Joseph Dietzgen

DIE ZUKUNFT DER SOZIALDEMOKRATIE

Den Kölner Parteigenossen gewidmet und vorgetragen

(1878)


Aus Joseph Dietzgen, Schriften in Drei Bänden, Bd. 3, Berlin 1962, S. 79-98.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Die sozialistische Zukunft wird immer mehr und mehr ein Gegenstand inquisitiver Spekulation. Freund und Feind spekuliert daran: die Genossen, um das Objekt ihrer Strebungen und Hoffnungen in einem plastischen Bilde zu verkörpern, die Widersacher, um Mängel auszuklauben und den verhassten Emporkömmling klein zu machen.

Da gilt es denn, sowohl der eigenen Ungeduld wie der fremden Bosheit gegenüber ewig zu wiederholen, dass eben unsere Zukunft kein Objekt der Privatspekulation, sondern ein geschichtliches Produkt, an dessen Gestaltung das Volk en masse beteiligt ist. Da das Volk jedoch sich aus individuellen Köpfen zusammensetzt, die mehr oder minder alle das Bedürfnis haben, mit Plan und Vorbedacht ihre Zukunft zu gestalten, so ist auch die Privatspekulation über die Form der künftigen sozialistischen Gesellschaft ebenso natürlich wie unumgänglich. Nur eben müssen wir des persönlichen und privaten Charakters solcher Speku­lationen uns bewusst bleiben.

Die Sozialdemokraten wollen keine Propheten haben, keine gottbegnadeten Privatorakel, welche Wahrheit offenbaren. Die sozialdemokratische Wahrheit offenbart sich auf allgemeinen Wegen. Was alle erkennen, ist absolut wahr, und die Erkenntnis der Majorität ist wahrer als die Erkenntnis der Minorität oder des einzelnen. Dabei gilt natürlich die naturwissenschaftliche Regel, dass Experimente um so zuverlässiger sind, je größer die Stufenleiter, auf der sie praktiziert werden. Auch ist nicht ausgeschlos­sen, dass erleuchtete Propheten und hohe Genien weiter sehen wie die Masse; aber sie sollen keine Geltung haben, bis sich ihre Privatansicht bei der Masse die Anerkennung verschafft hat. In Fachangelegenheiten wird sich das Volk durch Fachleute und Fachparlamente immer vertreten lassen, aber in seiner politisch-sozialen Sache will es selbständig sein. Darum denn darf sich niemand mehr er­lauben, die Zukunft auf dem Wege der Privatspekulation gestalten zu wollen. Wohl aber sind die Individuen be­rufen, die Fragen der künftigen Gestaltung nach Ansichten und Meinungen zu debattieren und ihre Vorschläge und Gutachten abzugeben — jedoch immer nur mit der selbstverständlichen Reserve einer bescheidenen Privat­meinung.

Die Partei als solche wird nie aus den Augen verlieren, dass es die Basis der demokratischen Allgemeinheit ist, der sie ihre vielbewunderte und nicht genug zu preisende Einhelligkeit verdankt. Nur der Beschränkung unseres Programms auf das Allgemeine, Unverkennbare und Unzweideutige verdanken wir den totalen Ausschluss alles Sektenwesens oder vermindern wenigstens die Sektiererei bis auf ein Nichtssagendes. Der geschlossene Schritt der Arbeiterbataillone kann nur standhalten, wenn sie von allen verschwommenen Zielpunkten absehen, Schulter an Schulter in Fühlung bleiben, nicht ausschwärmen, nicht vorlaufen, nicht nachzügeln, nicht bummeln. Wohin wir wollen, ist vollständig klar; wir wollen Deckung für unsere Blöße, Nahrung, Kleidung und Wohnung. Dabei sind wir nicht von heute, sondern haben eine tausendjährige geschichtliche Belehrung hinter uns, welche jedem deutlich macht, dass der Vereinzelte um sein Erbteil betrogen wird ; weshalb wir nunmehr unser Recht in communibus suchen.

Wir marschieren also geschlossen; aber eben weil wir tun, ist unser Marsch nolens volens ein politischer, „staatsgefährlicher“. Jedoch nicht nur der Racker von Bourgeoisstaat, auch der unsrige ist in Gefahr, vom feindlichen Staate behindert, gemaßregelt und überfallen zu werden. Aber wer ist unser Feind? Näher zugesehen findet sich, dass es die eigenen Leute sind, die uns entgegenstehen; Leute von derselben Rasse, von demselben verwandten Blute wie wir, arme betrogene Proletarier, die ihre Erstgeburt an eine Handvoll Glückspilze für ein Linsengericht verkauft haben. Unter solchen Umständen werden en wir doch nicht gleich mit Flinte und Säbel losgehen und im eigenen Fleische wühlen. — Unsere nächste Aufgabe geht also dahin, die Genossen zu persuadieren, dass sie aus dem Lager der Landesfeinde zu den Freunden übergehen.

