Joseph Dietzgen

 

Das Kapital
von Marx

Eine Besprechung

(August/September 1868)


Zuerst erschienen im Demokratischen Wochenblatt, Leipzig, vom 1., 22., 29. August und 5. September 1868.
Aus Joseph Dietzgen, Ausgewählte Schriften, Berlin 1954, S.255-66.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Kritik der politischen Ökonomie
Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals

Wenn ich mich recht erinnere, war es Goethe, der sterbend nach „Licht, mehr Licht!“ verlangte. Was ihm nun der Mangel an irdischem Licht oder, wie vielleicht die Frommen es auslegen, das Voraussehen eines jenseitigen himmlischen Lichtes angetan hat, dieselbe Wirkung verursachte mir das Licht der Erkenntnis, welches das vorliegende Werk in überreichem Maße ausstrahlt. Licht, Licht! Das ist klar, das ist hell! hab’ ich gejubelt, wenn es nach und nach gelang, ein Kapitel nach dem anderen mit meinem Verständnis zu durchdringen. Geistige Arbeit ist wohl dazu erforderlich. Doch den Arbeiter, der gewohnt ist, im „Schweiße seines Angesichts“ nicht nur die eigenen Freuden zu erwerben, sondern auch noch die zehnfach größeren. anderer zu ermöglichen, wird das nicht abschrecken.

Ich für meinen Teil, der ich mich dem Leser als Lohgerber vorzustellen erlaube, habe mir, als ich anfänglich die Werke unserer Philosophen, nicht zu verstehen vermochte, wieder und wieder gesagt: Was andere können, mußt du auch können. Das Denken ist kein Privilegium der Professoren. Es bedarf dazu, wie zu irgendeiner Hantierung, nur der gewohnheitsmäßigen Übung. Das aber fängt doch auch endlich die große Masse der Arbeiter zu verstehen an, daß ohne Übung im Selbstdenken kein Heil ist. Man fängt endlich allgemein in unserer Klasse zu verstehen an, daß, wenn wir uns lange noch von anderen etwas wissen machen lassen, es auch noch lange Leute geben wird, welche aus diesem geistigen Vorteil sich eine materielle Ausbeute zu machen verstehen. Das erste Erfordernis eines Arbeiters, der mitarbeiten will an der Selbsterlösung seiner Klasse, besteht darin, sich nichts wissen machen zu lassen, sondern selbst zu wissen. Besonderes, Einzelnes, Spezielles mögen wir den Fachleuten überlassen. Aber die Kenntnis des Kapitals, unseres gemeinsamen mächtigen Gegners im sozialen Kampfe, ist ein allgemeines Klasseninteresse, dessen sich jeder anzunehmen hat. Hier ist es Zeit, von dem Steckenpferd Gebrauch zu machen, welches uns von den Wortführern und Advokaten des Kapitals so trefflich zu- und vorgeritten wird: Hierher gehört die „Selbsthilfe“.

Wenn der Mensch nicht die Mönchskutte anlegen, Barfüßler und Einsiedler werden und sich von Wurzeln und Kräutern nähren will, dann kann er auf wirtschaftlichem Gebiet sich nicht selbst helfen. Schulze-Delitzsch will hoffentlich die Arbeiter nicht zu Mönchen machen, und Lassalle gewiß nicht, daß sie wie Betbrüder auf Gottes und barmherziger Leute Hilfe warten. Beide wollen, daß man sich selber helfe. Aber alles das ist nicht unsere Selbsthilfe. Letztere gehört überhaupt nicht der Praxis, sondern dem Verständnis der Praxis, der wissenschaftlichen Belehrung an. Hier nur kann und muß das Individuum sich selber helfen. Hier gilt- und vornehmlich dem Arbeiter, weil ihn am meisten der Schuh drückt – das sokratische Wort: „Erkenne dich selbst.“

Der Verfasser reicht uns den Spiegel und das Licht dazu, nicht daß wir glauben, sondern daß wir sehen und erkennen.

