Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

IV. Die Praxis der Vernunft in der Physischen Wissenschaft

b) Geist und Materie

Das Verständnis der allgemeinen Abhängigkeit des Er­kenntnisvermögens von materiellen sinnlichen Voraus­setzungen wird der objektiven Wirklichkeit das ihr bisher von Ideen und Meinungen allzulang vorenthaltene Recht zurückerstatten. Der Natur, welche in ihren vielfältigen konkreten Erscheinungen durch philosophische und religiöse Hirngespinste aus der menschlichen Beachtung ver­drängt war, dann seit Entfaltung der modernen Natur­wissenschaft im einzelnen aus ihrem wissenschaftlichen „Winkel hervorgeholt wurde, wird durch Erkenntnis der Hirnfunktion in allgemeiner theoretischer Form Geltung ver­schafft. Bisher hat sich die Naturwissenschaft nur noch be­sondere Materien, besondere Ursachen, besondere Kräfte zum Gegenstand erwählt und ist in allgemeinen, so­genannten naturphilosophischen Fragen in betreff der Ur­sache, der Materie, der Kraft überhaupt, unwissend ge­blieben. Die tatsächliche Offenbarung dieser Unwissenheit ist jener große Widerspruch zwischen Idealismus und Materialismus, der, einem roten Faden gleich, die Werke der Wissenschaft durchzieht.

„Möchte es mir in diesem Briefe gelingen, die Über­zeugung zu befestigen, dass die Chemie als selbständige Wissenschaft eines der mächtigsten Mittel zu einer höheren Geisteskultur darbietet, dass ihr Studium nützlich ist, nicht nur insofern sie die materiellen Interessen der Menschen fördert, sondern weil sie uns Einsicht gewährt in die Wunder der Schöpfung, an welche unser Dasein, unser Bestehen und unsere Entwicklung aufs engste geknüpft ist.“

Mit diesen Worten spricht Liebig die herrschende An­schauungsweise aus, welche sich gewöhnt hat, materielle und geistige Interessen als Gegensätze zu unterscheiden. Die Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung dämmert selbst dem angeführten Vertreter der Denkart, indem er den materiellen Interessen eine geistige Einsicht entgegen­setzt, an die unser Dasein, unser Bestehen und unsere Ent­wicklung aufs engste geknüpft ist. Was aber sind die mate­riellen Interessen weiter als der abstrakte Ausdruck für unser Dasein, Bestehen und Entwicklung? Sind denn letztere nicht der konkrete Inhalt der materiellen Inter­essen? Heißt es nicht ausdrücklich, dass Einsicht in die Wunder der Schöpfung genannte materielle Interessen fördert? Oder fordert nicht umgekehrt die Förderung unserer materiellen Interessen Einsicht in die Wunder der Schöpfung? Wie unterscheiden sich nun schließlich die materiellen Interessen von der geistigen Einsicht?

Das Höhere, Geistige, Ideale, was Liebig, in Einklang mit der naturwissenschaftlichen Welt, den materiellen Interessen entgegensetzt, ist nur eine besondere Art dieser Interessen, geistige Einsicht und materielles Interesse unterscheidet sich, wie z. B. Kreis und Viereck, beide sind Gegensätze und doch nur verschiedene Klassen der all­gemeineren Form.

Man ist namentlich seit christlicher Zeit daran gewohnt, von materiellen, sinnlichen, fleischlichen Dingen, die Rost und Motten fressen, verächtliche Reden zu führen. Jetzt fährt man konservativ im alten Geleise weiter, obschon jene Antipathie wider die Sinnlichkeit längst aus Herz und Tat verschwunden ist. Der christliche Gegensatz von Geist und Fleisch ist im Zeitalter der Naturwissenschaft prak­tisch überwunden. Es fehlt die theoretische Lösung, die Vermittlung, der Nachweis, dass das Geistige sinnlich und das Sinnliche geistig ist, um die materiellen Interessen vom bösen Leumund zu befreien.

Die moderne Wissenschaft ist überhaupt Naturwissen­schaft. Nur insofern eine Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wird sie überhaupt Wissenschaft genannt, d. h., nur das Denken, welches das Wirkliche, Sinnliche, Natürliche zum bewußten Gegenstand hat, heißt wissen. Unmöglich können deshalb die Vertreter und Verehrer der Wissen­schaft feindlich gesinnt sein gegen die Natur oder Materie. In der Tat, sie sind es nicht. Dass es jedoch mit dieser Natur, mit der Sinnlichkeit, mit der Materie oder dem Stoff nicht genug ist, beweist andererseits das bloße Dasein der Wissenschaft. Die Wissenschaft oder das Denken, welche die materielle Praxis oder das Sein zum Gegen­stande haben, wollen denselben nicht in seiner Integrität, wollen nicht seine sinnliche, stoffliche Natur, dieselbe ist schon anderweitig gegeben. Wenn die Wissenschaft das, wenn sie nichts Neues wollte, wäre sie überflüssig. Nur da­durch, dass sie zum Stoff, zur Materie ein neues Element beibringt, erwirbt sie eine besondere Anerkennung. Der Wissenschaft geht es nicht um das Material, sondern um die Erkenntnis, aber um Erkenntnis des Materials, um das Allgemeine der Materie, um das Wahre, Generelle, „um den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“. In der Über­windung der Mannigfaltigkeit, in der Aufsteigung zum Generellen, Allgemeinen besteht, was affektvoll die Religion dem Irdischen, die Wissenschaft dem Materiellen als ein Höheres, Göttliches, Geistiges entgegensetzt.