Und wenn dann schließlich unsere Agitation vom Erfolg gekrönt ist — was nun? Hegel hat bemerkt, dass die Gräser nicht alle gleichmäßig wachsen, sondern mehrere von ihnen Knoten bilden, auf die der Halm sich stützt, und (lass das Wasser nicht allmählich heißer und heißer wird, sondern plötzlich siedet und dann anderseits, auf den Nullpunkt heruntergesunken, ebenso Knall und Fall ge­friert und zu Eis wird. Wenn nun der Gang der Dinge uns Ähnliches bereitet, wenn eines frühen Morgens wir uns plötzlich im Besitz der politischen Macht fänden, wäre dann auch die Partei hinreichend vorbereitet, die Gunst des Augenblicks auszubeuten? Ich sage dreist: Ja. Nur sollen wir uns recht klarmachen, dass alle Zukunftsmalerei vom Übel und Bocksprünge nicht gestattet sind.

Nehmen wir an, das Kaiserliche Heer sei sozialdemo­kratisch geworden, die Unteroffiziere wüssten den Leuten die preußische Räson nicht mehr beizubringen, die Füsiliere seien heimgezogen, dem Parlament sei Angst überkommen, die Bänke leer und der Arbeiterkongress habe die Plätze besetzt. Da wäre denn wohl das nächste, das auszuführen, worüber längst alle einig sind: der Ersatz des stehenden 'Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung. Flinten und Säbel, Pulver und Blei werden ausgeteilt und somit die Demokratie auf den Felsen gegründet.

Unter diesen Verhältnissen ist das Volk beeinflusst von der Notwendigkeit der Produktion, ist der Kongress beeinflusst vom Volke, und die einzelnen Mitglieder — sofern Zukunftsschwärmer unter ihnen — sind unschädlich ge­macht von dem praktischen Sinne der Majorität, welche den Grundsatz hochhalten wird, dass ein erfolgloses Unter­nehmen ein kopfloses ist.

Wer von der Ratlosigkeit des Volkes spricht und an das Chaos denkt, vergisst unsere Voraussetzung, dass eben die Situation nicht aus einem Handstreich, nicht aus einer Überrumpelung der bestehenden Macht hervorgegangen, sondern aus der sozialdemokratischen Erkenntnis der Masse sich entwickelt hat, welche letztere nun weiß, dass das Brot, bevor verabreicht, durch ernste Arbeit erzeugt werden muss, dass es sich nicht darum handeln kann, das „heilige“ Eigentum zu profanieren, sondern zu läutern, dass, wie bisher so auch fürder die vorhandenen Produkte zur Fortsetzung der Produktion dienen müssen.

Es gilt also die Arbeit zu organisieren, und zwar so, dass jeder Arbeiter seinen gerechten Lohn erhält, nicht wie heute nur einen verkümmerten Teil, sondern den vollen Ertrag seiner Arbeit.

Aber da sind wir gerade an einem Punkte, über welchen recht viele unserer Genossen in ökonomischer Unkenntnis sich den bedauerlichsten Illusionen hingeben. Jeder ver­langt den vollen Ertrag seiner Arbeit. Recht so; aber er vergesse nicht, dass es in der künftigen Gesellschaft keine Patriarchen geben wird, welche auf einem abgegrenzten Grundstück von der Viehzucht leben. Wir arbeiten heute schon und wollen künftig noch ausdrücklicher als soziale Glieder des Ganzen schaffen; d. h., die Arbeit ist nicht nur 1 geteilt in der Werkstätte, sondern ist auch national und national geteilt. Man vergesse nicht, dass jeder einzelne Arbeiter, jede Werkstätte, jede Genossenschaft und selbst auch die Nationen kein Stück, sondern nur ein Stückwerk von der Arbeit liefern. Die Lieferung des kompletten Arbeitsprodukts ist eine internationale Angelegenheit. Wasser kann man teilen, und was man davon abgeteilt, sind gleichartige Stücke; aber einen Organismus kann man nicht teilen, ohne ihn zu zerstückeln. Der Arbeitsprozess ist ein Organismus. Was der einzelne, was die Genossen­schaft und auch die Nation leistet, ist eine unfertige und insofern noch unbrauchbare Leistung. Wenn auch der Zimmermann sein Holz fertig hat, so kann er doch kein fertiges Stück Arbeit liefern, sondern nur Stückwerk, weil zum Hause mehr gehört wie der Zimmermann. Und wenn auch das Haus fertig ist, ist die Arbeit doch noch unfertig, weil auch Möbel, Kleiderschränke mit Kleidern, Kochtöpfe und vieles zum Kochen erforderlich ist. Ein kultivierter Mensch bedarf der Arbeit der ganzen kultivierten Welt; allerdings nur einen Teil, aber einen Teil der Gesamtarbeit. Darum genügt uns längst der Tausch nicht mehr, sondern jeder bedarf Geld für seine Leistung, weil eben im Geld das Geheimnis steckt, ein Stück der Gesamtarbeit aller kulti­vierten Menschen zu sein. Wie kann jemand vom Ertrag seiner Arbeit leben wollen, da die Privatarbeit doch so einseitig und das Leben so Vielseitiges bedarf! Man will natürlich nur ein Äquivalent, nur eine gerechte Ent­schädigung. Aber eben das ist die Frage: was heißt da gerecht? Was ist Äquivalent?