Eine Riesenarbeit ist uns vorgelegt. Kein industrielles Produkt, erschaffen für die Interessen des Tages, für den Markt und seine Spekulanten. Auch ist es kein gelehrtes Scheinwerk, welches aus Eitelkeit mit seinem Objekte spielt um den Schein uns in die Augen glitzern läßt. Es ist eine Arbeit. Eine Arbeit, der man es ansieht, daß sie das Resultat eines ihr in unverbrüchlicher Liebe ergebenen Lebens ist. Und wieder hätte die Liebe allein nicht vermocht, diese Schätze der Wissenschaft aus dem wustigen Material der vergangenen Literatur und des gegenwärtigen Lebens herauszugraben, zu läutern und zu formieren. Es gehörte neben dem warmen Herzen für die Sache dazu ein eminenter Kopf, die unwiderstehliche Schärfe eines logischen Geistes, das seltene Talent eines genialen Denkers, der unermüdliche Fleiß eines gelehrten, wohlgeschulten Forschers.

Und der Gegenstand dieser Arbeit ist des Talente würdig das sich seiner angenommen. Als Objekt der Wissenschaft ist allerdings das Geringste würdig. Aber dennoch mögen wir, nach dem Maße des mehr oder minder Notwendigen und des mehr oder minder Allgemeinen, eines dem anderen unterordnen. Und was liegt nun dem Menschen überhaupt, besonders aber unserer Zeit und da wieder ganz vornehmlich dem Arbeiter näher als der gegenwärtige Produktionsprozeß der materiellen Lebensbedürfnisse? Die Erkenntnis dieses Prozesses, die Erforschung seiner Gesetze hat sich der Verfasser als Zweck, ich möchte sagen als Lebensaufgabe, erwählt. Es handelt sich dabei nicht um den einzelnen, nicht um die Frage, wie ich, du oder er seinen Proviant erwirbt, sondern um uns, um die Nation, oder besser, um die internationale Organisation der Arbeit.

Doch mißverstehe man das Wort nicht, als habe die Schrift es mit irgendeinem Projekt zu tun, mit persönlichen Ideen von der Ordnung der Dinge, die da kommen soll. Das Werk ist ein Produkt der Wissenschaft im höchsten Sinne des Wortes. Die Wissenschaft handelt nur von dem, was ist, vom faktisch Gegebenen nicht von Projekten oder wenn auch davon, dann nur insofern, als sie faktisch gegeben sind und störend in die Wissenschaft eingreifen.

Die internationale Organisation der Arbeit soll nicht erst werden, sondern sie ist. Daraus, daß wir nur indirekt von dem eigenen, direkt aber von dem internationalen Produkt der Arbeit leben, russisches Korn, holländische Heringe und amerikanische Baumwolle konsumieren, erweist sich, daß wir nicht mit vereinzelter, sondern mit gemeinschaftlicher, sozialer Arbeit produzieren. Das weiß nun jeder, daß diese Arbeit nicht als eine gemeinschaftliche, sondern als Privatarbeit erscheint. Doch ist es regelmäßig die Aufgabe der Wissenschaft, zu zeigen, daß der Schein trügt, daß nicht die Sonne tun die Erde kreist. Das soziale Wesen unserer privat geformten Arbeit zu erkennen, war die wissenschaftliche Aufgabe der politischen Ökonomie. Die Lösung dieser Aufgabe uns Karl Marx in dieser Kritik vorgelegt.

