Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

V. „Praktische Vernunft“ oder Moral

c) Das Heilige

In dem bekannten Satz: Der Zweck heiligt das Mittel findet die entwickelte Theorie der Moral ihre praktische Formulierung. Die Maxime diene, zweideutig gesprochen, uns und den Jesuiten zum gemeinschaftlichen Vorwurf. Die Verteidiger der Gesellschaft Jesu bestreben sich, die­selbe als eine böswillige Verleumdung ihres Klienten dar­zustellen. Wir wollen zwischen den Parteien weder für noch gegensprechen, sondern unser Wort der Sache selbst leihen, den Lehrsatz als wahr, vernünftig begründen, ihn in der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren suchen.

Zur Beschwichtigung des allgemeinsten Widerspruches dürfte das Verständnis genügen, dass Mittel und Zwecke sehr relative Begriffe sind, dass alle besonderen Zwecke Mittel und alle Mittel Zwecke sind. Sowenig ein positiver Unterschied zwischen groß und klein, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Tugend und Laster statthat, sowenig vermögen wir zwischen Mittel und Zweck positiv zu unter­scheiden. Für sich apart, als Ganzes betrachtet, ist jede Handlung Selbstzweck, und die verschiedenen Momente, in welche sich auch die kurzzeitigste Handlung teilt, sind ihre Mittel. In Gemeinschaft mit anderen Handlungen ist jede besondere Handlung Mittel, das mit seinesgleichen einen allgemeinen Zweck erstrebt. Handlungen sind an sich weder Mittel noch Zwecke. An und für sich ist nichts. Alles Sein ist relativ. Die Dinge sind das, was sie sind, nur in und durch ihre Beziehungen. Umstände ändern die Sache. In­sofern jede Handlung andere Handlungen neben sich hat, ist sie Mittel, hat sie ihren Zweck außer sich, in der Ge­meinschaft; insofern aber jede Handlung abgeschlossen für sich ist, ist sie Zweck, der seine Mittel einschließt. Wir essen, um zu leben; insofern wir jedoch während des Essens leben, leben wir, um zu essen. Wie sich das Leben zu seinen Funktionen, so verhält sich der Zweck zu seinen Mitteln. Wie das Leben nur der Inbegriff der Lebensfunktionen, so ist der Zweck Inbegriff seiner Mittel. Der Unterschied zwischen Mittel und Zweck reduziert sich auf den Unter­schied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, Und alle abstrakten Unterschiede reduzieren sich auf diesen einen Unterschied, weil die Abstraktions- oder die Unter­scheidungskraft selbst sich reduziert auf das Vermögen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen zu unter­scheiden. Diese Unterscheidung aber setzt Material, Ge­gebenes, einen Kreis sinnlicher Erscheinungen, etwas vor­aus, durch welches sie sich betätigt. Ist dieser Kreis auf dem Gebiete der Handlungen oder Funktionen gegeben, mit anderen Worten, ist eine vorherbegrenzte Anzahl ver­schiedener Handlungen der Gegenstand, so nennen wir das Allgemeine Zweck und jeden mehr oder minder großen Teil des Kreises, jede besondere Funktion Mittel. Ob irgendeine bestimmte Handlung Zweck oder ob Mittel ist, hängt ab davon, ob wir sie betrachten als Ganzes, in Be­ziehung zu ihren eigenen Momenten, woraus sie sich zu­sammensetzt, oder als Teil, in Beziehung ihrer Gemein­schaft mit anderen Handlungsweisen. Im Allgemeinen, von einem Standpunkt, welcher alle menschlichen Handlungen totaliter überschaut, welcher die Totalität der mensch­lichen Handlungen zum Gegenstande hat, gibt es nur einen Zweck: das menschliche Heil. Dieses Heil ist Zweck aller Zwecke, Zweck in letzter Instanz, ist der eigentliche, wahre, allgemeine Zweck, dem gegenüber alle besonderen Zwecke nur Mittel sind.