Hüten wir uns vor der idealistischen Gerechtigkeit; sie ist ein metaphysischer Schemen, der neuzeitlich vielfach noch einen Schatten in unsere „Zukunft“ fallen lässt. Betrachten wir die gegebene Bourgeoiswelt, so ist die gewiss nicht zu loben wegen ihrer Gerechtigkeit. Aber diese Gerechtigkeit ist doch derjenigen vorzuziehen, welche vor­her die Ritter den Leibeigenen und die Klöster den Bauern angetan. — Jemand gerecht werden, heißt ihn befriedigen; damit man aber ihm gerecht werden kann, darf er nur das Mögliche und Schickliche verlangen. Die Arbeiterklasse will ihr ganzes Recht, kein Stück — aber sie will es doch nur, soweit es schicklich, d. h. möglich ist. Denn das ganze Recht ist eben unmöglich, weil es eine historische, eine künftige weitere und weitere Angelegenheit der geschicht­lichen Entwicklung ist. Die Gerechtigkeit wächst mit der Kultur, aber sowenig daran zu denken ist, die Kultur par decret einzuführen, sowenig lässt sich die Gerechtigkeit an einem bestimmten Revolutionstage austeilen! Wir können sie nur kultivieren, nur peu à peu erarbeiten.

Die Sache jedoch wird klarer und sich leichter erläutern, wenn wir zu unserm Kongress zurückkehren, der über Nacht ein Volksparlament geworden war. Mit dem Dring­lichsten hatte er begonnen: mit dem Schwert in den Händen des Publikums. Ein Nächstfolgendes kann nicht sein, über Gerechtigkeit zu spekulieren, sondern den Arbeitslosen lohnende Arbeit zu schaffen. Die Mittel fehlen nicht. Es wird aber kein Sozialist darauf antragen, dass wir sie denen nehmen, die sie zur eigenen Arbeit gebrauchen, also den kleinen Handwerkern und Bauern. Nahe dagegen liegen uns die Dränger der Menschheit, die viel verdienen und wenig zahlen. Da sind die Eisenbahn-Gesellschaften, die Domänen und Rittergüter, Bergwerke, Hochöfen, Walzwerke, Spinnereien, Webereien etc. etc. Insofern sich die Herrschaften bis hierher anständig benommen, werden auch wir uns anständig benehmen. Die Expropriateure wären gegen eine mäßige Entschädigung zu expropriieren.

Ihre bisherige unendliche Rente würde das Volk gegen eine endliche bestimmte Rente ablösen. Bisher war den eiligen viel und den vielen wenig zugeteilt. Was könnte nun gerechter sein, als dass wir die Sache umdrehen? Derart, in zweifelloser Form, in einer Weise, der jeder von uns zustimmen muss, werden wir die Gerechtigkeit urteilen können. Aber nur keine Haarspaltereien, nur Leine philosophischen Flausen! Dahin sind denn Fragen zu rechnen wie folgende: „In welcher Weise die Entlöhnung der Arbeiter im Staate der sozialistischen Produktion zu geschehen habe, ob rein kommunistisch, in völlig gleich­mäßiger Verteilung der Genüsse, oder ob jeder Arbeiter mit dem vollen Ertrage seiner individuellen Arbeit gelohnt werden solle; ob es mit der Gerechtigkeit vereinbar, dass der Fleißige mit dem Faulen den gleichen Ertrag habe, oder ob nicht vielmehr die Gerechtigkeit verlange, dass der mit Stärke oder Talent begabte für den schwachen oder linkischen Bruder mitarbeite.“

