Antonio Gramsci


Utopie

(25. Juli 1918 [1])


Gezeichnet A.G., Avanti, Ausgabe für Piemont, 25.7.1918, Jg.XXII, Nr.204;
in: Antonio Gramsci, Scritti giovanili 1914-1918, Turin 1958, S.280-287.
Ins Deutsch übersetzt von Sabine Kebir;
in: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig, 1986.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan fü das Marxists’ Internet Archive.


Die politischen Verfassungen sind notwendigerweise von der ökonomischen Basis abhängig, von den Formen der Produktion und des Austausches. Mit dem einfachen Aufsagen. dieser Formel glauben viele, jedes politische und historische Problem gelöst zu haben, sie glauben, imstande zu sein, ohne weiteres Lektionen zu erteilen, mühelos Ereignisse beurteilen zu können und beispielsweise zu schlußfolgern: Lenin ist ein Utopist, die unglückseligen russischen Proletarier leben in vollständiger utopischer Illusion, ein schreckliches Erwachen erwartet sie unwiderruflich.

In Wahrheit existieren nicht zwei einander völlig gleiche politische Verfassungen, ebensowenig wie zweimal die gleiche ökonomische Basis existiert. In Wahrheit ist diese Formel durchaus nicht der trockene Ausdruck eines Naturgesetzes, das sofort in die Augen springt. Zwischen der Voraussetzung (ökonomische Basis) und der Folge (politische Verfassung) bestehen alles andere als einfache und direkte Beziehungen; und, die Geschichte eines Volkes wird nicht allein durch die ökonomischen Fakten dokumentiert. Die Auflösung der, Kausalität ist komplex und verwickelt, und bei der Entwirrung hilft nur tiefgehendes und umfassendes Studium aller geistigen und praktischen Aktivitäten; und dieses Studium ist erst möglich, nachdem die Ereignisse sich in einen Zusammenhang gefügt haben, das heißt lange, sehr lange, nachdem sie stattgefunden haben. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß eine bestimmte politische Verfassung sich nicht siegreich durchsetzen wird (nicht dauernd bestehenbleibt), wenn sie nicht unlösbar und ihrem Wesen nach einer bestimmten ökonomischen Basis angehört, aber diese Behauptung hat keinen anderen Wert als den einer allgemeinen Aussage; wie könnte man, während sich die Fakten entwickeln, in der Tat wissen, in welcher Weise genau sich diese Abhängigkeit stabilisieren wird? Die unbekannten Größen sind zahlreicher als die überprüfbaren und kontrollierbaren Daten, und jede dieser unbekannten Größen kann eine voreilig geäußerte Vermutung umstoßen. Die Geschichte ist keine mathematische Rechnung, sie kennt kein Dezimalsystem, keine fortschreitende Zahlenreihe von gleichen Größen, die die vier Grundrechenarten sowie Gleichungen und Wurzelziehen erlaubt: Die Quantität (ökonomische Basis) wird hier zu Qualität, denn sie wird in der Hand der Menschen Instrument des Handelns, der Menschen, die nicht nur durch ihr Gewicht, ihre Statur und die mechanische Energie, die sie mit Muskeln und Nerven entwickeln können, Wert bekommen, sondern besonders dadurch, daß sie Geist sind, daß sie leiden, verstehen, sich freuen und etwas wollen oder nicht wollen. In einer proletarischen Revolution ist die unbekannte Größe „Menschheit“ verschwommener als bei irgendeinem anderen Ereignis; die geistige Vielschichtigkeit des russischen Proletariats ist – wie die des Proletariats im allgemeinen – niemals erforscht worden, und vielleicht war es auch unmöglich, sie zu erforschen. Der Erfolg oder Mißerfolg der Revolution wird uns ein zuverlässiges, Dokument seiner Fähigkeit vermitteln, Geschichte zu machen. Im Augenblick können wir nur abwarten.