Nun kann unsere Behauptung, dass der Zweck das Mittel heiligt, auch nur von einem unbedingten Zweck unbedingt gültig sein. Alle besonderen Zwecke aber sind endlich, be­dingt. Absoluter, unbedingter Zweck ist nur das mensch­liche Heil, ein Zweck, der alle Verordnungen und Hand­lungen, alle Mittel heiligt, solange sie ihm Untertan, der sie lästert, sobald sie sich selbst überlassen, ihm nicht mehr dienstbar sind. Das Heil ist, wie wörtlich, so auch tatsäch­lich der Ursprung und Grund des Heiligen. Heilig ist über­all das Heilsame. Dabei ist das Heil im allgemeinen, jenes Heil, welches alle Mittel heiligt, nicht als Abstraktion zu verkennen, deren wirklicher Inhalt so verschieden ist wie die Zeiten, Völker oder Personen, die an ihrem Heile suchen. Es ist nicht zu verkennen, dass es zur Bestimmung des Heiligen oder Heilsamen bestimmter Verhältnisse bedarf, dass kein Mittel, keine Handlung heilig an sich ist sondern erst durch gegebene Beziehungen heilig wird. Nicht der Zweck überhaupt, sondern der heilige Zweck heiligt die Mittel. Da aber jeder wirkliche, besondere Zweck nur relativ heilig ist, kann er seine Mittel nur relativ heiligen.

Die Opposition, welche man gegen unsere Maxime ins Feld führt, ist nicht sowohl gegen sie selbst als gegen eine falsche Anwendung derselben gerichtet. Man versagt die Anerkennung, man erlaubt den sogenannten heiligen Zwecken nur beschränkte Mittel, weil im Hintergrunde das Bewußtsein versteckt ist, dass diesen Zwecken nur eine be­schränkte Heiligkeit zugehört. Andererseits wollen wir mit der Behauptung des Satzes nur sagen, dass die verschie­denen nominell heiligen Mittel und Zwecke nicht heilig sind, weil irgendeine Autorität, irgendein Ausspruch einer Schrift, eines Gewissens oder einer Vernunft sie heilig nennt, sondern nur dann und darum, nur insoweit, als sie dem ge­meinschaftlichen Zweck aller Zwecke und Mittel, als sie dem menschlichen Heil entsprechen. Unsere Lehre vom Zweck sagt ganz und gar nicht, dass wir dem heiligen Glauben Lieb' und Treu', aber auch nicht umgekehrt, dass wir für Lieb' und Treu' den Glauben opfern sollen. Sie spricht nur die Tatsache aus, dass, wo der oberste Zweck durch sinnliche Dispositionen oder Umstände gegeben ist, alle widersprechenden Mittel schlecht sind, und umgekehrt, allgemein schlechte Mittel durch Beziehung auf ein momen­tanes oder individuelles Heil momentane oder individuelle Heiligung finden. Wo immer Friedfertigkeit tatsächlich als heilsamer Zweck beliebt wird, ist der Krieg ein schlechtes Mittel. Wo umgekehrt der Mensch sein Heil im Kriege sucht, ist Morden und Brennen ein heiliges Mittel. Mit anderen Worten, unsere Vernunft bedarf zur endgültigen Bestimmung des Heiligen gegebener sinnlicher Verhältnisse oder Tatsachen als Voraussetzung; sie vermag das Heilige nicht im Allgemeinen, nicht a priori, nicht philosophisch, sondern nur im Speziellen, a posteriori, nur empirisch zu bestimmen.

Erkennen, dass das Heil des Menschen Zweck aller Zwecke, Heiliger aller Mittel ist, ferner absehen von allen besonderen Bestimmungen, von allen persönlichen Ideen dieses Heils und die tatsächliche Verschiedenheit desselben anerkennen, heißt zugleich verstehen, dass die Mittel über­haupt nicht weiter heilig sind, als der Zweck heilig ist. Kein Mittel, keine Handlung ist positiv heilig oder heilsam. Je nach den Umständen und der Relation ist ein und dasselbe Mittel bald gut und bald schlecht. Eine Sache ist nur da gut, wo ihre Folgen gut sind, nur darum, weil das Gute ihr Resultat, ihr Zweck ist. Lug und Trug sind nur darum schlecht, weil ihre Folgen uns schlecht bekommen, weil wir nicht belogen und betrogen sein wollen. Wo es dagegen einem heiligen Zweck gilt, nennt sich das auf Lug und Trug basierte Scheinmanöver Kriegslist. Wer glaubefest die Keuschheit gutheißt, weil sie Gott befohlen hat, mit dem wollen wir weiter nicht rechten; wer aber die Tugend ehrt um der Tugend willen und das Laster scheut des Lasters, d. h. der Folgen wegen, der gibt zugleich zu, dass er die Be­gier des Fleisches dem Zweck der Gesundheit zum Opfer bringt, mit anderen Worten: dass erst der Zweck das Mittel heiligt.