Solche Redensarten sind nicht nur müßig, sie sind durchaus „faul“, sie gehn aus der grundverkehrten Ansicht hervor, dass der künftige Staat ein Schablonenstaat sein könnte. Die sozialistische Welt wird wohl eine andere Welt sein wie diese schlechte Bourgeoiswelt, aber doch keine total andere; es wird doch auch wieder dieselbe Welt sein. Die Ungerechtigkeit wird wohl abgeschafft, aber die Ungerechtigkeit wird dennoch bleiben. Kinder, seid nicht so! Wir fahren nicht aus der Haut. Auch im sozialistischen Staate werden die Dinge je nach Umständen, nach Ort und Zeit und Land und Leuten mannigfaltig sein. Da wird für gleichen und für ungleichen Lohn, auf Zeit und auf Stück, fleißig und faul gearbeitet werden. Wie kann es anders sein, als dass einer für den andern mitarbeitet ? Ist es nicht schon immer gewesen? Nicht nur, dass der Starke den Schwachen, dass der Fleiß die Faulheit unterstützt; auch muss der Fleiß noch dem Fleiße helfen. Das ist ja das einzige Mittel der Kultur, dass wir uns zusammenscharen, um durch Genossenschaft zu erreichen, was dem einzelnen unerreichbar. Es ist bei den Arbeitern genauso wie bei Hammer und Zange, bei Meißel und Säge. Die verschie­denen Gerätschaften bringen ein Werk zustande; aber wie sollen wir nun ermessen, wer das meiste getan? — Weil der Hammer zehnmal auf einen Nagel klopft, den die Zange mit einem Ruck auszieht, soll deshalb der letzteren Werk verdienstlicher sein? Es ist uns gewiss nicht darum zu tun, dem General, der kommandiert, eine Dotation zu geben, und dem Gemeinen, der die Strapazen und Gefahren aus­steht, mit einem eisernen Kreuz zu lohnen; aber ich weiß auch nicht, woran ich erkennen soll, dass der Handlanger, der die Ziegel im Schweiße schleppt, mehr verdienen müsste als der Maurer, der sie mit Leichtigkeit zurecht-schiebt. Wenigstens gibt mir die Gerechtigkeit kein moralisches Maß zur Ermessung des Verdienstes, und halte ich es für überaus wichtig, dass Marx uns das mate­rielle oder empirische Wertmaß der bürgerlichen Ökonomie hat kennen lernen.

Die ersten Tage nach dem Siege des Proletariats und vielleicht noch auf Jahre hinaus würde die sozialistische Gesellschaft dem Bedürfnisse der großen Masse voll­kommen gerecht werden, wenn sie (ohne weitläufige Er­wägung des Arbeitsertrages) jedem Arbeiter für einen achtstündigen Normalarbeitstag den landesüblichen Durchschnittslohn mit 100% Aufschlag zahlte. Nehmen wir 6 Mark an pro Tag. Ob das nun dem wirklichen Ertrag der Arbeit entspricht, ist einstweilen noch gar nicht zu ermessen, weil sich nicht spitz kalkulieren lässt, wie viel Mehrwert die miserable Wirtschaft von heute aus der arbeitenden Klasse herauspumpt. Wenn wir aber erwägen, wie zahlreich die Müßiggänger, wie luxuriös sie leben, wie groß die Planlosigkeit des ökonomischen Getriebes unserer Herrschaften, wie viel Reichtum sie negativ vergeuden, durch überlebte Methoden und arbeitslose Krisen — wenn wir alles das erwägen, dann ist der Satz gewiss nicht zu hoch gegriffen, dass die Arbeit in einer planmäßigen sozia­listischen Wirtschaft den heurigen Lohn doppelt eintragen muss; so, dass ich wenig einzuwenden wüsste, wenn irgend­ein Mitglied des Kongresses dreifachen oder gar vierfachen Lohn forderte. Angenommen auch, der Betrag wäre wirklich zu hoch gegriffen, das Produkt oder der Ertrag der Arbeit deckte die Ausgaben nicht, die Sozialisten machten Unterbilanz und zehrten die ersten Jahre vom Nationalvermögen — wäre denn das so eine horrible Kalamität? Wie manches Geschäft, wie manche Firma lässt sich die Konstituierung etwas kosten. Da heißt es, wer nicht säet, kann nicht ernten. Die nachfolgenden Betriebsjahre sollen das Vorgelegte doppelt und dreifach wieder einbringen. Und wenn der gut fundierte Kapitalist nicht knausert, warum sollte das denn der weit besser fundierte Sozialismus tun? Und wenn unter den Partei­genossen etliche sind, die nicht wissen, wo das Geld her­kommt, so belehren wir sie, dass unser Nationalvermögen groß ist und wir in Flüssigmachung desselben noch weniger skrupulös sind wie Bismarck.