Der politischen Ökonomie als Wissenschaft ist es in ihrem geschichtlichen Verlauf sehr ähnlich ergangen wie der spekulativen Philosophie. Sie war sich weder ihres Objekts noch, der Methode klar bewußt, mit der sie es behandeln wollte. Ihr fehlte noch sehr das Kantsche Merkzeichen einer Wissenschaft: „der einhellige sichere Gang“. Liebig sagt: „Die induktive Methode; welche das Altertum weder kannte noch übte, hat seit ihrer Erscheinung die Weit umgestaltet. Die Schlüsse, zu denen man nach dieser Methode kommt, sind weiter nichts als der geistige Ausdruck für Erfahrungen und Tatsachen. Ein Blick in chemische oder physikalische Zeitschriften setzt in Erstaunen ... Jeder Tag bringt einen Fortschritt, und alles ohne Streit; man weiß, was eine Tatsache, ein Schluß, eine Regel, ein Gesetz, eine Meinung und eine Erklärung ist. Für alles dies hat man Probiersteine, die jeder erst braucht, ehe er die Früchte seiner Arbeit in Zirkulation setzt. Die advokatorische Durchführung einer Ansicht oder die Absicht, einen anderen etwas Unbewiesenes glauben zu machen, scheitern augenblicklich an der wissenschaftlichen Moral.“

Diese Moral hat den Nationalökonomen ganz und gar gefehlt. Sie sind heute noch ebenso uneinig über Wesen, Grenzen und Gestalt ihrer Wissenschaft wie Advokaten, Philosophen und Theologen. Bald suchen se die Wahrheit induktiv an der faktischen Erscheinung, bald glauben sie die gesuchten Erkenntnisse spekulativ, ohne sinnliches Objekt, ohne Erfahrung aus der Tiefe des menschlichen Geistes schöpfen zu können.

Das nun ist das erste wissenschaftliche Verdienst unseres Autors, daß er den sinnlichen Gegenstand seiner Forschung, das Objekt der Nationalökonomie, klar und offen bloßstellt. Wer von unseren heutigen sogenannten Volkswirten weiß zu sagen, ob die Volkswirtschaft ein Organismus, ein individuell gegliedertes Ganzes, oder ob sie nur ein Aggregat von Privatwirtschaften ist wie der Sandhaufen ein Haufen Sandkörner? Wer weiß, wo die Nationalökonomie und der Nationalreichtum und die Nationalarbeit anfangen und wo die Privatökonomie und der Privatreichtum und die Privatarbeit aufhören? Daß zwischen beiden ein Unterschied besteht, und zwar ein wesentlicher, hat die ökonomische Wissenschaft bisher zwar nicht totaliter verkannt, aber noch weniger erkannt. Der Unterschied hat ihr wohl gedämmert, aber sie ist sich dessen nicht bewußt geworden. Sie hat, wie Kant ein solches Gebaren nennt, „herumgetappt“.

Dieser Nebel weicht vor dem Geiste des Verfassers in geballten Wolken zurück. Wir lernen, daß der Privatbetrieb unserer Produktion nur die Form ist, welche das soziale, gemeinschaftliche Wesen derselben verbirgt. Je allgemeiner im Verlauf der Zeit das Produkt der Arbeit zu einer Ware geworden ist, um so allgemeiner hat die Arbeit aufgehört, Privatarbeit zu sein. Die Ware ist für den Markt, das Güterdepot der Gesellschaft bestimmt. Arbeit, welche nicht nur der Form, sondern auch dem Wesen nach Privatarbeit ist, schafft keinen Tauschwert, sondern nur Gebrauchswert. In der modernen Produktion, welche „darauf abzielt, ganz und allgemein den Ertrag der Arbeit in Ware zu verwandeln, erscheint die Tendenz, die Arbeit der Individuen in einen gesellschaftlichen Arbeitsprozeß zu metamorphisieren. Diese Tendenz ist zunächst aus der Natur der Dinge, instinktiv, ohne Wissen und Willen der Menschen entsprossen. Sie ist eine Angelegenheit der Personen, welche sich mystisch hinter Sachen, hinter die Produkte versteckt. Die Produkte werden getauscht, ver- und gekauft, in Werte, in Preise, in Geld, in Handelsartikel, in Kapital usw. verwandelt. Alle diese ökonomischen Verhältnisse sind nur unter der Bedingung zu begreifen, daß wir in der bürgerlichen Gesellschaft eine Art Produktivgenossenschaft erkennen, welche die Bemittelten als Produzenten zuläßt, die mittellose Arbeitskraft als Ware, als Rohprodukt behandelt und den Ertrag ihrer Arbeit unter die selbständigen Produzenten, jedoch nicht kollegialisch, sondern nach Maß der an die Gesellschaft gelieferten Arbeit verteilt Weil diese Gesellschaft mir ein geschichtliches Gewächs und nicht mit Bewußtsein konstituiert ist, so herrscht in ihr nicht der Zweck, sondern die blinde Notwendigkeit. Was, wieviel und in welcher Art produziert werden soll, ist der individuellen Willkür überlassen, welche von der Gesellschaft indirekter Weise, durch die Geschicke des Marktes geregelt wird. Der Produzent hat die „Freiheit“, zu tun, was er will, das heißt, die Gesellschaft schreibt nicht vor, sondern, belehrt nachträglich mittels Prämien und Ohrfeigen.