Der christlichen Weltanschauung sind die Gebote ihrer Religion unbedingt absolut gut, gut für Zeit und Ewigkeit, gut, weil die christliche Offenbarung sie gutheißt. Sie weiß nicht, dass z. B. ihre Tugend par excellence, die spezifisch christliche Tugend der Enthaltsamkeit ihren Wert erst gegenüber der korrupten heidnischen Üppigkeit erhalten hat, gegenüber dem vernünftigen, bedächtigen Genusse aber keine Tugend mehr ist. Sie hat bestimmte Mittel, die ihr ohne Beziehung auf ihren Zweck gut, und andere, die ihr ohne Beziehung auf den Zweck schlecht sind. Sie lehnt sich insoweit mit Recht gegen die quästio­nierte Maxime auf.

Das moderne Christentum, die heutige Welt hat jedoch diesen Glauben praktisch längst abgetan. Mit dem Munde zwar nennt sie die Seele das Ebenbild Gottes und den Leib einen stinkenden Madensack; mit der Tat aber beweist sie, wie wenig ernst die religiösen Phrasen gemeint sind. Sie kümmert sich wenig um jenen besseren Teil und schenkt dem geschmähten Leibe ihr ganzes Sinnen und Trachten. Wissenschaft und Kunst, die Produkte aller Zonen ver­wendet man zu seiner Verherrlichung, ihn köstlich zu kleiden, lecker zu nähren, sorgsam zu pflegen und weich zu betten. Ob man auch im Vergleich zu jenem ewigen Leben verächtlich von diesem irdischen Leben spricht, hängt doch die Praxis sechs lange Wochentage unermüdlich an seinem Genusse, während man den Himmel kaum sonntags eine kurze Stunde unaufmerksamer Aufmerksamkeit werthält. Mit derselben kopflosen Zerfahrenheit geht dann die so­genannte christliche Welt auch mündlich gegen unser Thema an, während sie wirklich die beschimpftesten Mittel mit dem Zweck der eigenen Wohlfahrt heiligt, als argumen­tum ad hominem sogar die Prostitution mit Staatsmitteln toleriert. Wenn die Kammern unserer Repräsentativ­staaten die Feinde ihrer bürgerlichen Ordnung mit Stand­recht und Deportation niederhalten und dieses Verbrechen an dem vielgepriesenen Spruch „Was du nicht willst, das dir gescheh', das füg' auch keinem andern zu“, mit dem öffentlichen Heil oder ihre Ehescheidungsgesetze mit der Privatwohlfahrt motivieren, so finden wir damit tatsäch­lich anerkannt, dass der Zweck das Mittel heiligt. Und wenn auch die Bürger dem Staat Rechte erlauben, welche sie selbst sich absprechen, so sind das doch auch im Sinne unserer Gegner nur die abgetretenen eigenen Rechte seiner Untertanen.

