicht, daß ihre Kritiker in der revolutionären Bewegung, vor allem auch Lenin, in allen Punkten einer genaueren, ausgewogenen marxistischen Analyse näher gewesen wären.

 

 

Lenins Konzeption

Während Rosa Luxemburg in einer Umgebung arbeitete, in der der Hauptfeind des revolutionären Sozialismus der bürokratische Zentralismus war, und sie daher ständig die elementare Aktivität der Massen betonte, hatte Lenin es mit der amorphen Arbeiterbewegung Rußlands zu tun, wo die größte Gefahr darin lag, die Frage der Organisation zu unterschätzen. Ebenso wie man Rosa Luxemburgs Ansichten nicht ohne den Hintergrund der Länder und Arbeiterbewegungen, in denen sie arbeitete, versteht, kann man Lenins Position nicht abgelöst von den konkreten historischen Bedingungen der Arbeiterbewegung in Rußland begreifen.

Lenins Verständnis des Verhältnisses von Spontaneität und Organisation findet sich vor allem in seinen Arbeiten Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1901-02) und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Die Krise in unserer Partei (1904). Zur Zeit ihrer Niederschrift konnte die russische Arbeiterbewegung ihrer Stärke nach nicht mit der westeuropäischen, insbesondere der deutschen, verglichen werden. Sie bestand aus isolierten, kleinen, mehr oder weniger autonomen Gruppen ohne gemeinsam erarbeitete Politik und wurde nur wenig durch die führenden Marxisten im Ausland, wie Plechanow, Lenin, Martow und Trotzki, beeinflußt. Diese Gruppen verfolgten wegen ihrer Schwäche und Isolierung nur beschränkte Ziele. Während die russischen Arbeiter in Massenstreiks und Demonstrationen eine ständig wachsende Kampfbereitschaft entwickelten, sahen die sozialistischen Gruppen nur unmittelbar realisierbare ökonomische Forderungen; diese „ökonomistische“ Tendenz war die vorherrschende. Lenins Was tun? war ein gnadenloser Angriff gegen den „Ökonomismus“ oder die reine Gewerkschaftspolitik. Er argumentierte, die Spontaneität des Massenkampfes – die im damaligen Rußland überall ins Auge fiel – müsse durch das Bewußtsein und die Organisation einer Partei ergänzt werden. Eine nationale Partei mit einer eigenen zentralen Zeitung müsse geschaffen werden, um die lokalen Gruppierungen zu vereinigen und die Arbeiterbewegung mit politischem Bewußtsein zu durchdringen. Die sozialistische Theorie müsse von außen an das Proletariat herangetragen werden; nur auf diesem Wege könne die Arbeiterbewegung direkt zum Kampf für den Sozialismus geführt werden. Die projektierte Partei würde weitgehend aus Berufsrevolutionären bestehen, die unter einer extrem zentralisierten Führung arbeiten müßten. Die politische Führung der Partei müßte zugleich die Redaktion der zentralen Zeitung bilden. Sie müßte die Macht haben, Parteiorganisationen im Lande zu organisieren oder zu reorganisieren, Mitglieder aufzunehmen oder auszuschließen und lokale Führungen zu ernennen. In einer Kritik der Menschewiki schrieb Lenin 1904:

Die Grundidee des Genossen Martow ... ist eben ein falscher "Demokratismus", die Idee des Aufbaus der Partei von unten nach oben. Umgekehrt ist meine Idee bürokratisch in dem Sinne, daß die Partei von oben nach unten aufgebaut wird, vom Parteitag zu den einzelnen Zellen. [11]

Wie oft haben Stalinisten und viele sogenannte Nicht-Stalinisten, die zahlreichen Epigonen Lenins, Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück so zitiert, als seien sie universell anwendbar, für alle Länder und Bewegungen ungeachtet des Entwicklungsstandes!