Wenn die Sache einen Kopf hätte und reden könnte, würde sie ihr Wesen ungefähr folgendermaßen explizieren: Ich, der Produktionsprozeß überhaupt, mit Hilfe der guten Mutter Natur Erzeuger aller menschlichen Bedürfnisobjekte, bin so alt und unvergänglich wie das Menschengeschlecht selbst. Jedoch bin ich, wie alles Irdische, dem Wechsel unterworfen. Ich erscheine in mannigfaltiger Form, als Wirtschaft des vereinzelten Individuums, als Familienwirtschaft, als Gemeindearbeit, als Sklavenarbeit, als zünftige oder als 2freie“ bürgerliche Wirtschaft usw. Volkswirtschaft aber war ich noch niemals, weil nie noch das Volk gewirtschaftet hat, sondern immer ist bewirtschaftet worden. Wenn ich auf meinen geschichtlichen Verlauf zurückblicke, erkenne ich wohl, daß ich meine große moderne Kraft und Produktionsfähigkeit der Entwicklung zu danken habe, welche aus vereinzelten Arbeiten eine solidarische gesellschaftliche Arbeit gemacht hat. Doch in dem Augenblick, wo ich so im Vollgenuß meiner Macht schwelge, werde ich zugleich gewahr, daß das Menschengeschlecht anfingt, über mich mächtig zu werden. Bisher habe ich die Völker mehr und mehr gebraucht und verbraucht, mir zu dienen. Zuerst habe ich die Arbeit mit der Peitsche des Sklavenhalters organisiert. Als dann die Besitzer der mittels ihrer Völker erzeugten Produkte diese nicht alle zu konsumieren vermochten und als meiner ferneren Entwicklung eine Störung drohte, versammelte ich die herrschenden Mächte der Menschheit und erklärte ihnen, daß es möglich sei, ihre Genüsse zu vergrößern, wenn sie alle ihre verschiedenen überflüssigen Produkte zu Markt brächten und dort das Gesamtprodukt als Produkt einer gemeinschaftlichen oder genossenschaftlichen Arbeit betrachten wollten, welches alsdann nach dem Maße der daran verbrauchten Arbeitszeit zu verteilen sei. So solle zum Beispiel der Wein, den ein römischer Sklave in gewisser Zeit, in einem Tage, einer Woche oder einem Jahre produziert habe, Äquivalent sein für die Korinthen, welche der Sklave der Griechen in derselben Zeit erzeugte. Um das wirtschaftliche Interesse noch höher zu spornen, machte ich die Klausel, daß nicht die wirkliche Zeit gelten sollte, welche zur Herstellung eines Produkts hin und wieder verbraucht worden, sondern der Wert bestimmt sei durch die Durchschnittszeit, welche das Produkt der Gesellschaft notwendig kosten müsse.