Ich begreife nicht, warum den Parteigenossen die Zukunft so viele Schwierigkeit macht. Es wird uns allerdings noch schwer werden, an die Zukunft heranzukommen, schwer, die Leidensgefährten von ihrer servilen Gesinnung loszumachen, die moralische und intellektuelle Versumpfung zu drainieren und also mittelst der Verbreitung besserer Erkenntnis die politische Macht zu erobern. Dann aber, wenn so weit, sind wir weit genug. Die Bahn ist geebnet, und die zu ergreifenden Maßregeln können nicht wehr zweifelhaft sein. Wo Mittel und Stoff und Lust und Kraft in Hülle und Fülle vorhanden, werden uns Lappalien kein Halt gebieten.

Der Blick in die Ferne wird benebelt durch eine über­mäßige Ausschweifung. Man versteht die künftige Ökono­mie nicht, weil man die gegenwärtige missversteht. Die Sozialisten dürfen nicht, wie der Pastor, diese Welt von jener Welt, die Zukunft von der Gegenwart phantastisch oder brückenlos trennen. Was drückt uns heute? Nicht die Arbeit, wir sind Arbeiter mit Leib und Seele. Wenn wir demnächst gezwungen sind zu schaffen, wird uns der Zwang nicht weher tun, wie er heute tut. Wir können keine zwanglose Freiheit suchen. Wenn es dem künftigen Kongress nicht beliebt, den Arbeitszwang in das Gesetz aufzunehmen, dann wird es heißen: wer nicht arbeitet, bekommt keinen Lohn, und wer dann noch etwas zu beißen vorrätig hat, mag es erst verzehren; aber den Arbeitszwang können wir ihm nicht erlassen. Wir nennen uns gern radikal, das aber soll nicht heißen, wir seien aus dem Häuschen, wir wollten aus dieser Welt total hinaus, bis wir in eine andere geraten, wo man Pumpernickel in der Kirche singt.

Es gilt zu begreifen, dass sich die Zukunft aus der Gegen­wart organisch entwickelt. Nur wo man das missversteht und sich übertriebene Vorstellungen von den künftigen Neuerungen macht, verfällt man dem Fehler spekulativer Projektenmacher. Weil wir jetzt verstehen, dass das Geld nur ein untergeordnetes Zwischenglied für den Austausch und die Abschätzung der Arbeitsprodukte ist, dürfen wir nicht gleich denken, der sozialistische Staat müsse das Geld abschaffen und ein neues Prinzip oder einen mora­lischen Wertmesser an die Stelle setzen. Warum sollten wir nicht auf unsern künftigen Meiereien und Fabriken ruhig für Geldlohn arbeiten und die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ als immanentes Wertmaß aller Produkte fort­bestehen lassen? — Wenn nur dafür gesorgt wird, dass die Arbeit stets menschenwürdig gelohnt und stets lohnende Arbeit vorhanden ist, wird sich die Volksmasse mit unserm Fortschritt gern befriedigen. Und was steht denn heute lohnenden Arbeit entgegen?

Hier, wie überall, wo wir verstehen wollen, ist erforderlich, die Hauptsache von der Bagatelle zu trennen. Was uns hauptsächlich drückt, ist, dass der Ertrag unserer sauren Arbeit von Tagedieben verjubelt wird. Dem ist im sozialistischen Staate doch leicht abgeholfen, indem wir nicht in Diensten der Privatiers, sondern mit unsern eignen Staatsinstrumenten arbeiten. Auf die Frage, wo wir denn unsere Produkte anbringen, lautet die Antwort: wir kaufen und verkaufen sie unter uns und verzehren sie selbst und verständigen uns nebenbei mit andern Nationen, was und wie viel wir mit ihnen tauschen. Ob wir da den Wert in Gold oder in einem andern Produkte geben und empfangen, mögen wir unbesorgt dem konkreten Falle überlassen. Das Gold, was in der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden ist, geht der sozialistischen nicht verloren, und wenn es daran mangeln sollte, machen wir es wie der Kaiser von Russland und andere Potentaten, wir ersetzen es mit Papierläppchen. Vieles ist einzusehen, aber nur nicht, wie eine Gesellschaft in Verlegenheit kommen kann, die Kraft und Mittel hat zu arbeiten, welche die frugalsten Ansprüche macht und mit einer Produktivkraft begabt ist, wie sie die Welt nie zuvor gekannt hat.

In der sozialistischen Zukunft werden die Arbeiter Staatsbeamten, und die Beamten werden das, was die große Masse von ihnen auch jetzt ist : — redliche Arbeiter. Nur den Dünkel müssen wir ihnen austreiben, dass leicht­fertige Federfuchser berufen seien, den Staat zu regieren. Das kann die Volksmasse besser selbst besorgen. Und wenn sie erst das Regiment erlangt hat, dann steht nichts im Wege, die übermäßigen Gehälter zu beschränken und die Löhne der Staatsarbeiter auf eine menschenwürdige Höhe zu heben. Was da im Wege steht, sind einfache Simpeleien.