Der, der nicht abwarten, sondern gleich ein endgültiges Urteil fällen will, stellt sich andere Ziele: aktuell-politische Ziele, für die er jene Menschen gewinnen will, an die sich seine Propaganda richtet. Die Behauptung, daß Lenin ein Utopist sei, ist kein kultureller Fakt, kein historisches Urteil – es ist ein aktueller politischer Akt. Die trockene Behauptung über die politischen Verfassungen usw., ist keine wissenschaftliche Aussage; mit ihr wird versucht, eine bestimmte Geisteshaltung zu erzeugen, damit das Handeln in eine bestimmte und nicht in eine andere Richtung gelenkt wird.

Keine Tat bleibt ohne Ergebnisse im Leben, und der Glaube an die eine statt an die andere Theorie hat seine besonderen Einflüsse auf das Handeln: Auch der Irrtum hinterläßt Spuren; wenn er weit verbreitet ist und akzeptiert wird, kann er das Erreichen eines Zieles verlangsamen (wenn auch nicht verhindern).

Und das ist ein Beweis, daß die ökonomische Basis nicht direkt, die politische Aktion bestimmt, sondern die Interpretation, die man sich von dieser macht, und von den sogenannten Gesetzen, die die Entwicklung lenken. Diese Gesetze haben nichts gemein mit den Naturgesetzen, obwohl auch diese in Wirklichkeit keine objektiv gegebenen Daten sind, sondern nur Konstruktionen unseres Denkens, nützliche Schemata, brauchbar für die Bequemlichkeit von Studium und Lehre.

Die Ereignisse hängen nicht von der Willkür eines einzelnen oder einer mehr oder weniger zahlreichen Gruppe ab; sie hängen vom Willen der vielen ab, der sich im Tun oder Lassen bestimmter Dinge und in damit korrespondierenden Geisteshaltungen äußert, und sie hängen ab vom Bewußtsein,, das eine Minderheit von diesem Willen hat, und wie sie es versteht, ihn mehr oder weniger auf ein gemeinsames Ziel auszurichten, nachdem dieser Wille vieler im Rahmen der Staatsgewalt vereinigt wurde.

Wieso führen die Individuen in ihrer Mehrheit nur bestimmte, Handlungen aus? Weil sie keine anderen sozialen Ziele haben als die Bewahrung der eigenen physischen und moralischen Unversehrtheit. So kommt es, daß sie sich den Umständen anpassen, mechanisch einige Handlungen ausführen, welche sich nach den eigenen Erfahrungen oder nach der empfangenen Erziehung (ein Resultat der Erfahrungen anderer) als brauchbar erwiesen haben für das Erreichen des Ziels, nämlich leben zu können. Diese Übereinstimmung im Handeln der Mehrheit der Menschen erzeugt einander ähnliche Auswirkungen, verleiht der ökonomischen Aktivität eine bestimmte Struktur: Daraus entspringt der Begriff des Gesetzes. Nur die Verfolgung eines höheren Ziels stört diese, Anpassung an die Umwelt; wenn das Ziel der Menschen nicht mehr das reine Überleben ist, sondern eine höhere Form des Lebens, werden, größere Anstrengungen gemacht, und je nach der Verbreitung des höheren menschlichen Ziels gelingt es, die Verhältnisse zu verändern, es entstehen neue, von den vorhandenen verschiedene Hierarchien, die die Beziehungen zwischen den einzelnen und dem Staat regeln, mit der Tendenz, diese völlig zu ersetzen, um das höhere menschliche Ziel weitgehend zu verwirklichen.

 

 

Wer diese Pseudogesetze für etwas Absolutes, vom Willen der einzelnen Unabhängiges hält und nicht für eine psychologische Anpassung an die Umwelt, die durch die Schwäche der einzelnen (die, nicht organisiert, Unsicherheit vor der Zukunft empfinden) hervorgerufen wird, der kann sich nicht vorstellen, daß sich die Psychologie wandeln, daß aus der Schwäche Stärke werden kann. Und doch ist es so, und das Gesetz, das Pseudogesetz, zerbricht. Die Individuen treten aus ihrer Vereinzelung heraus und assoziieren sich. Aber wie kommt es zu diesem Assoziierungsprozeß? Auch diesen kann man nur nach dem absoluten Gesetz konzipieren, nach der Normalität, und wenn das Gesetz – infolge von Denkfaulheit oder eines Vorurteils – nicht sofort in die Augen springt, wird geurteilt und geschrien: Utopie, Utopisten!