Auf den Widerspruch hin, daß Arbeit und Arbeit zweierlei ist, daß künstlerische gegenüber ordinärer Arbeit billigerweise einen größeren Wert beanspruche, daß es demnach unbillig sei, den Wert nur nach der Zeit tu bestimmen, machte ich plausibel, daß sie als Leute von Kopf diese Verschiedenheit leicht ausgleichen können, wenn die verschiedene Arbeit, wie verschiedene Brüche in der Arithmetik, vorher gleichnamig gemacht sei. Gebe man allen, auch den kompliziertesten Schöpfungen, den allgemeinen Nenner „einfache Durchschnittsarbeit“, so möge das Tagewerk von Abel zum Beispiel davon zwei und das Tagewerk von Kain nur eines gelten, ohne deshalb gegen die Idee zu verstoßen, den Wert aller Dinge nach der durchschnittlichen Zeitdauer zu berechnen, welche ihre Herstellung der Gemeinschaft kostet. Und liefere die kopflose Gemeinschaft dann zuviel von dieser oder zuwenig von einer anderen Warenart, so sei dem einzelnen die gelieferte Arbeitszeit gleichzurechnen der Arbeitszeit, welche die Gesellschaft zur Erzeugung des nötigen Quantums bedürfe. Kurz, ich erfand den Tauschwert, das ist die Verrechnung der Arbeit des einzelnen in gemeinschaftliche Durchschnittsarbeit.

Es war das ein wesentlicher Fortschritt, aber mich damit zufriedengeben durfte ich nicht. Ich wollte und will immer noch größer, reicher sein. Aus diesem Grunde erschuf ich ein zweites wesentliches Mittel meiner Ausdehnung: das Geld. Derart löste ich die widerspruchsvolle Aufgabe, selbständige Privatwirtschaften als eine organisierte Sozialwirtschaft fungieren zu lassen, mit einer besonderen Materie, welche widerspruchslos allgemein gilt und daher Geld ist.

Als die Ökonomie soweit politisch organisiert war, konnte ich die detaillierte Pflege dem Menschen überlassen. Das Privatinteresse war ja mit dem Interesse der Gesellschaft geschickt verbunden. So hat man denn auch mich gründlich protegieren gelernt. Um meinetwillen wurde den Sklaven zuerst die halbe und dann auch die ganze Freiheit geschenkt Sie wurden in hörige und schließlich auch in „freie“ Arbeiter verwandelt. Die Wirtschaft nahm eine antike, eine feudale, eine klein- und großbürgerliche, eine zünftige und kapitalistische Form an, wurde schutzzöllnerisch und freihändlerisch, alles das, je nachdem es mein Zweck, die Wirtschaftlichkeit erforderte. Für mich ist der Mensch in den Krieg und auf Entdeckungsreisen gegangen, hat er Knechtschaft und Freiheit erfunden, studiert und gearbeitet, gesorgt und gespart und Kapitalien gesammelt, die Wirtschaften bald detailliert und parzelliert, bald konzentriert und vergrößert. Doch war jede Veränderung ein Fortschritt, immer wurde ich, der Produktionsprozeß, mächtiger, größer, reicher, einträglicher. Ich habe so weit dominiert, daß ich von mir sagen darf, die Geschichte meiner Entwicklung war identisch mit der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit. Und je mehr Ich mich der Gegenwart nähere, je evidenter wird die Wahrheit dieses Satzes. Ja, so evident ist sie geworden, daß die Menschheit stützt und anfängt zu fragen: Bin denn ich, der Mensch, für den Produktionsprozeß da, oder ist nicht umgekehrt der Produktionsprozeß für mich?

Der Verfasser ist der erste, der die soziale Frage in dieser Weise klar formuliert. Er hat zuerst erkannt, daß die Erzeugung der materiellen Lebensbedürfnisse längst eine gesellschaftliche Angelegenheit gewesen und berufen ist, auch nunmehr mit Bewußtsein dazu gemacht zu werden. Die politische Ökonomie ist ihm nicht eine feste Substanz, eine Summe „ewiger Wahrheiten“, sondern eine flüssige Entwicklung. Sie ist die Basis der Kulturgeschichte. Die bisherige Kultur besteht in den Fortschritten der Produktivkraft menschlicher Arbeit. Die Produktivkraft war das treibende Motiv, und der Mensch und seine geschichtlichen Wandlungen nur Momente ihrer Entwicklung.