Die vornehmeren geistigen sind von den materiellen Interessen nicht toto genere, nicht qualitativ verschieden. Die positive Seite des modernen Idealismus besteht nicht darin, Essen und Trinken, die Lust am irdischen Gut und weiblichen Geschlecht zu verpönen, sondern neben diesen auch noch andere materielle Genüsse, z. B. des Auges und des Ohres, der Kunst und der Wissenschaft, kurz, den ganzen Menschen zur Geltung zu bringen. Du sollst nicht dem materiellen Rausch der Leidenschaft frönen, d. h. du sollst nicht die einseitige Lust, sondern dein allgemeines Bestehen, deine ganze Entwicklung im Auge haben, auf dein Dasein in seiner totalen generellen Ausdehnung Be­dacht nehmen. Darin ist das materialistische Prinzip un­zureichend, dass es den Unterschied zwischen dem Be­sonderen und Allgemeinen nicht anerkennt, das Individuelle dem Generellen gleichstellt. Es will die quantitative Über­legenheit, die übersichtliche Genialität des Geistes über die körperliche Sinnenwelt nicht zugestehen. Der Idealismus andererseits vergißt über dem quantitativen Unterschied die qualitative Einheit. Er ist überschwenglich, macht die relative Trennung zu einer absoluten. Der Widerspruch beider Parteien dreht sich um das mißverstandene Ver­hältnis unserer Vernunft zu ihrem gegebenen Objekt oder Material. Der Idealist sieht die Quelle der Erkenntnis in der Vernunft allein, der Materialist in der sinnlich gegebenen Welt. Zur Vermittlung des Widerspruchs bedarf es nur der Einsicht in die gegenseitige Bedingung dieser beiden Er­kenntnisquellen. Der Idealismus sieht nur die Verschieden­heit, der Materialismus nur die Einheit von Körper und Geist, Erscheinung und Wesen, Inhalt und Form, Stoff und Kraft, Sinnlichem und Sittlichem – alles Unterschiede, welche in dem einen Unterschied, des Besonderen und All­gemeinen ihre gemeinschaftliche Gattung finden.

Konsequente Materialisten sind pure Praktiker, ohne Wissenschaft. Da aber das Wissen oder Denken dem Menschen ohne Rücksicht auf sein Parteibewußtsein tat­sächlich beigegeben ist, sind die puren Praktiker unmöglich. Wie gesagt, die geringste „Experimentierkunst“, welche auf Grund erfahrener Regeln handelt, ist von der wissen­schaftlichen Praxis, welche auf theoretischen Grundsätzen fußt, nur dem Quantum oder Grade nach verschieden. Andererseits sind konsequente Idealisten ebenso unmöglich wie lautere Praktiker. Sie wollen das Allgemeine ohne Be­sonderes, den Geist ohne Materie, Kraft ohne Stoff, Wissen­schaft ohne Erfahrung oder Material, Absolutes ohne Rela­tives. Wie könnten Denker, welche die Wahrheit, das Sein oder Relative zum Gegenstand haben, i. e. Naturforscher, Idealisten sein? Sie sind es nur außerhalb, nie innerhalb ihres Fachs. Der moderne Geist, der Geist der Naturwissen­schaft ist nur insoweit immateriell, als er das alle Materien Umfassende ist. Der Astronom Mädler zwar findet die all­gemeine Erwartung, welche auf eine wesentliche Steigerung unserer geistigen Kräfte nach ihrer „Befreiung aus den Banden der Materie“ hofft, so wenig lächerlich, dass er glaubt, ihr nichts Besseres substituieren zu können und meint, die „Banden der Materie“ als materielle Attraktion näher bestimmt zu haben. Allerdings, wo man unter Geist sich noch ein religiöses Gespenst vorstellt, ist die Erwartung, welche durch Befreiung aus den Banden der Materie eine Kräftigung desselben erhofft, weniger lächerlich als traurig zu finden. Wenn Geist aber den modernen Geist der Wissen­schaft, des Menschen Denkvermögen bedeuten soll, so haben wir dem überkommenen Glauben das Bessere einer wissenschaftlichen Erklärung zu substituieren. Unter den Banden der Materie ist nicht die Schwerkraft, sondern die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinung zu verstehen, die Materie ist für den Geist nicht länger „Bande“, als ihre Viel- oder Mannigfaltigkeit unüberwunden ist. In der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen besteht die Erlösung des Geistes aus den Banden der Materie.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007