Antonio Gramsci


Rede an die Anarchisten

(3.-10. April 1920)


Aus: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig 1980, S.52ff.
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Die italienischen Anarchisten sind sehr empfindlich, weil sie sehr eingebildet sind. Sie waren immer überzeugt, die Sachwalter der offenbarten revolutionären Wahrheit zu sein. Diese Überzeugung ist „ungeheuer“ gewachsen, seit sich die Sozialistische Partei durch den Einfluß der russischen Revolution und der bolschewistischen Propaganda einige grundlegende Punkte der marxistischen Lehre angeeignet hat und sie elementar und anschaulich unter den Massen der Arbeiter und Bauern verbreitet. Seit einiger Zeit tun die italienischen Anarchisten nichts anderes, als selbstzufrieden die Feststellung wiederzukäuen: „Das haben wir ja immer gesagt! Wir hatten also recht!“, ohne je zu versuchen, sich folgende Fragen zu. stellen: Weshalb, wenn wir doch recht hatten, ist uns die Mehrheit des italienischen Proletariats nicht gefolgt? Weshalb ist die Mehrheit des italienischen Proletariats immer der Sozialistischen Partei und den mit der Sozialistischen Partei verbündeten Gewerkschaftsorganen gefolgt? (Weshalb hat sich das italienische Proletariat immer von der Sozialistischen Partei und den mit der Sozialistischen Partei verbündeten Gewerkschaftsorganen „umgarnen“ lassen?) Diese Fragen konnten die italienischen Anarchisten nur nach einer großen Geste der Demut und der Reue erschöpfend beantworten; erst, nachdem sie den anarchistischen Standpunkt, den Standpunkt der absoluten Wahrheit, aufgegeben haben und nachdem sie anerkannt haben, daß sie unrecht hatten, als sie – recht hatten; erst, nachdem sie anerkannt haben, daß die absolute Wahrheit nicht ausreicht, um die Massen zur Aktion zu führen, um den Massen den revolutionären Geist einzuflößen, sondern daß dazu eine bestimmte „Wahrheit“ notwendig ist; nachdem sie anerkannt haben, daß für die menschliche Geschichte die „Wahrheit“ nur dasjenige ist, was sich in der Aktion verkörpert, was das heutige Bewußtsein mit Leidenschaft und Impulsen erfüllt, was sich in tiefgehende Bewegungen und reale Errungenschaften der Massen selbst umsetzt. Die Sozialistische Partei ist immer die Partei des italienischen werktätigen Volkes gewesen. Ihre Fehler, ihre Unzulänglichkeiten sind die Fehler und die Unzulänglichkeiten des italienischen werktätigen Volkes. Die materiellen Bedingungen des Lebens in Italien haben sich entwickelt, es hat sich das Klassenbewußtsein des Proletariats entwickelt, die Sozialistische Partei hat eine größere politische Profilierung erworben, sie hat versucht, ihre spezifische Lehre zu finden. Die Anarchisten sind stehengeblieben. Sie bleiben auch weiterhin stehen, hypnotisiert durch die Überzeugung, daß sie im Recht waren und immer noch im Recht sind. Die Sozialistische Partei hat sich zusammen mit dem Proletariat verändert, sie hat sich verändert, weil sich das Klassenbewußtsein des Proletariats verändert hat. In dieser ihrer Bewegung liegt die tiefe Wahrheit der marxistischen Lehre, die heute zu ihrer Lehre geworden ist. In dieser Bewegung ist auch der „freiheitliche“ Charakterzug der Sozialistischen Partei enthalten, was dem intelligenten Anarchisten nicht entgehen dürfte und ihn zum Nachdenken bringen müßte. Wenn sie nachdächten, könnten die Anarchisten zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Freiheit, wenn sie als reale historische Entwicklung der proletarischen Klasse verstanden wird, sich niemals in den anarchistischen Gruppen verkörpert hat, sondern daß sie immer auf der Seite der Sozialistischen Partei gewesen ist.

Der Anarchismus ist keine Anschauung, die für die Arbeiterklasse, und nur für die Arbeiterklasse, spezifisch ist. Das ist der Grund für den ständigen „Triumph“, für das ständige „Rechthaben“ der Anarchisten. Der Anarchismus ist die elementare umstürzlerische Anschauung jeder unterdrückten Klasse und ist das verbreitete Bewußtsein jeder herrschenden Klasse. Da jede Unterdrückung einer Klasse ihre Form in einem Staat gefunden hat, ist der Anarchismus jene elementare umstürzlerische Anschauung, die im Staat schlechthin die Ursache für alles Elend der unterdrückten Klasse sieht. Jede Klasse, die zur herrschenden Klasse wird, hat ihre eigene anarchistische Anschauung verwirklicht, weil sie ihre eigene Freiheit verwirklicht hat. Der Bourgeois war Anarchist, bevor seine Klasse die politische Macht ergriffen und der Gesellschaft das Staatsregime aufgezwungen hatte, das geeignet war, die kapitalistische Produktionsweise zu schützen. Der Bourgeois bleibt auch nach seiner Revolution Anarchist, weil die Gesetze seines Staates für ihn kein Zwang sind, es sind seine Gesetze, und der Bourgeois kann sagen, daß er ohne Gesetze lebt, er kann sagen, daß er anarchistisch lebt. Der Bourgeois wird nach der proletarischen Revolution wieder zum Anarchisten werden. Dann wird er wieder die Existenz eines Staates bemerken, die Existenz von Gesetzen, die außerhalb seines Willens liegen und seinen Interessen, seinen Gewohnheiten und seiner Freiheit feindlich gegenüberstehen. Er wird bemerken, daß Staat das Synonym für Zwang ist, weil der Arbeiterstaat der bürgerlichen Klasse die Freiheit nehmen wird, das Proletariat auszubeuten; denn der Arbeiterstaat wird der Schutz für eine neue Produktionsweise sein, die mit ihrer Entwicklung jede Spur des kapitalistischen Eigentums und jede Möglichkeit seines Wiederauflebens zerstören wird.