Lenin stand diesen sogenannten Leninisten fern. Schon 1903, auf dem zweiten Kongreß der Sozialdemokratischen Partei Rußlands, markierte er einige Übertreibungen in den Formulierungen von Was tun?: „Wir alle wissen jetzt, daß die Ökonomisten den Bogen nach der einen Seite überspannt haben. Um ihn wieder auszurichten, mußte ich ihn nach der anderen Seite spannen, und das habe ich getan.“ [12]

Zwei Jahre später, in einem Resolutionsentwurf für den dritten Kongreß, betonte Lenin, daß seine Ansichten zur Organisationsfrage nicht allgemein anwendbar seien: „Unter freien politischen Verhältnissen kann und wird unsere Partei vollständig auf dem Prinzip der Wählbarkeit aufgebaut sein. Unter der Selbstherrschaft ist das für die Gesamtheit der Tausende von Arbeitern, die der Partei angehören, undurchführbar.“ [13]

Während der Revolution von 1905 – und angesichts des ungeheuren Zustroms von neuen Mitgliedern – sprach Lenin nicht mehr von Berufsrevolutionären. Die Partei sollte nicht länger eine Elite-Organisation sein:

Ich habe auf dem III. Parteitag den Wunsch ausgesprochen, daß in den Parteikomitees auf etwa acht Arbeiter zwei Intellektuelle kommen sollen. [14] Wie veraltet ist dieser Wunsch!Jetzt wäre zu wünschen, daß in den neuen Parteiorganisationen auf ein Parteimitglied der sozialdemokratischen Intelligenz einige hundert sozialdemokratische Arbeiter kommen. [15]

Während Lenin in Was tun? geschrieben hatte, daß die Arbeiter aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein erreichen könnten, schrieb er nun: "Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch." [16]

Die besondere Lage des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft führt dazu, daß das Streben der Arbeiter nach dem Sozialismus, ihr Bündnis mit der sozialistischen Partei schon in den frühesten Stadien der Bewegung mit Elementargewalt durchbricht. [17]

Während Lenin im Jahre 1902 sich die Partei als eine verschworene kleine Gruppe mit sehr exklusiven Mitgliedschaftsbedingungen vorgestellt hatte, schrieb er 1905, Arbeiter sollten zu Hunderttausenden in die Parteiorganisationen aufgenommen werden. 1907 wiederum, in einem Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Zwölf Jahre, sagte Lenin:

Der Grundfehler jener, die heute gegen Was tun? polemisieren, ist der, daß sie dieses Werk völlig aus dem Zusammenhang mit einer bestimmten historischen Situation, einer bestimmten, jetzt schon längst vergangenen Entwicklungsperiode unserer Partei herausreißen.

Was tun? korrigiert polemisch den Ökonomismus, und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb dieser Aufgabe zu betrachten. [18]

Da er Was tun? nicht mißbraucht sehen wollte, gab Lenin 1921 die vorgeschlagene Übersetzung in nicht-russische Sprachen nicht frei. Er sagte zu Max Levien, dies sei nicht angebracht, die Übersetzung müsse zumindest mit einem guten Kommentar veröffentlicht werden, den ein mit der Geschichte der KPdSU vertrauter russischer Genosse schreiben müßte, damit keine falschen Schlüsse gezogen werden könnten. [19]

Als die Kommunistische Internationale ihre Statuten diskutierte, sprach Lenin gegen den Entwurf, weil er, wie er sagte, „zu russisch“ sei und die Zentralisation überbetone, obwohl diese Statuten die Freiheit der Kritik innerhalb der Partei und die Kontrolle der Parteiführung von unten vorsahen. Überzentralisierung, meinte Lenin, werde den Bedingungen in Westeuropa nicht gerecht. (Es ist richtig, daß in Lenins eigener Partei zu dieser Zeit die Organisation in hohem Maße zentralisiert und sogar halb-militärisch war, aber diese Form war ihr durch die überaus harten Bedingungen des Bürgerkriegs aufgezwungen.)

Lenins Ansichten zur Organisationsproblematik – seine Überbetonung des Zentralismus – müssen vor dem Hintergrund der russischen Verhältnisse beurteilt werden.