Lenin ist also ein Utopist, das russische Proletariat lebt seit dem ersten Tage der bolschewistischen Revolution bis heute in totaler Utopie, und ein schreckliches Erwachen steht ihm unwiderruflich bevor.

Wenn man auf die russische Geschichte die abstrakten, allgemeinen Schemata anwendet, die geschaffen worden sind, um die Etappen der normalen Entwicklung des ökonomischen und politischen Lebens der westlichen Welt verfolgen zu können, dann kann die Schlußfolgerung nicht anders sein als so. Aber jedes historische Phänomen hat eine „Individualität“; die Entwicklung wird vom Rhythmus der Freiheit bestimmt; die Forschung darf nicht der allgemeinen, sondern muß der besonderen Notwendigkeit Rechnung tragen. Der Kausalprozeß muß auf Grund der russischen Ereignisse studiert werden und nicht von einem allgemeinen und abstrakten Standpunkt aus.

In den russischen Ereignissen gibt es zweifellos die Beziehung der Notwendigkeit, eine Beziehung der kapitalistischen Notwendigkeit: Der Krieg ist die ökonomische Bedingung gewesen, das System des praktischen Lebens, das den neuen Staat erforderlich gemacht hat, das die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats begründet hat: der Krieg, den das rückständige Rußland in denselben Formen führen mußte wie die fortgeschritteneren kapitalistischen Staaten.

Im patriarchalischen Rußland konnten sich nicht solche Bevölkerungszusammenballungen ergeben wie in einem industrialisierten Lande, die die Bedingung dafür sind, daß sich die Proletarier untereinander kennenlernen, organisieren und das Bewußtsein der eigenen Kraft als Klasse erwerben, um ein universales Menschheitsziel zu verfolgen. Ein Land mit extensiver [2] Landwirtschaft isoliert die Individuen, macht ein gleiches und verbreitetes Bewußtsein unmöglich, macht es u unmöglich, daß sich proletarische soziale Einheiten bilden, ebensöwenig wie das konkrete Klassenbewußtsein, welches das Ausmaß der eigenen Kraft zeigt und den Willen verleiht, ein Regime zu errichten, das auf die Dauer von dieser Kraft getragen wird.

Der Krieg ist die höchste Konzentration der ökonomischen Aktivität in den Händen weniger (der Führer des Staates); ihr entspricht die höchste Konzentration von Individuen in den Kasernen und Schützengräben. Im Krieg war Rußland wirklich das Land der Utopie: Mit Menschen, die eher zu einer Barbareninvasion geeignet waren, glaubte der Staat, einen Krieg der Technik, der Organisation, des geistigen Widerstands führen zu können, was nur Menschen leisten können, die geistig und physisch durch die Fabrik und durch die Maschine gestählt sind. Der Krieg war die Utopie, und das patriarchalische zaristische Rußland hat sich aufgelöst unter höchster Anspannung der Kräfte, die es sich selbst auferlegt hatte und die ihm auch vom kampferfahrenen Gegner aufgezwungen worden war: Aber diese durch die ungeheure Kraft des despotischen Staates künstlich erzeugten Bedingungen haben ihre Konsequenzen nach sich gezogen: Die große Masse der sozial vereinzelten Individuen, auf einem kleinen geographischen Raum einander nähergebracht, dichter zusammengerückt, haben neue Gefühle, eine unglaubliche menschliche Solidarität entwickelt. Je schwächer sie sich vorher in der Isolierung gefühlt und je mehr sie sich unter dem Despotismus gebeugt hatten, um so größer war die Entdeckung der nunmehr existierenden kollektiven Kraft, um so mächtiger und zäher war der Wunsch, diese zu bewahren und mit ihr die neue Gesellschaft zu errichten.