Allerdings, wer in der bürgerlichen Welt Lug und Trug als Mittel der Bereicherung, wenn auch zum Zweck ander­weitiger Wohltätigkeit, verwendet, oder wie der heilige Krispinus, Leder stiehlt, um armen Leuten Schuhe zu machen, der heiligt seine Mittel nicht mit seinem Zweck, weil ihr der Zweck nicht, oder doch nur nominell, wohl im allgemeinen, aber nicht im speziellen, nicht im angeführten Falle heilig ist; weil die Wohltätigkeit nur ein Zweck von untergeordneter Heiligkeit ist, der ihrem Hauptzweck, der bürgerlichen Ordnung gegenüber nur ein Mittel sein darf, der, wo er sich dieser seiner Bestimmung widersetzt, da­durch auch den Namen eines guten Zwecks verliert, und wie gesagt, kann der Zweck, der nur unter Bedingungen heilig ist, auch nur unter denselben Bedingungen seine Mittel heiligen. Die unerläßliche Bedingung aller guten Zwecke ist die Heilsamkeit, die, mag sie nun auf christliche oder heidnische, auf feudale oder bürgerliche Art gesucht werden, allemal die Forderung stellt, dass dem als wesent­lich und notwendig Betrachteten das Unwesentliche und minder Notwendige untergeordnet werde, wogegen im an­geführten Falle die mehr geschätzte Ehrlichkeit und bürgerliche Rechtschaffenheit der minder geschätzten Wohltätigkeit geopfert würde. „Der Zweck heiligt das Mittel“ heißt mit anderen Worten, der Gewinn muss wie in der Ökonomie, so auch in der Ethik das Anlagekapital rentieren. So, wenn man die Bekehrung des Unglaubens einen guten Zweck und die polizeiliche Gewaltmaßregel ein schlechtes Mittel nennt, zeugt auch das nicht gegen die Wahrheit der Maxime, sondern für eine falsche Anwendung. Das Mittel ist nicht heilig, weil der Zweck nicht gut ist, weil die gewaltsame Bekehrung kein heilsamer, vielmehr ein Zweck des Unheils, der Heuchelei ist; weil das eine Be­kehrung ist, die nicht den Namen der Bekehrung verdient, oder die Gewalt ein Mittel ist, dem hier nicht der Name des Mittels gehört. Wenn uns eine gewaltsame Bekehrung und ein hölzernes Eisen gleich tolle Sachen sind, wie dürfen wir dann mit solchen Gedankenlosigkeiten, solch sinnlosen Wortverdrehungen, solchen dialektischen Kniffen und Sophistereien gegen eine tatsächlich allgemein anerkannte Wahrheit angehn! Auch die jesuitischen Mittel, Ränke und Intrigen, Gift und Mord sind uns nur unheilig, weil uns der jesuitische Zweck, z. B. die Ausbreitung, Bereicherung und Verherrlichung des Ordens wohl ein Nebenzweck, der sich der unschuldigen Kanzelrede bedienen mag, aber kein un­bedingt heiliger Zweck, kein Zweck à tout prix ist, dem wir Mittel erlaubten, die uns um einen wesentlicheren Zweck, z. B. um die öffentliche oder leibliche Sicherheit betrögen. Mord und Totschlag sind uns als individuelle Handlungen unsittlich, weil sie keine Mittel unseres Zwecks sind, weil wir nicht für die Rache oder Raubgier, nicht für Willkür und eigenmächtige Handhabung des Richteramts, viel­mehr für Gesetzlichkeit und den mehr unparteiischen Ent­scheid des Staats disponiert sind. Wenn wir uns dann aber als Schwurgericht konstituieren und die gefährlichen Ver­brecher mit Strick und Beil unschädlich machen, heißt das nicht ausdrücklich, der Zweck heiligt das Mittel?

Dieselben Leute, die sich rühmen, schon seit Jahr­hunderten mit dem Aristoteles, d. h. mit dem Autoritäts­glauben, gebrochen zu haben und infolgedessen an Stelle der toten, überlieferten – die lebendige, selbsterkannte Wahrheit setzten, finden wir in dem behandelten Exempel in vollem Widerspruch mit ihrer Tendenz. Bei einem schnurrigen Vorfall, wenn auch vom glaubwürdigsten Zeugen erzählt, bleibt man doch dem Grundsatz der Ge­wissensfreiheit treu, d. h., was der Erzähler possierlich und schnurrig nennt, darf der Zuhörer ernst und fatal finden. Man weiß zwischen der Geschichte und ihrem subjektiven Eindruck zu unterscheiden, welcher letztere mehr den Er­zähler als seinen Gegenstand charakterisiert. Bei guten Zwecken und schlechten Mitteln hingegen will man die Differenz zwischen dem Objekt und dessen subjektiver Be­stimmung, die sonstwo aller Kritik Augenmerk ist, außer acht lassen. Zwecke wie die Wohltätigkeit, die Bekehrung des Unglaubens usw., nennt man ohne weiteres, a priori, gedankenlos gut und heilig, weil sie das anderswo gewesen sind, obgleich ihr lebendiger Eindruck in den angeführten Fällen das gerade Gegenteil aussagt, und wundert sich nachträglich, dass der unrechtmäßige Titel die Unrecht­mäßigkeit der Privilegien nachzieht.