Dieser Kraft ist es in neuerer Zeit gelungen, sich bis zu einem Punkt zu kultivieren, wo sie einen Nationalreichtum erzeugt, der, statt die Nation so viel reichlicher leben zu lassen, sie, zu verhungern und zu verlumpen droht. Unser Nationalreichtum ist bekanntlich in Händen weniger einzelner. Die ökonomische Entwicklung hat es erfordert, ihn derart zu konzentrieren. Wo jeder Bauer ein Stückchen Land apart hat und jeder Weber auf eigenem Stuhle webt, ist die moderne Methode der Arbeit, welche in derselben Zeit vielleicht das Fünfzigfache leistet, unmöglich. Damit sich der Mensch nicht mehr abplage, als es die Natur der Dinge erfordert, müssen Landparzellen und Webstühle, kurz, die Arbeitsmittel zusammengerückt sein. Das physikalische Gesetz, welches einerseits den Hebel verlängern läßt, um andererseits ein größeres Gewicht zu bewegen, erscheint wieder in der politischen Ökonomie, wo die Fähigkeit, in gegebener Zeit viel zu produzieren, nur unter der Bedingung vermehren, daß wir andererseits die Instrumente, die Arbeitsmittel vergrößern. Infolge dieses Gesetzes entstand die kapitalistische Produktion. Kapitalien sind Arbeitsmittel, welche im Verlauf der Entwicklung so frei, groß und mächtig geworden sind, daß nicht der lebendige Arbeiter, sondern die sachlichen Mittel das dominierende Element der Arbeit bilden. Das Kapitel, eine Sache, ist lebendig, produziert selbständig, „heckt lebendige Junge, öder legt goldene Eier“, wie der Verfasser treffend sagt. Nicht die Arbeit, das Kapital empfängt den Mehrwert, den Gewinn, den Profit, den Zins, den Reichtum. Die bisherige Ökonomie hat ohne Rücksicht auf den Menschen nur den Arbeitsprozeß kultiviert, diese Kultur hat ihren Höhepunkt daran erreicht, daß der ergänzende Teil; daß der erhöhten Produktion erhöhter Konsum mangelt.

Eine Fundamentaltendenz der kapitalistischen Wirtschaft geht dahin, mit der geringsten Kraft das meiste zu produzieren. Dazu gehörte nun die Freiheit der „freien Konkurrenz“. Sie schafft das Weitere. Sie zwang und zwingt die kleinen Arbeitsmittel, zugunsten da größeren die Arbeit einzustellen. Sie vermindert die Zahl der Kapitalisten und vermehrt die Zahl der Arbeiter. Da gleichzeitig diese Produktion darauf ausgehen muß, den Arbeiter, oder vielmehr seine Arbeitskraft, für möglichst geringen Preis zu kaufen, die Arbeiter nicht nach dem Maße dessen zu belohnen, was erzeugt wird, sondern nur nach dem Minimalmaß dessen, wofür sie zu haben, womit sie zu erhalten sind, so erwächst notwendig dem überfüllten Güterdepot der Gesellschaft eine zahlungsunfähige Kundschaft. Seit Jahrzehnten schwebt die Industrie zwischen Krise und Prosperität auf und ab. Kaum gelingt es hin und wieder einer Branche, sich zur vollen Kraftentfaltung zu heben, so darf sie sicher sein, daß dem Hochmut bald der tiefe Fall folgt. Der Arbeitsprozeß stagniert, die Gesellschaft lebt in Not und Sorge, weil – sie nicht zu konsumieren vermag.

Jedoch „stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stete finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind“. Der Verfasser hat es sich besonders angelegen sein lassen, in detaillierter Ausführung und mit authentischen Belegen an der Fabrikgesetzgebung Englands, dem industriellen Musterlande, nachzuweisen, wie die Konsequenzen der kapitalistischen „Freiheit“ zu der Inkonsequenz zwingen, die Nationalökonomie nicht mehr ihrem blinden Selbst zu überlassen, sondern den Vorschriften des menschlichen Verstandes zu unterwerfen. Einst mußte die Arbeit befreit werden, um sie leistungsfähig zu machen, während nunmehr die Leistungsfähigkeit organisiert werden muß, um sie dienstbar zu machen.