Im rückständigen, zaristischen Rußland, wo die Arbeiterklasse eine kleine Minderheit darstellte, konnte der Grundsatz, daß die Arbeiterklasse sich nur selber befreien kann, sehr leicht mißachtet werden; um so leichter, als Rußland eine sehr lange Tradition von Minderheitenorganisationen kannte, die versucht hatten, sich an die Stelle fehlender elementarer Massenaktivität zu setzen. In Frankreich war es das Volk, das die Monarchie und den Feudalismus stürzte; in Rußland versuchten es die Dekabristen und Narodniki-Terroristen auf eigene Faust. [20]

Marx’ oben zitierte Sätze über den demokratischen Charakter der sozialistischen Bewegung (siehe Anm.2), und die Bestimmung Lenins, nach der die revolutionären Sozialdemokraten unlösbar mit der Organisation des Proletariats verbundene Jakobiner sein sollen, widersprechen sich eindeutig. Eine bewußte organisierte Minderheit an der Spitze einer unorganisierten Volksmasse entspricht dem Modell einer bürgerlichen Revolution, die schließlich immer eine Revolution im Interesse einer Minderheit ist. Aber die Trennung der bewußten Minderheit von der unbewußten Mehrheit, die Trennung von geistiger und manueller Arbeit, die Existenz von Manager und Vorarbeiter auf der einen und einer Masse gehorsamer Hilfsarbeiter auf der anderen Seite kann auf den "Sozialismus" nur übertragen werden, wenn man das Prinzip des Sozialismus umstößt, wonach die Arbeiter selbst ihr Geschick kollektiv kontrollieren müssen.

Nur wenn man Luxemburgs und Lenins Konzeptionen einander gegenüberstellt, kann man deren historische Begrenztheit einschätzen, die ohne Zweifel von den spezifischen Bedingungen, unter denen beide arbeiteten, geprägt waren.

 

 

Gegen das Sektierertum

Emphatisch vertrat Rosa Luxemburg den Grundsatz, die Befreiung der Arbeiterklasse könne nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, darum war sie auch gegenüber allen sektiererischen Tendenzen unduldsam, die auf Abtrennung von der Massenbewegung und den Massenorganisationen hinausliefen.

Obwohl sie jahrelang mit der Mehrheitsführung der deutschen sozialdemokratischen Partei in Fehde lag, bestand sie darauf, daß es die Pflicht revolutionärer Sozialisten sei, in dieser Organisation zu bleiben. Selbst als sich die SPD auf die Seite des imperialistischen Krieges geschlagen hatte, und nachdem Karl Liebknecht (am 12. Januar 1916) aus der Parlamentsfraktion der SPD ausgeschlossen worden war, blieben Luxemburg und Liebknecht in der Partei, mit der Begründung, durch Abspaltung würde die revolutionäre Gruppe zu einer Sekte werden. Sie vertrat diese Ansicht nicht nur solange sie eine winzige, unbedeutende revolutionäre Gruppe anführte, sondern hielt auch dann noch daran fest, als der Spartakusbund an Einfluß gewann und bei Fortdauer des Krieges zu einer beachtlichen Macht wurde.

Wie wir gesehen haben, stimmte am 2. Dezember 1914 nur ein Abgeordneter, Liebknecht, gegen die Kriegskredite. Im März 1915 schloß sich ihm ein zweiter an, Otto Rühle. Im Juni 1915 unterzeichneten tausend Parteifunktionäre ein Manifest gegen die Politik der Klassenkollaboration, und im Dezember 1915 stimmten zwanzig Abgeordnete im Reichstag gegen die Kriegskredite.

Im März 1916 schloß die Reichstagsfraktion der SPD die wachsende Opposition aus, obwohl sie nicht die Macht hatte, sie aus der Partei auszuschließen.

Was im Reichstag geschah, spiegelt nur wider, was draußen vor sich ging, in den Fabriken, auf den Straßen, in den Parteigliederungen und in der Sozialistischen Jugend.