Das Prädikat gut oder heilig verdient in der Praxis nur der Zweck, der selbst ein Mittel, ein Untertan des Zwecks der Zwecke, des Heils ist. Wo der Mensch sein Heil im bürgerlichen Leben, in Produktion und Handel, in un­gestörtem Besitz der Güter sucht, schneidet er sich die langen Finger mit dem Gebot „Du sollst nicht stehlen“; wo hingegen, wie bei den Spartanern, Krieg das höchste Gut ist und Verschlagenheit die notwendige Eigenschaft eines guten Kriegers, verwendet man die Spitzbüberei zur Erwerbung der Schlauheit, sanktioniert den Diebstahl als Mittel zum Zweck. Nun den Spartaner schelten, dass er ein Krieger und kein ehrlicher Spießbürger war, heißt die Wirklichkeit verkennen, heißt verkennen, dass unser Kopf nicht berufen ist, der Welt faktische Zustände zu rem­placieren, sondern zu begreifen, dass eine Zeit, ein Volk, ein Individuum immer das ist, was es unter den gegebenen Umständen sein kann und deshalb auch sein soll.

Wenn wir mit dem Satz „der Zweck heiligt das Mittel“ die herrschende Anschauung auf den Kopf setzen, so ist das keine tadelhafte individuelle Liebhaberei des Para­doxen, sondern die konsequente Anwendung der philo­sophischen Wissenschaft. Die Philosophie ist hervor­gegangen aus dem Glauben an einen dualistischen Gegen­satz zwischen Gott und Welt, zwischen Leib und Seele, zwischen Geist und Fleisch, zwischen Kopf und Sinn, zwischen Denken und Sein, zwischen dem Allgemeinen und Besonderen. Die Vermittlung dieses Gegensatzes stellt sich dar als ihr Zweck oder als Gesamtresultat der philo­sophischen Forschung. Die Philosophie fand ihre Auf­lösung in der Erkenntnis, dass das Göttliche weltlich und das Weltliche göttlich ist, dass sich die Seele zum Leibe, der Geist zum Fleische, das Denken zum Sein, der Ver­stand zu den Sinnen ganz so verhält wie die Einheit zur Mannigfaltigkeit oder wie das Allgemeine zum Besonderen. Die Philosophie hat mit der irrtümlichen Voraussetzung begonnen, dass aus der Eins, als dem Ersten, die Zwei, Drei, Vier, das Mannigfaltige als Nachfolgendes hervor­gegangen sei. Sie resultierte mit der Erkenntnis, dass die Wahrheit oder Wirklichkeit diese Voraussetzung auf den Kopf setzt, dass die vielgestaltige Wirklichkeit, die sinn­liche Mannigfaltigkeit, das Besondere das Erste ist, aus welchem nachträglich die menschliche Hirnfunktion den Begriff der Einheit oder Allgemeinheit ableitet.

Kein Ergebnis der Wissenschaft steht im Vergleich zu dem Aufwand an Genie und Scharfsinn, welche diese eine kleine spekulative Frucht gekostet hat. Aber auch keine wissenschaftliche Neuerung findet so alte tiefgewurzelte Hindernisse ihrer Anerkennung. Alle mit dem Ergebnis der Philosophie unbekannten Köpfe beherrscht der alte Glaube an die Wirklichkeit eines echten, wahren, all­gemeinen Heils, dessen Entdeckung alle unechten, schein­baren, besonderen Heiligtümer zu Schanden mache, wäh­rend uns die Erkenntnis des Denkprozesses das gesuchte Heil als Hirnprodukt kennen lehrt, das eben, weil es ein allgemeines, d. h. abstraktes Heil sein soll, kein sinnliches oder wirkliches, d. h. besonderes Heil sein kann. In dem Glauben an einen totalen Unterschied zwischen echtem und unechtem Heil manifestiert sich die Unwissenheit über den Hergang geistiger Operationen. Pythagoras setzte die Zahl als das Wesen der Dinge. Hätte der Grieche dies Wesen der Dinge als Kopf- oder Vernunftding erkennen können und die Zahl dann als das Wesen der Vernunft, als den gemeinschaftlichen oder abstrakten Inhalt alles gei­stigen Tuns bestimmt, so wären all die Zänkereien erspart worden, welche man seither um die verschiedenen Formen der absoluten Wahrheit, um die „Dinge an sich“ geführt hat.