Allerdings will sich unsere, mit dem überkommenen Dogma der Freiheit vernagelte Welt nur widerwillig und langsam dazu verstehen. „Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.“ [1] Aus der aktenmäßigen Darstellung dieses Krieges hat der Autor ein wundervolles Bild gemacht. „Wie der Kampf eröffnet wird im Umkreis der modernen Industrie, so spielt er zuerst in ihrem Heimatland, England ... Der Fabrikphilosoph Ure denunziert es daher als unauslöschliche Schmach der englischen Arbeiterklasse, daß sie ‚die Sklaverei der Fabrikakte‘ auf ihre Fahne schrieb gegenüber dem Kapital, das männlich für ‚vollkommne Freiheit der Arbeit‘ stritt ... Die englischen Fabrikarbeiter waren die Preisfechter nicht nur der englischen, sondern der modernen Arbeiterklasse überhaupt ... Frankreich hinkt langsam hinter England her ... In den Vereinigten Staaten von Nordamerika“ schreitet >die Achtstundenagitation mit den Siebenmeilenstiefeln der Lokomotive vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean“ aus. [2] Der allgemeine Arbeiterkongreß in Baltimore (16. August 1866) und der internationale Arbeiterkongreß in Genf (September 1866) stimmen in ihren Erklärungen mit dem englischen Fabrikinspektor R.J. Saunders überein: „Weitere Schritte zur Reform der Gesellschaft sind niemals mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg durchzuführen, wenn nicht zuvor der Arbeitstag beschränkt und seine vorgeschriebne Schranke strikt erzwungen wird.“ [3]

Was ist ein Arbeitstag?“ fragte der Verfasser. Das Kapital antwortet: „... der Arbeitstag zählt täglich volle 24 Stunden nach Abzug der wenigen Ruhestunden, ohne welche die Arbeitskraft ihren erneuerten Dienst absolut versagt ... Zeit zu menschlicher Bildung ... zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte, selbst die Feierzeit des Sonntags – und wäre es im Lande der Sabbatheiligen – reiner Firlefanz! Aber in seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstags. Es usurpiert die Zeit für Wachstum, Entwicklung und gesunde Erhaltung des Körpers. Es raubt die Zeit, erheischt zum Verzehr von freier Luft und Sonnenlicht. Es knickert ab an der Mahlzeit und einverleibt sie womöglich dem Produktionsprozeß selbst, so daß dem Arbeiter als bloßem Produktionsmittel Speisen zugesetzt werden, wie dem Dampfkessel Kohle und der Maschinerie Talg oder Öl ... Das Kapital entwickelte sich ferner zu einem Zwangsverhältnis, welches die Arbeiterklasse nötigt, mehr Arbeit zu verrichten, als der enge Umkreis ihrer eignen Lebensbedürfnisse vorschrieb. Und als Produzent fremder Arbeitsamkeit ... übergipfelt es an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit alle frühern auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme.“ [4] Mit Beziehung auf die Ausführungen Liebigs über den Raubcharakter der modernen Landwirtschaft sagt der Verfasser: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ [5]

Und schließlich, wie reich und schlagend sind die Belege, wie unübertroffen die Form, mit welcher der Verfasser seine Sätze illustriert! Kein unbefangener Leser, keiner, dem nicht interessierte Vorurteile das Verständnis verschließen, kann, sich bei dieser Darstellung der Überzeugung entschlagen, daß die soziale Frage nicht nur eine Frage der Arbeiterklasse, sondern eine Lebensfrage der Gesellschaft überhaupt ist.

 

St. Petersburg, Rußland, 1868
Josef Dietzgen

 

Fußnoten

1. Karl Marx, Das Kapital, 1.Bd., Dietz Verlag, Berlin 1954, S.515.

2. Ebenda, S.515, 514 u. 515.

3. Ebenda, S.516.

4. Ebenda, S.275/276 u. 524/525.

5. Ebenda, S.552.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.3.2004