Von der Anti-Kriegs-Zeitung Die Internationale, die Rosa Luxemburg und Franz Mehring herausgaben, wurden 5.000 Exemplare der ersten und einzigen Nummer an einem Tag verteilt (sie wurde sofort von der Polizei unterdrückt). [21] Die Sozialistische Jugend erklärte sich auf einer Geheimkonferenz Ostern 1916 mit überwältigender Mehrheit für Spartakus. Am 1. Mai 1916 kamen 10.000 Arbeiter auf dem Potsdamer Platz in Berlin zu einer Anti-Kriegs-Demonstration zusammen. Auch in anderen Städten wie Dresden, Jena, Hanau fanden Anti-Kriegs-Demonstrationen statt. Am 28. Juni 1916, dem Tag, an dem Liebknecht zu zweieinhalb Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, streikten 55.000 Berliner Munitionsarbeiter aus Solidarität mit ihm. Am gleichen Tag fanden Demonstrationen und Streiks in Stuttgart, Bremen, Braunschweig und anderen Städten statt. Unter dem Einfluß der russischen Revolution verbreitete sich im April 1917 eine riesige Welle von Rüstungsstreiks über das ganze Land; 300.000 Arbeiter streikten allein in Berlin. Eine weitere Welle von Munitionsarbeiterstreiks erfaßte im Januar/Februar 1918 eineinhalb Millionen Arbeiter. Diese Streiks waren ihrem Charakter nach weitgehend politisch. Der Berliner Streik von etwa einer halben Million Arbeitern forderte sofortigen Frieden ohne Annexionen und Reparationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker; die zentrale Parole war: „Frieden, Freiheit, Brot“. Während des Streiks wurden sechs Arbeiter getötet und viele verwundet. Tausende von Streikenden wurden in die Armee eingezogen. Vor diesem Hintergrund fuhr Rosa fort, für das Verbleiben in der SPD einzutreten, bis zum April 1917, als das von Kautsky, Bernstein und Haase geführte Zentrum sich von der Rechten abspaltete und eine neue Partei gründete, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Die USPD war eine rein parlamentarische Partei, die die Arbeiter nicht zu Massenstreiks und Demonstrationen gegen den Krieg bewegen, sondern die Regierungen der kriegführenden Länder unter Druck setzen wollte, über den Frieden zu verhandeln. Der Spartakusbund, im Januar 1916 als Fraktion innerhalb der SPD gegründet, schloß sich nur lose der USPD an, behielt jedoch seine separate Organisation und sein Recht auf unabhängiges Vorgehen. Erst nach dem Ausbruch der deutschen Revolution (am 29. Dezember 1918) trennte sich der Bund endgültig von der USPD und gründete eine unabhängige Partei, die Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakus).

Aus den Reihen der Revolutionäre war ständig auf den Austritt aus der SPD und später aus der USPD gedrängt worden. Aber Rosa Luxemburg stellte sich dem entgegen. 1891 hatte es einen Präzedenzfall gegeben, als eine recht große Gruppe von Revolutionären sich von der SPD abspaltete (die „Jungen“), sie des Reformismus beschuldigte und eine unabhängige sozialistische Partei gründete. Sie hatte jedoch nur eine sehr kurze Lebensdauer und verschwand bald vollständig.

Am 6. Januar trat Rosa Luxemburg gegen die Revolutionäre auf, die sich von der SPD abspalten wollten:

So löblich und begreiflich die Ungeduld und der bittere Groll sind, aus denen heraus sich heute die Flucht vieler der besten Elemente aus der Partei ergibt: Flucht bleibt Flucht, uns ist sie ein Verrat an den Massen, die in der würgenden Schlinge der Scheidemann und Legien, der Bourgeoisie auf Gnade und Ungnade preisgegeben, zappeln und ersticken. Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man „austreten“, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen „Austritt“ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen. Das Hinwerfen des Mitgliedsbuchs als Befreiungsillusion ist nur die auf den Kopf gestellte Verhimmelung des Mitgliedsbuchs als Machtillusion, beides nur die verschiedenen Pole des Organisationskretinismus, dieser konstitutionellen Krankheit der alten deutschen Sozialdemokratie. Der Zerfall der deutschen Sozialdemokratie ist ein geschichtlicher Prozeß größter Dimensionen, eine Generalauseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, und von diesem Schlachtfeld drückt man sich nicht vor Ekel auf die Seite, um im Winkel unter dem Busch reinere Luft zu atmen. Diesen Riesenkampf gilt es auszufechten bis zum äußersten. An der tödlichen Schlinge der offiziellen deutschen Sozialdemokratie und der offiziellen freien Gewerkschaften, die die herrschende Klasse um den Hals der verirrten und verratenen Massen gelegt hat, gilt es zu zerren mit vereinten Kräften, bis sie zerreißt, und den betörten Massen gilt es in diesem schwersten Kampfe um ihre Befreiung beizustehen, sie treu mit der Brust zu verteidigen. Die Liquidierung des “Haufens organisierter Verwesung“, der sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt, ist nicht als Privatangelegenheit in den Entschluß einzelner oder vereinzelter Gruppen gegeben. Sie wird sich als unvermeidlicher Nachtrag dem Weltkriege anschließen und muß als große öffentliche Machtfrage unter Aufbietung aller Kräfte ausgefochten werden. Die entscheidenden Würfel des Klassenkampfes in Deutschland werden für Jahrzehnte in dieser Generalauseinandersetzung mit den Instanzen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften fallen, und da gilt für jeden von uns bis zum letzten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ [22]