Raum und Zeit sind die allgemeinen Formen der Wirk­lichkeit, oder die Wirklichkeit existiert bekannterweise im Raume und in der Zeit. Infolgedessen ist jedes wirkliche Heil räumlich und zeitlich und jedes räumliche und zeit­liche Heil wirklich. Die verschiedensten Heilsamkeiten sind, insoweit sie heilsam sind, nur ihrer Weite und Breite, dem Quantum ihrer Ausdehnung, nur der Zahl nach ver­schieden. Jedes Heil, sowohl das wahre wie das vermeint­liche, ist uns durch das sinnliche Gefühl, durch die Praxis, nicht durch die Vernunft gegeben. Die Praxis aber gibt ver­schiedenen Menschen und verschiedenen Zeiten die wider­sprechendsten Dinge als heilsam. Was hier Heil, ist dort Unheil und umgekehrt. Der Erkenntnis oder Vernunft bleibt dabei kein weiteres Geschäft, als diese durch sinn­liche Empfindung gegebenen Heilsamkeiten, je nach den verschiedenen Personen und Zeiten, an welchen, oder je nach den verschiedenen Graden der Intensivität, in welchen sie erscheinen, zu zählen und also das Kleine vom Großen, das Unwesentliche vom Wesentlichen, das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden. Die Vernunft vermag uns das wahre Heil nicht autokratisch vorzuschreiben, sondern nur aus einem sinnlich gegebenen Quantum Heilsamkeiten das der Zahl nach häufigste, größte oder allgemeinste auf­zuzählen. Das aber ist nicht zu vergessen, dass die Wahr­heit einer solchen Erkenntnis oder Zählung auf bestimmter, gegebener Voraussetzung beruht. Also, vergeblich das Be­mühen, das wahre Heil überhaupt suchen zu wollen! Prak­tisch, erfolgreich wird die Forschung nur, wenn sie sich bescheidet, das bestimmte Heil einer bestimmten Partiku­larität zu erkennen. Das Allgemeine ist nur möglich inner­halb gesetzter Schranken. Darin aber stimmen die ver­schiedenen Bestimmungen des Heils überein, dass es über­all heilsam ist, das Kleine dem Großen, das Unwesentliche dem Wesentlichen zu opfern, und nicht umgekehrt. In­sofern diese Maxime recht ist, ist es ferner recht, dass wir für den guten Zweck des großen Heils das schlechte Mittel eines kleinen Unheils anwenden oder ertragen; dass der Zweck die Mittel heiligt.

Wäre man liberal genug, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen, würden sich die Gegner unserer An­schauung leicht von ihrer Wahrheit überzeugen. Aber statt dessen folgt man dem gewöhnlichen Wege der Kurzsichtig­keit und macht seinen Privatstandpunkt zum universellen. Das eigene Heil nennt man das allein wahre und das Heil anderer Völker, Zeiten und Verhältnisse ein Mißverständ­nis, wie jede Kunstrichtung ihren subjektiven Geschmack für objektive Schönheit ausgibt, verkennend, dass die Ein­heit nur Sache der Idee, des Gedankens, aber die Sache der Wirklichkeit Mannigfaltigkeit ist. Das wirkliche Heil ist mannigfaltig und das wahre Heil nur eine subjektive Aus­wahl, das, wie die schnurrige Geschichte, anderswo auch einen andern Eindruck machen, ein unwahres Heil sein kann. Wenn Kant oder Fichte oder sonst ein philosophischer Partikulier weit und breit die Bestimmung des Menschen abhandelt und die Aufgabe dann zu seiner und seines Auditoriums vollster Zufriedenheit löst, so sind wir heute doch erfahren genug zu wissen, dass man auf dem Wege spekulativer Forschung wohl seinen eigenen Begriff von der Be­stimmung des Menschen definieren, aber kein unbekanntes verborgenes Objekt entdecken kann. Dem Gedanken, dem Verstande muss das Objekt gegeben sein, seine Arbeit ist das Urteil, die Kritik; er mag unterscheiden zwischen wahrem und unwahrem Heil, aber sich auch seiner Grenze erinnern, sich erinnern, dass, wie er selbst, so auch diese Unterscheidung persönlich ist, die nicht länger und weiter gilt, als andere von demselben Gegenstand denselben Ein­druck empfangen.