Die despotische Disziplin schmolz dahin, eine Periode des Chaos folgte. Die Individuen versuchten sich zu organisieren – aber wie? Und wie kann eine Einheit der Menschen erhalten bleiben, die aus dem Leiden hervorgegangen ist?

Der Philister hebt die Hand und antwortet: Die Bourgeoisie mußte Ordnung in das Chaos bringen, weil es stets so gekommen ist, weil der patriarchalisch-feudalen Ökonomie immer die bürgerliche Ökonomie und die bürgerliche politische Verfassung folgt. Der Philister sieht keine Rettung außerhalb der vorgefaßten Schemata, er konzipiert die Geschichte nur als einen natürlichen Organismus, der feststehende und vorhersehbare Entwicklungsphasen durchmacht. Wenn du eine Eichel säst, bist du sicher, daß nichts anderes als ein Eichenschößling das Licht der Welt erblickt, der langsam wächst und, erst nach einer gewissen Zahl von Jahren Früchte tragen wird. Aber die Geschichte ist kein Eichenhain, und die Menschen sind keine Eicheln.

Wo war in Rußland die Bourgeoisie, die fähig gewesen wäre, diese Aufgabe zu erfüllen? Wenn ihre Herrschaft ein Naturgesetz sein soll, wieso hat das Gesetz nicht funktioniert?

Eine solche Bourgeoisie ist nicht zum Vorschein gekommen: Einige wenige bürgerliche Vertreter haben versucht, sich durchzusetzen, und wurden geschlagen. Hätten sie siegen, sich durchsetzen sollen, so wenige wie sie waren, unfähig und schwach? Was für eine heilige, Salbung hätte diesen Unglücklichen zuteil werden müssen, damit sie noch im Verlieren triumphieren? Ist denn der historische Materialismus nur eine Verkörperung des Legitimismus, des göttlichen Rechts?

Wer findet, daß Lenin ein Utopist ist, wer behauptet, daß der Versuch der proletarischen Diktatur in Rußland ein utopischer Versuch ist, kann kein bewußter Sozialist sein, er hat seine Bildung nicht auf das Studium des historischen Materialismus gegründet: Er ist ein Katholik, versumpft im Syllabus. [3] Er ist der alleinige, der wirkliche Utopist.

Die Utopie besteht gerade darin, die Geschichte nicht als eine freie Entwicklung zu konzipieren, die Zukunft als etwas Feststehendes, bereits Vorgezeichnetes zu sehen, an vorbestimmte Pläne zu glauben. Die Utopie ist Philistertum, wie – es Heinrich Heine verspottet: Die Reformisten sind Philister und utopische Sozialisten, wie auch die Protektionisten und die Nationalisten Philister und Utopisten der kapitalistischen Bourgeoisie sind. Heinrich von Treitschke [4] ist der typische Vertreter des deutschen Philistertums (die deutschen Staatsanbeter sind seine geistigen Nachfolger), wie Auguste Comte [5] und Hippolyte Taine [6] das französische Philistertum repräsentieren und Vincenzo Gioberti [7] das italienische. Das sind die, die eine nationale historische Mission predigen oder an die individuellen Berufungen glauben, es sind all jene, die auf die Zukunft einen Wechsel ausstellen und glauben, sie in ihre vorgefaßten Schemata pressen zu können, die nich t die göttliche Freiheit begreifen und stets der Vergangenheit nachtrauern, weil sich die Ereignisse zum Schlechten gewendet hätten.

Sie verstehen die Geschichte nicht als freie Entwicklung von freien Energien, die frei geboren werden und sich gegenseitig frei ergänzen, verschieden von der Evolution in der Natur, weil der Mensch und die Menschengruppen verschieden sind von den Molekülen und Molekülgruppen. Sie haben nicht gelernt, daß die Freiheit die der Geschichte innewohnende Kraft ist, die jedes vorgefaßte Schema sprengt. Die Philister des Sozialismus haben die sozialistische Lehre entwürdigt, sie selbst haben sie beschmutzt und ereifern sich komischerweise gegen jene. die sie – ihrer Meinung nach – nicht respektieren.

