Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

VORREDE

Hier dürfte der Ort sein, an den geneigten Leser sowohl wie an den ungeneigten Kritiker einige erläuternde Worte zu richten, welche das persönliche Verhältnis des Ver­fassers zu seiner Schrift betreffen. Der nächste Vorwurf, den ich antizipiere, ist Mangel an Gelehrsamkeit, der sich mehr noch indirekt, zwischen den Zeilen, als im Werkchen selbst direkt verrät. Wie darfst du, frage ich mich, dem Publikum deine Bearbeitung eines Gegenstandes vorlegen, der von den Heroen der Wissenschaft, unter anderen von Aristoteles, Kant, Fichte, Hegel usw. ist bearbeitet worden, ohne noch alle Werke deiner berühmten Vorgänger gründlich zu kennen? Wirst du nicht, im besten Falle, das längst Getane wiederholen?

Ich antworte: der Same, welchen die Philosophie in das Erdreich der Wissenschaft gepflanzt, ist längst aufgegangen und hat seine Früchte getragen. Was die Geschichte zu­tage fördert, entwickelt sich geschichtlich, treibt, wächst und vergeht, um in erneuter Form ewig fortzuleben. Die ur­sprüngliche Tat, das originale Werk ist nur fruchtbar in Kontakt mit den Verhältnissen und Beziehungen der Zeit, welche es geboren; schließlich aber wird es zu einer leeren Hülse, die ihren Kern an die Geschichte abgegeben hat. Was die Wissenschaft der Vergangenheit Positives produ­zierte, lebt nicht mehr im Buchstaben seines Autors, sondern ist mehr als Geist, ist Fleisch und Blut geworden in der gegenwärtigen Wissenschaft. Um z. B. die Produkte der Physik zu kennen und dazu Neues zu produzieren, ist es nicht erforderlich, erst die Geschichte dieser Wissenschaft zu studieren und die bisher entdeckten Gesetze an der Quelle zu schöpfen. Im Gegenteil, die geschichtliche For­schung dürfte der Lösung einer bestimmten physischen Aufgabe nur hinderlich sein, indem die konzentrierte Kraft notwendig mehr leistet als die geteilte. In diesem Sinne rechne ich mir den Mangel an anderweitigen Kenntnissen zugut, weil ich eben dadurch der Erkenntnis meines spe­ziellen Objekts um so entschiedener hingegeben bin. Dies Objekt zu erforschen und alles zu lernen, was meiner Zeit davon bekannt ist, habe ich mir ernstlich angelegen sein lassen. Die Geschichte der Philosophie hat sich insofern an meiner Individualität wiederholt, als ich mit dem Bedürfnis nach einer kompakten, systematischen Weltanschauung seit früher Jugend zu spekulieren ausging und schließlich die Befriedigung in der induktiven Erkenntnis des mensch­lichen Denkvermögens gefunden vermeine.

Und es ist nicht das Denkvermögen in seiner mannigfaltigen Erscheinung, es sind nicht die verschiedenen Weisen desselben, sondern seine allgemeinste Form, sein generelles Wesen, was mich befriedigte und was darzustellen mein Zweck ist. Mein Objekt ist demnach möglichst simpel und speziell, so absolut einfach, dass mir seine mannigfaltige Darstellung schwer und häufige Wiederholungen beinah un­vermeidlich wurden. Zugleich ist die Frage nach dem Wesen des Geistes ein populäres Objekt, das nicht nur von Philosophen von Fach, das von der Wissenschaft überhaupt kultiviert ist. Es muss deshalb auch, was zu seiner Erkennt­nis die Geschichte der Wissenschaft beigetragen, in der wissenschaftlichen Anschauung der Gegenwart allgemein lebendig sein. An dieser Quelle dürfte ich mir genügen lassen.

So mag ich denn trotz meiner Autorschaft bekennen, kein Professor der Philosophie, sondern von Profession ein Handwerker zu sein. Denjenigen, welche mir darum die alte Warnung zurufen möchten: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ antworte ich mit Karl Marx: „Euer nee plus ultra handwerksmäßige Weisheit wurde zur furchtbaren Narr­heit von dem Moment, wo der Uhrmacher Watt die Dampf­maschine, der Barbier Artwright den Kettenstuhl, der Juwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hat.“ Ohne mich diesen Größen zurechnen zu wollen, darf doch ihr Vorgang mir zur Nacheiferung dienen. Zudem ist auch die Natur meines Gegenstandes noch besonders auf die Standesklasse angewiesen, der ich anzugehören, wenn nicht die Ehre, so doch das Vergnügen habe.