Die Menschheit ist eine Idee, der Mensch aber ist allemal eine besondere Persönlichkeit, die ihr eigentümliches Leben nur in ihrem eigentümlichen Element findet, des­halb nur aus persönlichen Motiven sich dem allgemeinen Gesetz unterwirft. Das Opfer der Ethik ist wie das Opfer der Religion nur eine scheinbare Selbstverleugnung zum Zweck vernünftiger Selbstsucht, eine Ausgabe mit der Absicht größeren Gewinns. Die Sittlichkeit, die ihren Namen verdient und nicht besser Gehorsam benannt wäre, kann nur durch die Erkenntnis ihres Wertes, ihrer Heil­samkeit, ihres Nutzens zur Ausübung kommen. Aus der Verschiedenheit der Interessen folgt die Verschie­denheit der Parteien, aus der Verschiedenheit des Zwecks die Verschiedenheit der Mittel. Bei minder wichtigen Fragen bezeugen das auch die Vertreter der absoluten Moral.

Thiers erzählt in seiner Geschichte der französischen Revolution von einer besonderen Situation aus dem Jahre 1796, wo den Patrioten die öffentliche Gewalt und den Royalisten die revolutionäre Agitation gehörte, dass da die Parteigänger der Revolution, welche Partisanen der unbeschränkten Freiheit sein mussten, Repressionsmittel verlangten, und die Opposition, die insgeheim mehr der Monarchie als der Republik zuneigte, für unbeschränkte Freiheit votierte. „So sehr werden die Parteien von ihren Interessen regiert“, heißt seine schließliche Bemerkung dazu, als sei das eine Anomalie und nicht der natürliche, notwendige, unumgängliche Lauf der Welt. Wenn es sich dagegen um die fundamentalen Gesetze der bürgerlichen Ordnung handelt, sind die moralischen Vertreter der herrschenden Klasse eigennützig genug, die Abhängigkeit derselben von ihrem Interesse zu leugnen und sie als ewige metaphysische Weltgesetze, die Stützen ihrer besonderen Herrschaft als ewige Stützen der Menschheit, ihre Mittel als die allein heiligen und ihren Zweck als den endgültigen darzustellen.

Es ist eine unheilvolle Betrügerei, ein Diebstahl an der menschlichen Freiheit, ein Versuch zur Stagnation der ge­schichtlichen Entwicklung, wenn eine Zeit oder Klasse so ihre aparten Zwecke und Mittel für das absolute Heil der Menschheit ausgibt. In der Sittlichkeit dokumentiert man ursprünglich die Interessen, wie in der Mode den Geschmack, um dann nachträglich, wie hier das Gewand, so dort die Handlung dem vorgesetzten Muster anzupassen. Die Macht übt dabei notwendig, um des eigenen Lebens willen, die Gewalt aus und zwingt die Widerspenstigen zur Unterwerfung. Interesse und Pflicht sind, wenn nicht ge­rade synonyme, so doch nah verwandte Ausdrücke. Beide gehn in den Begriff des Heils auf. Das Interesse ist mehr das konkrete, gegenwärtige, handgreifliche Heil; die Pflicht dagegen das erweiterte, auch auf die Zukunft bedachte, allgemeine Heil. Wenn das Interesse nach der nächsten faßlichen klingenden Wohlfahrt des Geldbeutels fragt, ver­langt die Pflicht dagegen, dass wir nicht nur einen Teil, auch das Ganze, nicht nur das gegenwärtige, nächste, auch das entfernte, künftige, nicht nur das leibliche, auch das geistige Wohl im Auge halten. Die Pflicht kümmert sich auch um das Herz, um die sozialen Bedürfnisse, die Zukunft, das Seelenheil, kurz um die Interessen im Großen und Ganzen und schärft uns ein, dem Überflüssigen zu ent­sagen, um das Notwendige zu erlangen und zu erhalten. So ist deine Pflicht dein Interesse und dein Interesse deine Pflicht.