Zum Exempel die Frage : Wie soll künftig über den Beruf entschieden werden? Da von vornherein nicht zu wissen ist, wie viel die soziale Genossenschaft von diesem oder jenem Produkt konsumiert, und wir zugleich allen Arbeitern lohnende Arbeit schuldig sind, auch natürlich einen jeden nur nach gewohnter Art, in seinem Fach be­schäftigen können, so wird wohl passieren, was wir durch eine planmäßige Wirtschaft eben verhindern wollen, dass nämlich der sozialistische Markt mit irgendeinem Artikel überfahren und überladen wird, während anderes mangelt. Ei ja, solange die Sache nicht vollkommen organisiert ist —und das wird wohl eine Ewigkeit dauern —, wird es auch Unzuträglichkeiten geben. Aber ist es nicht genug, wenn fortschreitend die wesentlichsten und empfindlichsten Schäden ausgemerzt werden? Werden nicht auch heute die Arbeiter zu Hunderten aus ihrer Branche heraus geworfen und von einem Metier zum andern getrieben? Hat nicht der industrielle Fortschritt, die Verbesserung der Maschinerie usw. an sich schon die Tendenz, die Teilung der Arbeit in gesonderte Fächer insofern aufzuheben, als nunmehr die frühere Kunstfertigkeit auf einfache Handtäste reduziert wird? Die moderne Industrie bedarf immer weniger geschulter Handwerker, immer mehr und mehr wird die Arbeit allgemeine menschliche Durchschnittsarbeit, die von jedem Durchschnittsmenschen in den ver­schiedensten Branchen kann besorgt werden. Einerseits, erleichtert die Entwicklung der Industrie es, aus dem Schuster einen Weber zu machen, und anderseits geht eben die sozialistische Produktion darauf aus, durch statistische Feststellung des Bedarfs alle Konjunkturen zu beseitigen_ Wenn es nun auch in unserm Zukunftsstaate vorkommen könnte, dass jemand, der Maler werden wollte, die Schiebkarre fahren müsste, dann wäre das um nichts horribler wie jetzt, wo so viele General werden möchten, die schließlich Küster-, Polizeidiener und andere subalterne Stellen annehmen.

Verwöhnte Pomadenhengste mögen in Ohnmacht fallen, wenn sie daran denken, dass eine Zeit im Anmarsch ist, wo eiserne Notwendigkeit auch sie zwingt, das zu tun, was sie jetzt in unnötig harter Weise auf andere Schultern abladen. Die Volksmasse aber hat keine Ursache, sich vor aufgeblasenen Kleinigkeiten zu fürchten.

Für die eigentlichen Arbeiter ist diese Versicherung allerdings überflüssig. Mag aus der Zukunft werden, was will, schlechter wie in der Gegenwart kann es für sie nicht sein. Sie haben nichts zu verlieren. Aber nun gilt es, dem Kleinbürger begreiflich zu machen, dass er das Hinauflugen, das Verlangen nach Besitz und Erwerb aufzugeben hat, weil es das unabänderliche Naturgesetz der Volkswirtschaft ist, über die Kleinkrämerei hinweg zur Tagesordnung des Großbetriebs überzugehen. Kaum brauchen wir es ihnen vorzuhalten, sie fühlen ihre wirtschaftliche Misere gar zu gut, sehen zu deutlich, wie ihr bisschen Habe von Tag zu Tag mehr verschuldet, mehr ins Gedränge, mehr zwischen die Gerichtsvollzieher kommt. Truppweise gelangen sie herab in die Reihen des Proletariats. Und wer noch eine eigene Werkstätte und einige Tausende eigenes Vermögen hat, der soll nur ja nicht stolzieren. Morgen trifft ein Verlust und übermorgen ein Todesfall, und was der Vater und die Mutter nicht geahnt, das passiert den Kindern : Sie verlassen den hergebrachten Stand und werden Lohnarbeiter sans phrase.

Und nicht nur der Spießer, auch der gemästete Bourgeois leidet an der sozialen Krankheit. Wie wird es heute den Aktionären des Kalker Humboldt oder der Friedrich-Wilhelm-Hütte bei Troisdorf zumute sein? Sie wissen wohl, dass das Geschäft nur lappert — bis eines frühen Morgens die Hauptaktionäre oder Prioritätenbesitzer herankom­men, um zu liquidieren. Die Affäre wird unter den Hammer gebracht, und ein kleines Konsortium akquiriert den Schwamm für eine Bagatelle. Nicht nur die kleinen Fische werden von den Hechten, auch die größeren Hechte werden von den weitschlündigen Haien verschluckt.