In Rußland hat die freie Bejahung der individuellen und der vereinten Energien die Barrieren der Phrasen und der vorbestimmten Pläne niedergerissen. Die Bourgeoisie hat versucht, ihre Herrschaft zu errichten, und ist gescheitert. Das Proletariat hat, die Führung des politischen und ökonomischen Lebens übernommen und verwirklicht seine Ordnung. Seine Ordnung, noch nicht den Sozialismus, weil sich der Sozialismus nicht nach einem magischen „Es werde“ einstellt: Der Sozialismus ist ein Werden, eine Entwicklung sozialer Elemente, die immer reicher werden an kollektiven Werten. Das Proletariat verwirklicht seine Ordnung, indem es politische Institutionen schafft, die die Freiheit einer solchen Entwicklung garantieren, die die Dauerhaftigkeit seiner Macht sichern. Die Diktatur, ist die grundlegende Institution, die die Freiheit garantiert, die die Anschläge der aufrührerischen Minderheiten verhindert. Sie ist Garant der Freiheit, da sie kein zu verewigendes Mittel ist, sondern es ermöglicht, die bleibenden Organe zu schaffen und zu festigen, in die sich die Diktatur auflösen wird, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat.

Nach der Revolution war Rußland noch nicht frei, weil noch keine Garantien für die Freiheit existierten, weil die Freiheit noch nicht organisiert war.

Das Problem bestand darin, eine Hierarchie zu schaffen, die jedoch offen sein sollte, die sich nicht als eine Kasten- oder Klassenordnung herauskristallisieren durfte.

Aus der Masse, aus der Vielzahl, mußte man zum einzelnen gelangen, so daß eine soziale Einheit entstand, damit die Autorität nur geistige Autorität sei.

Die lebendigen Kerne dieser Hierarchie sind die Sowjets und die Volksparteien. Die Sowjets sind die ursprüngliche Organisation, die zu integrieren und zu entwickeln ist; und die Bolschewiki sind Regierungspartei geworden, weil sie dafür sind, daß die staatlichen Machtorgane von den Sowjets abhängig sein und von ihnen kontrolliert werden müssen.

Das russische Chaos formiert sich langsam in diese Elemente: Es beginnt die neue Gesellschaftsordnung. Eine Hierarchie bildet sich; von der unorganisierten und leidenden Masse kommt man zu organisierten Arbeitern und Bauern, zu den Sowjets, zur bolschewistischen Partei und schließlich zu einem: zu Lenin. Das ist die hierarchische Rangordnung der Achtung und des Vertrauens, die sich spontan herausgebildet hat, die durch freie Wahl erhalten bleibt.

Wo ist die Utopie in dieser Spontaneität? Utopie ist die Autorität, nicht die Spontaneität, und Utopie ist sie, wenn sie zu Karrierismus, Kastentum führt und sich anmaßt, ewig zu sein: Die Freiheit ist keine Utopie, weil sie ein ursprüngliches Streben ist, weil die ganze Menschheitsgeschichte Kampf und Arbeit ist für die Errichtung sozialer Institutionen, die ein Höchstmaß an Freiheit garantieren.

Hat sich diese, Hierarchie einmal geformt, entwickelt sie ihre Logik. Der Sowjet und die bolschewistische Partei sind keine in sich geschlossenen Organe, sie erweitern sich ständig. Das also ist die Herrschaft der Freiheit, und das sind die Garantien der Freiheit. Es gibt keine Kasten, sondern Organe in kontinuierlicher Entwicklung. Sie repräsentieren den Fortschritt der Bewußtheit, sie repräsentieren die Organisierbarkeit der russischen Gesellschaft.