Wenn sich unsere Ideen der Wahrheit oder Wirklichkeit und nicht umgekehrt die Wahrheit unseren Ideen oder Ge­danken anpassen soll, so haben wir die Veränderlichkeit dessen, was recht, heilig und sittlich ist, als natürlich not­wendig und wahr zu erkennen und der Persönlichkeit auch theoretisch die Freiheit zu belassen, welche sie praktisch sich nicht nehmen läßt, anzuerkennen dass sie wie bisher so auch ferner frei ist, das Gesetz nach ihrem Bedürfnis und nicht nach vagen, unreellen und unmöglichen Abstrak­tionen, wie Gerechtigkeit oder Sittlichkeit, zu gestalten. Was ist Gerechtigkeit? Der Inbegriff dessen, was man für recht hält, ein individueller Begriff also, der bei verschiedenen Personen verschiedene Gestalt annimmt. In Wirklichkeit sind nur einzelne, bestimmte, besondere Rechte, und dann kommt der Mensch und zieht aus denselben den Begriff der Gerechtigkeit, wie er sich aus den verschiedenen Hölzern den Begriff des Holzes überhaupt genommen hat oder aus den materiellen Dingen die Idee der Materie. So unwahr, obgleich weit verbreitet die Anschauung ist, dass die materiellen Dinge aus oder mittelst der Materie be­stehen, so unwahr ist der Glaube, als seien die moralischen oder bürgerlichen Gesetze aus der Idee der Gerechtigkeit hervorgegangen.

Der sittliche Verlust, den unsere realistische oder, wenn man will, materialistische Betrachtung der Moral mit­bringt, ist so groß nicht, als er aussieht. Wir dürfen nicht fürchten, deshalb aus sozialen Menschen gesetzlose Kanni­balen oder Einsiedler zu werden. Freiheit und Gesetzlich­keit sind eng verbunden durch das Bedürfnis der Genossen­schaft, um deswillen wir genötigt sind, neben uns auch andere leben zu lassen. Wer sich von seinem Gewissen oder anderen spiritualistisch-sittlichen Motiven von gesetz­widrigen Handlungen – gesetzwidrig im weiteren Sinne des Wortes – abhalten läßt, ist entweder nur sehr schwachen Versuchungen ausgesetzt oder ein derart zahmer Charakter, dass die natürlichen und gesetzlichen Strafen mehr wie ausreichen, ihn in vorgeschriebenen Grenzen zu halten. Wo sie ihren Dienst versagen, ist auch die Moral ein Mittel ohne Kraft; sie müßte sonst im ge­heimen auf den Gläubigen dieselbe Restriktion ausüben, mit welcher die Öffentlichkeit den Ungläubigen zurück­hält, während wir in der Tat mehr gläubige Spitzbuben als ungläubige Räuber finden. Dass die Welt, welche wörtlich soviel sozialen Wert auf die Sittlichkeit legt, tatsächlich von unserer Meinung durchdrungen ist, beweist die größere Aufmerksamkeit, die sie dem code pénal und der Polizei schenkt. Auch gilt unser Kampf nicht der Sittlichkeit, selbst nicht einmal einer bestimmten Form derselben, sondern nur der Arroganz, welche ihre bestimmte Form zur absoluten, zur Sittlichkeit überhaupt macht. Wir erkennen die Sittlichkeit als ewig heilig an, insoweit darunter Rück­sichten zu verstehen sind, welche der Mensch sich selbst und seinen Nebenmenschen zum Zweck gegenseitigen Heils schuldig ist. Aber die Art und Weise, den Grad dieser Berücksichtigung zu bestimmen, gehört zur Freiheit des Individuums. Dass dabei die Macht, die herrschende Klasse oder Majorität ihre speziellen Bedürfnisse als vorgeschrie­benes Recht zur Geltung bringt, ist so notwendig, als dem Menschen das Hemd näher ist als der Rock. Dass aber des­halb das vorgeschriebene Recht für absolutes Recht, für eine unübersteigliche Schranke der Menschheit gehalten sei, deucht uns höchst überflüssig und sogar schädlich für die der Zukunft nötige Energie des Fortschritts.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007