Unter solchen Umständen muss der erschütterte Bürger wohl disponiert sein, diese elende Welt fahren zu lassen und mit uns eine andere zu erstreben, wo im Notfalle für ihn und seine Kinder menschenwürdig gesorgt ist. Es be­darf nur der Einsicht in den ökonomischen Gang der Dinge, um die Mittelklassen stromweise zu uns heranzu­ziehen. Da ist es denn vom Übel, sie bange zu machen und ihnen eine gewaltmässige Zukunft vorzumalen. Der Sozia­lismus hat keine andere Tendenz, wie dem natürlichen Zug der Weltgeschichte Luft und Raum zu schaffen. Da gleichen wir wohl den Manchestermännern, die auch behaup­ten, ihre heutige Konkurrenzwirtschaft sei ewiges Natur­gesetz. Jawohl: Nur mit dem Unterschiede, dass wir den Menschenkopf, die Planmäßigkeit und den Vorbedacht mit unter die Naturdinge rechnen und es also auch natürlich finden, Handel und Wandel nicht laufen zu lassen, wie's will oder wie der Mastbürger will; sondern Vorsorge treffen, dass der schon bröckelnde ökonomische Einsturz unsere Häupter geschützt findet.

Dazu ist die Vereinigung aller arbeitenden Kräfte der einzige Weg. Sie wollen nicht mehr jeder für sich, sondern gemeinschaftlich arbeiten, die Arbeit als eine Gemeinschaft betreiben. Der genossenschaftliche Sinn ist dazu vorhanden, bedarf aber der Erweiterung. Sowohl die einzelnen wie die Fächer und Gewerkschaften sollten sich klarmachen, dass das subtile Abwägen von Mein und Dein in der Kommune nicht gestattet sein kann, dass die generöse, selbstlose Hingabe aller Kräfte an die Gemeinschaft Dir und Mir mehr einbringt als die gerechteste Knauserei.

Gewiss muss alles auf der Welt begrenzt sein. Der Kom­munismus der gesamten Zivilisation ist eine verschwom­mene Idee; die vereinigten demokratischen Staaten von Europa sind noch nicht konstituiert; auch das deutsche Reich wird schwerlich in der Lage sein, auf seinem ganzen Terrain und in allen Klassen an einem bestimmten Tage die große Genossenschaft einzuführen. Kaum eine kleine Pfarrgemeinde wird sich finden lassen, welche in einer ab­sehbaren Zeit oder auch nur überhaupt den Sozialismus mit allen Konsequenzen dekretieren könnte. Da sind wir denn genötigt, ganz hausbacken an das Bestehende an­zubinden. Wir nehmen die politischen Grenzen, wie sie da sind. Die deutschen sowohl wie die französischen und englischen Arbeiter können ihre Befreiung nur auf natio­naler Basis erstreben, ohne deshalb den internationalen Verkehr zu unterbrechen. Die sozialistische Zukunft ver­folgt darin denselben Weg wie die heutige Produktion. Warum sollten die Sozialisten nicht das in aller Welt beliebte internationale Gold als Zahlung für ihre Arbeit an­nehmen, wenn sie nur sorgen, dass das goldene Äquivalent besser wie heute der Leistung entspricht, d. h., dass man dem Gaul auch den Hafer gibt, der ihn verdient. Man wird einfach die Prinzipäle abschaffen und an die Stelle einen demokratischen Staatsprinzipal einsetzen. Dem hat das Volk dann auf die Finger zu sehen, dass jeder Heller im Sinne der höchsten Gerechtigkeit, im Sinne des Gemeinwohls Verwendung findet. Das sozialistische Ideal liegt im Gemeinwohl, nicht aber in der plumpen Gerechtigkeit einer rohen Gleichmacherei.

Wenn unsere künftige Produktion nur Wichse oder Zündhölzer zu fabrizieren hätte, ließe sich vielleicht das Pensum und der Ertrag für jeden Arbeiter genau verteilen; aber auch dann nur unter der Bedingung, dass jeder den eigenen Brei anrührte, durchknetete, formte, einschachtelte etc., kurz, das Produkt von a bis z herstellte. Aber schon in einer Wichsfabrik ist es vorteilhaft, die Arbeit zu teilen, und lässt sich dann an den fertigen Töpfchen oder Schäch­telchen nicht abmessen noch zählen, ob derjenige mehr ge­leistet, der den Stoff anrührte oder einfüllte, oder der die Geschichte verpackt hat. Das Wichsprodukt ließe sich noch gleich verteilen; aber wie soll das mit dem Landes­produkt möglich sein, wo dem einen das Blümchen missfällt, was der andere zeichnet, und dieser nicht essen mag, was jener kocht.