Alle Arbeiter können Mitglieder der Sowjets werden, alle Arbeiter können darauf Einfluß nehmen, daß diese sich verändern und noch besser ihren Willen und ihre Wünsche ausdrücken. Das politische Leben Rußlands ist dahingehend ausgerichtet; daß es zur Übereinstimmung mit dem moralischen Leben, mit dem universellen Geist der russischen Menschen strebt. Es kommt zu einem ständigen Austausch zwischen jenen hierarchischen Stufen: Ein einfaches Individuum schult sich in der Diskussion über die Wahl seines Vertreters im Sowjet, es kann selbst dieser Vertreter werden, es kann diese Organe kontrollieren, weil es sie immer vor Augen und in der Nähe hat. Es gewinnt Sinn für soziale Verantwortlichkeit, es wird zum Bürger, der an Entscheidungen über Schicksalsfragen seines Landes mitwirkt. Und die Macht, die Bewußtheit dehnen sich aus durch die Vermittlung dieser Hierarchie, von einem zu vielen, und es entsteht eine Gesellschaft, wie sie die Geschichte bisher nicht gesehen hat.

Dies ist der lebenskräftige Aufschwung, den die neue russische Geschichte genommen hat. Was steckt Utopisches darin? Wo ist der vorbestimmte Plan, der sich durchsetzen will, auch gegen die ökonomischen und politischen Bedingungen? Die russische Revolution ist die Herrschaft der Freiheit; die Organisation gründet sich auf Spontaneität, nicht auf die Willkür eines „Helden“, der sich mit Gewalt durchsetzt. Sie ist eine kontinuierliche und systematische Erhöhung des Menschengeschlechts, die einer Hierarchie folgt, die sich von Fall zu Fall die notwendigen Organe des neuen sozialen Lebens schafft.

Aber ist das denn nicht der Sozialismus? ... Nein, es ist kein Sozialismus in dem törichten Sinne, den die philisterhaften Konstrukteure gigantischer Projekte dem Wort gegeben haben; es ist die menschliche Gesellschaft, die sich unter der Kontrolle des Proletariats entwickelt. Wenn dieses in seiner Mehrheit organisiert ist, wird das gesellschaftliche Leben reicher an sozialistischem Inhalt sein als heute, und die Sozialisierung wird immer intensiver ihrer Vervollkommnung zustreben. Denn man führt den Sozialismus nicht an einem bestimmten Tag ein, sondern er ist ein kontinuierliches Werden, eine unendliche Entwicklung unter der Herrschaft der von der Mehrheit der Bürger oder vom Proletariat organisierten und kontrollierten Freiheit.

 

 

Anmerkungen

1. Unter dem Titel „Die russische Utopie“ wurde dieser Artikel im Grido del Popolo vom 27.7.1918 mit folgender Vorbemerkung veröffentlicht: „Die Turiner Zensur hat diesen Artikel in der letzten Nummer des Grido sabotiert, indem sie ihn auf wenige Absätze ohne inneren Zusammenhang zusammengestrichen hat. Wir drucken ihn nun vollständig aus dem Avanti nach der Freigabe durch die mailändische und römische Zensur ab, damit die Leser die Kriterien beurteilen können (zwei Zeilen von der Zensur gestrichen), denen die journalistische Tätigkeit in Turin unterworfen ist, und weil der Artikel eng mit dem im Grido erschienenen Artikel über die russische Revolution zusammenhängt.“

2. Im Text: intensiver. (Anm. des italienischen Herausgebers)

3. Syllabus: Verzeichnis der vom Papst für Irrtümer erklärten Lehren.

4. Heinrich von Treitschke (1834-1896): deutscher Historiker, Vertreter der subjektivistischen Geschichtstheorie und Verteidiger der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus und Militarismus.

5. Auguste Comte (1798-1857): französischer Philosoph, Begründer des Positivismus.

6. Hippolyte Taine (1828-1893): französischer Philosoph, Vertreter des Positivismus auf dem Gebiet der Geschichte, Literatur und Kunstwissenschaft.

7. Vincenzo Gioberti (1801-1852): katholischer Philosoph und italienischer Patriot, der eine föderative Einigung Italiens unter dem Papsttum anstrebte; in seiner Schrift: Il Primato morale e civile degli Italiani (Das moralische und zivilisatorische Primat der Italiener) vertrat er das Prinzip der führenden kulturellen Rolle des italienischen Volkes.

 


Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008