Ich entwickele in dieser Schrift das Denkvermögen als Organ des Allgemeinen. Der leidende, der vierte, der Ar­beiterstand ist insoweit erst der wahre Träger dieses Or­gans, als die herrschenden Stände durch ihre besonderen Klasseninteressen verhindert sind, das Allgemeine an­zuerkennen. Wohl bezieht sich diese Beschränkung zu­nächst auf die Welt der menschlichen Verhältnisse. Aber solange diese Verhältnisse nicht allgemein menschlich, son­dern Klassenverhältnisse sind, muss auch die Anschauung der Dinge von diesem beschränkten Standpunkt bedingt sein. Objektive Erkenntnis setzt subjektiv theoretische Freiheit voraus. Bevor Kopernikus die Erde sich bewegen und die Sonne stehen sah, musste er von seinem irdischen Standpunkt abstrahieren. Da nun dem Denkvermögen alle Verhältnisse Gegenstand sind, hat es von allem zu abstrahieren, um sich selbst rein oder wahr zu erfassen. Da wir alles nur mittels Denken begreifen, müssen wir von allem absehen, um das reine, das Denken im allgemeinen zu erkennen. Diese Aufgabe war zu schwer, solange sich der Mensch an einen beschränkten Klassenstandpunkt gebunden fand. Erst eine historische Entwicklung, welche soweit fortgeschritten, um die Auflösung der letzten Herr- und Knechtschaft zu erstreben, kann soweit der Vorurteile entbehren, um das Urteil im allgemeinen, das Erkenntnis­vermögen, die Kopfarbeit wahr oder nackt zu erfassen. Erst eine historische Entwicklung, welche die direkte all­gemeine Freiheit der Masse im Auge haben kann – und dazu gehören wohl sehr verkannte historische Voraus­setzungen —, erst die neue Ära des vierten Standes findet den Gespensterglauben soweit entbehrlich, um den letzten Urheber alles Spuks, um den reinen Geist entlarven zu dürfen. Der Mensch des vierten Standes ist endlich „reiner“ Mensch. Sein Interesse ist nicht mehr Klassen-, sondern Masseninteresse, Interesse der Menschheit. Die Tatsache, dass zu allen Zeiten das Interesse der Masse mit dem Inter­esse der herrschenden Klasse verbunden war, dass nicht nur trotz, sondern gerade mittels ihrer stetigen Unter­drückung durch jüdische Patriarchen, asiatische Eroberer, antike Sklavenhalter, feudale Barone, zünftige Meister, besonders durch moderne Kapitalisten und auch selbst noch durch kapitalistische Cäsaren die Menschheit stetig „fortgeschritten“ – diese Tatsache nähert sich ihrem Ende. Die Klassenverhältnisse der Vergangenheit waren notwendig für die allgemeine Entwicklung. Jetzt ist diese Entwicklung an einem Standpunkt angekommen, wo die Masse selbstbewußt wird. Die bisherige Menschheit hat sich mittels Klassengegensatzes entwickelt. Sie ist damit so weit gekommen, dass sie nunmehr sich unmittelbar selbst entwickeln will. Die Klassengegensätze waren Erschei­nungen der Menschheit. Der Arbeiterstand will die Klassen­gegensätze aufheben, damit die Menschheit eine Wahrheit sei.

Wie die Reformation von den faktischen Verhältnissen des sechzehnten Jahrhunderts, wie die Erfindung des elektrischen Telegraphen, so ist die Ergründung der Theorie unserer menschlichen Kopfarbeit von den fak­tischen Verhältnissen des neunzehnten Jahrhunderts be­dingt. Insofern ist der Inhalt dieser kleinen Schrift kein individuelles Produkt, sondern ein geschichtliches Gewächs. Ich fühle mich dabei – mit Verlaub für die mystische Phrase – nur als ein Organ der Idee. Mir gehört die Dar­stellung, in betreff deren ich hiermit um freundliche Nach­sicht bitte. Ich bitte den Leser, seine stillen oder lauten Einreden nicht gegen die mangelhafte Form, nicht gegen das zu richten, was ich derart sage, sondern gegen das, was ich sagen will; ich bitte, mich nicht geflissentlich im Buch­staben zu mißverstehen, sondern im Geiste, im Allgemeinen das Verständnis suchen zu wollen. Sollte es mir nicht ge­lungen sein, die Idee mit Erfolg zu entwickeln, sollte auch deshalb meine Stimme auf unserem überfüllten Büchermarkt ersticken müssen, wird doch die Sache, des bin ich sicher, einen talentvolleren Vertreter finden.

Siegburg, d. 15. Mai 1869

Jos. Dietzgen,

Lohgerber

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007