Ihr Widerstand gegen den Austritt aus der sozialdemokratischen Massenpartei bedeutete keinerlei Konzessionen an den Reformismus. So wurde bei einer Spartakus-Konferenz am 7. Januar 1917 die folgende, von ihr angeregte Resolution verabschiedet: „Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu durchkreuzen und zu bekämpfen, die Massen von der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen, antimilitaristischen Klassenkampf zu benutzen.“ [23]

Rosa Luxemburgs Weigerung, eine unabhängige revolutionäre Partei zu gründen, folgte ihrer langsamen Reaktion auf veränderte Bedingungen. Diese Weigerung war ein zentraler Faktor für die Verspätung bei der Gründung einer revolutionären Partei in Deutschland. Vor diesem Problem stand sie jedoch nicht allein. Lenin brach mit Kautsky nicht schneller als Rosa. Es gibt keine Begründung für die stalinistische Behauptung, derzufolge Lenin dagegen opponiert hätte, daß die revolutionäre Linke in der SPD verblieb und weiterhin mit Kautsky zusammenarbeitete. [24] Tatsächlich wußte Rosa Luxemburg die Kautsky und Co. klarer einzuschätzen als Lenin und brach mit ihnen früher als er. Fast zwei Jahrzehnte hielt Lenin Kautsky für den bedeutendsten lebenden Marxisten. Hierfür einige Beispiele: In Was tun? wird Kautsky als wichtigste Autorität für das Thema dieser Arbeit zitiert, und Lenin lobt die deutsche sozialdemokratische Partei als Modell für die russische Bewegung. Im Dezember 1906 schrieb Lenin: „Die fortgeschrittenen russischen Arbeiter kennen Karl Kautsky seit langem als ihren Schriftsteller.“ [25] Er bezeichnete Kautsky als Führer der deutschen revolutionären Sozialdemokraten. [26] Im August 1908 zitierte er Kautsky als seine Autorität in Fragen des Krieges und des Militarismus. [27] 1910, anläßlich Rosa Luxemburgs Debatte mit Kautsky über die Frage des Weges zur Macht, stellte sich Lenin gegen Rosa Luxemburg auf Kautskys Seite. Und noch im Februar 1914 führte Lenin in seinem Streit mit Rosa Luxemburg über die nationale Frage Kautsky als marxistische Autorität ins Treffen. Erst der Ausbruch des Krieges und der Verrat des Internationalismus durch Kautsky erschütterten Lenins Illusionen über ihn. Dann gab er zu:

Rosa Luxemburg hatte recht, als sie bereits vor langer Zeit schrieb, Kautsky sei die „Servilität des Theoretikers“ eigen, die Kriecherei, einfacher gesagt, die Kriecherei vor der Mehrheit der Partei, vor dem Opportunismus. [28]

 

 

Zusammenfassung

Die Organisationsform der sozialistischen Arbeiterbewegung ist überall und auf jeder Entwicklungsstufe des Kampfes um die Macht von großer Bedeutung für die Bildung der Arbeitermacht selbst. Darum haben Debatten über die Organisationsform der revolutionären Partei eine weitergehende Bedeutung und sind nicht durch die Übernahme eines auf die spezifischen Bedürfnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe zugeschnittenen Organisationsmodells erledigt. In keinem Lande wurde die Organisationsdebatte in so schroffer Form ausgetragen wie in der russischen Arbeiterbewegung. Das hing zu einem guten Teil mit der Distanz zwischen dem Endziel der Bewegung und der autokratischen, halbfeudalen Realität zusammen, in der sie entstand– einer Realität, die die Bildung einer freien Arbeiterorganisation verhinderte.