Die Sozialisten werden wohl viel von der Windbeutelei, von den Fransen und dem Schnickschnack der heutigen Welt beseitigen, ihre Produktion verständiger und einheit­licher halten; aber den Reichtum der Mannigfaltigkeit werden sie sich doch nicht nehmen lassen. Es ist verstän­dig, dass wir unsere Launen und Kaprizen zügeln, also die übermäßigen Schnörkel stutzen, aber die Verschiedenheit des Talents, der Gesinnung und des Geschmacks darf nicht leiden. Nicht Armut, keine Abstinenz und kein Zölibat, kein christlicher Unsinn, sondern Reichtum ist unser Prinzip, und die planmäßige demokratische Produktion kann keine berechtigte Eigentümlichkeit verkümmern lassen.

Da nun dazu alle Mittel reichlich vorhanden sind, soll uns auch die gerechte Verteilung der künftigen Pflichten und Rechte keine übermäßige Sorge machen. Ich schlage vor, wir lassen es anfänglich bei der Geldgerechtigkeit und halten darauf, dass die gute Idee, die schon im heutigen Handel liegt, zur rechten Entfaltung kommt, die rechtschaffene Idee nämlich, dass einer den andern nicht prellt, nicht übervorteilt, sondern jeder Wert für Wert gibt.

Wenn 1 Stück Leinewand 3 Mark wert ist, dann heißt das bekanntlich, das in 3 Mark enthaltene Gold enthält ebensoviel Durchschnittstagewerk wie 1 Stück Leinewand, heißt also, ein Tagewerk soll soviel gelten wie das andere. Halten wir an diesem guten Grundsatz fest, dann kann die sozialistische Zukunft niemals Bankrott machen. Die Genossenschaft zahlt ihren Mitgliedern das Tagewerk oder den Normalarbeitstag nach dem Durchschnittswert, d. h., sie gibt dafür soviel Gold, als in einem Tagewerk produziert werden kann, und für dieses Gold kauft das Mitglied in den Konsumläden der Genossenschaft alle Möglichkeit, die ein Durchschnittstag herstellt. Der dabei mögliche Einwurf, dass in der Tat und Wirklichkeit Tagewerk und Tagewerk nie dasselbe ist, oder dass in einer Werkstätte der eine fleißiger, der andere geschickter, der dritte einen leichtern Dienst hat, dass das geniale Tagewerk mehr wert ist wie das mechanische, sind Wahrheiten, welche die Gewerkschaften unter sich leicht auszugleichen wissen, für das große Ganze aber stets Lappalien bleiben.

Um die Bedenklichen noch weiter zu erleichtern, sei darauf hinzuweisen, dass der sozialdemokratische Staatsprinzipal nicht sofort gewaltmässig alle Privatprinzipäle verschlingen muss, sondern sich anfänglich auf einzelne Zweige und Etablissements beschränkt, um dann durch hohe Löhne und billige Verkaufspreise seinen Konkurrenten das Leben saurer und saurer zu machen. Die sozialistische Staatsproduktion wird zunächst auf die gröbste Notwendigkeit, auf das Substantiellste oder die sogenannten kuranten Artikel gerichtet sein müssen. Die Nippsachen und Eitelkeiten mögen ruhig der Privatarbeit belassen sein, bis der kommunistische Hauptbetrieb so weit organisiert ist, dass mit dem Erfolg die Lust, über Essen der Appetit wächst. Dann mag auch Küche und Hausarbeit sich kommunistisch gestalten, indem unser Staat Hoteliers und Restaurateure installiert und durch billige Preise und gute Bedienung die Genossen zur table d'hôte heranzieht. Die größtmöglichste Freiheit aber muss bleiben, es muss und kann jedem Arbeiter freistehn, den Ertrag seiner Arbeit nach individuellem Geschmack auf einer einsamen Villa oder im leben­digen Wirtshaus zu verzehren.

Um dieser Freiheit willen erlaube ich mir deshalb den werten Parteigenossen die Frage zur Diskussion zu stellen, ob nicht dem verhassten Mammon vollständig die Zähne ausgebrochen sind, wenn wir uns den Arbeiter- oder Volksstaat als Meister engagieren, der nebst dem guten Willen die nötigen Mittel besitzt, um jeden Genossen mit einem annehmbaren Dienste und auskömmlichen Gehalte zu plazieren. Dabei ist zu erwägen, dass in der neuen Welt eine neue Sittlichkeit die Menschen ergreifen wird, die dann noch über hundert Schwierigkeiten weghilft, die uns heute wie Berge anglotzen.

Wie der alte Cato jedes Mal seine Rede schloss mit einem: Karthago muss zerstört werden, so möchte ich zum Schluss ewig wiederholen: Lasst uns, Parteigenossen, nur über Nebendinge nie die Hauptsache vergessen.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007