Reflektierte Rosa Luxemburgs Konzeption das Verhältnis von Spontaneität und Organisation im Hinblick auf die unmittelbaren Bedürfnisse von Revolutionären in einer durch eine konservative Bürokratie kontrollierten Arbeiterbewegung, so entsprach Lenins ursprüngliche Position – die von 1902/04 – dem amorphen Charakter einer lebendigen, kämpfenden revolutionären Bewegung im ersten Stadium ihrer Entwicklung unter einem rückständigen, halbfeudalen und autokratischen Regime.

Welches auch immer die historischen Bedingungen gewesen sein mögen, die Rosas Vorstellungen zur Organisationsfrage beeinflußten, – diese Vorstellungen offenbarten eine große Schwäche der deutschen Revolution von 1918-19.

 

 

Anmerkungen

1. a.a.O., S.30.

2. Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1847-48), zit. nach MEW, Bd.4, S.473.

3. Friedrich Engels, Einleitung zu Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (Ausgabe 1895), zit. nach MEW, Bd.22, S.523.

4. Die Nationalversammlung, 20. November 1918, zit. nach ARuS, Bd.II, S.606

5. Was will der Spartakusbund? (1918) zit. nach PS II, S.169f.

6. Taktische Fragen (1913), zit. nach GW IV, Berlin 1928, S.639

7. Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie (1904), zit. nach PS III, S.92.

8. Unser Programm und die politische Situation. Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD (Spartakusbund), 31. Dezember 1918, zit. nach PS II, S.200.

9. Organisationsfragen ..., a.a.O., S.105

10. Massenstreik ..., a.a.O., S.209, nach dem Text der 2. Aufl.

11. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Die Krise in unserer Partei (1904), zit. nach Lenin, Werke, Bd.7, Berlin 1966, S.140, Anm.

12. Rede zum Parteiprogramm vor dem II. Parteitag der SDAPR (1903); zit. nach Werke, Bd.6, S.490.

13. Resolutionsentwürfe für den III. Parteitag der SDAPR: Resolution über das Verhältnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen in der sozialdemokratischen Partei (1905), zit. nach Werke, Bd.8, S.184.

14. Siehe Werke, Bd.8, S.405. (Anm. d. Übersetzer)

15. Über die Reorganisation der Partei (1905), zit. nach Werke, Bd.10, S.20, Anm.

16. a.a.O., S.16.

17. Sozialistische Partei und parteiloser Revolutionarismus (1905); zit. nach Werke, Bd.10, S.63.

18. zit. nach Werke, Bd.14, S.93 u. S.100.

19. Tatsächlich wurde diese Broschüre ohne den von Lenin für notwendig gehaltenen Kommentar in viele Sprachen übersetzt.

20. Es war kein Zufall. daß die russischen Sozialrevolutionäre, die künftigen Feinde des Bolschewismus, mit Lenins Konzeption der Parteiorganisation sehr einverstanden waren. (I. Deutscher, Der bewaffnete Prophet, Stuttgart 1982, S.503, Anm.59 zu S.99).

21. Vgl. dazu den Bericht von Wilhelm Pieck, (1920), in Dokumente und Materialien II, 1, Berlin 1958, S.135.

22. Gracchus, d.i. R. Luxemburg, Offene Briefe an Gesinnungsfreunde. Von Spaltung, Einheit und Austritt, (6. Januar 1917); zit. nach DuM II. 1, S.525.

23. Resolutionsentwurf der Spartakusgruppe, eingebracht auf der Reichskonferenz der Parteiopposition vom 7. Januar 1917, zit. nach DuM II, 1, S.528

24. Siehe zum Beispiel: J.W. Stalin, Einige Fragen zur Geschichte des Bolschewismus, Werke XIII, S.86-104; DuM II, besonders das Vorwort von Walter Bartel, S.7-56; Fred Oelssner, Rosa Luxemburg, Berlin 1956.

25. Vorwort zur russischen Ausgabe der Broschüre: K. Kautsky, Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution, (1906), zit. nach Werke, Bd. II, S.409.

26. Das Proletariat und sein Alliierter in der russischen Revolution (1906), zit. nach Werke, Bd. II, S.364.

27. Werke, Bd.15, S.194.

28. Brief an A. Schljapnikow vom 27.10.1914, zit. nach Werke, Bd.35, S.142f.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003