Die für die bürgerliche Klasse spezifische Anschauung ist jedoch nicht der Anarchismus gewesen, das war vielmehr die liberale Doktrin, ebenso wie die für die Arbeiterklasse spezifische Anschauung nicht der Anarchismus ist, sondern der marxistische Kommunismus. Jede bestimmte Klasse hat eine bestimmte Anschauung gehabt, die nur ihr eigen war und sonst keiner anderen Klasse. Der Anarchismus ist die Anschauung „am Rande“ jeder unterdrückten Klasse gewesen, der marxistische Kommunismus ist die bestimmte Anschauung der modernen Arbeiterklasse, und nur die ihre. Die revolutionären Thesen des Marxismus werden zu kabbalistischen Zahlen, wenn man außerhalb des modernen Proletariats und der kapitalistischen Produktionsweise denkt, deren Folge das moderne Proletariat ist. Das Proletariat ist kein Feind des Staates an sich, so wie die bürgerliche Klasse kein Feind des Staates an sich war. Die bürgerliche Klasse war ein Feind des despotischen Staates, der aristokratischen Macht, aber sie war für den bürgerlichen Staat, für die liberale Demokratie. Das Proletariat ist ein Feind des bürgerlichen Staates, es ist ein Feind der Macht, die sich in der Hand der Kapitalisten und der Bankiers befindet, aber es ist für die proletarische Diktatur, für die Macht in der Hand der Arbeiter und Bauern. Das Proletariat ist für den Arbeiterstaat als Phase des Klassenkampfes, als höchste Phase, in der das Proletariat als organisierte politische Kraft die Übermacht hat. Aber die Klassen existieren weiter, noch existiert die in Klassen gespaltene Gesellschaft, existiert der Staat, die Form, die jeder in Klassen gespaltenen Gesellschaft eigen ist, der Staat, der in der Hand der Klasse der Arbeiter und Bauern liegt, der von der Klasse der Arbeiter und Bauern benutzt wird, um ihre Entwicklungsfreiheit zu garantieren, um die Bourgeoisie vollständig aus der Geschichte auszulöschen und um die materiellen Bedingungen zu festigen, unter denen sich keinerlei Klassenunterdrückung mehr herausbilden kann.

Ist es möglich, bei der Polemik und den Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommunisten und Anarchisten zu einer Verständigung zu kommen? Es ist möglich für die anarchistischen Gruppen, die aus klassenbewußten Arbeitern bestehen; es ist nicht möglich für die anarchistischen Gruppen von Intellektuellen, von Berufsideologen. Für die Intellektuellen ist der Anarchismus ein Idol; er ist ein Daseinsgrund für ihre gegenwärtige und zukünftige besondere Tätigkeit. Der Arbeiterstaat wird in der Tat für die anarchistischen Agitatoren, so wie für die Bourgeois, ein „Staat“, eine Beschränkung der Freiheit, ein Zwang sein. Für die anarchistischen Arbeiter ist der Anarchismus eine Waffe im Kampf gegen die Bourgeoisie. Die revolutionäre Leidenschaft überwindet die Ideologie. Der Staat, den sie bekämpfen, ist wirklich allein der kapitalistische bürgerliche Staat und nicht der Staat an sich, die Idee des Staates; das Eigentum, das sie abschaffen wollen, ist nicht das „Eigentum“ im allgemeinen, sondern die kapitalistische Eigentumsform. Für die anarchistischen Arbeiter wird die Machtergreifung des Arbeiterstaates das Anbrechen der, Klassenfreiheit und damit auch ihrer persönlichen Freiheit sein; es wird der Weg sein, der sich für jeglichen Versuch der positiven Verwirklichung der proletarischen Ideale öffnet. Die Arbeit an dem revolutionären Werk wird sie ganz mit Beschlag belegen und aus ihnen eine Avantgarde von der Sache ergebenen und disziplinierten Kämpfern machen.

In dem positiven Akt des proletarischen schöpferischen Werkes kann es keinen Unterschied zwischen Arbeiter und Arbeiter geben. Die kommunistische Gesellschaft kann nicht von oben herab durch Gesetze und Dekrete geschaffen werden. Sie wird spontan aus der historischen Aktivität der werktätigen Klasse hervorgehen, die die Initiativgewalt in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion errungen hat und die dazu berufen ist, die Produktion auf neue Weise und mit einer neuen Ordnung zu reorganisieren. Der anarchistische Arbeiter wird dann die Existenz einer zentralisierten Macht schätzen, die ihm dauernd die eroberte Freiheit garantiert, die es ihm ermöglicht, nicht jeden Augenblick das begonnene Werk unterbrechen zu müssen, um sich der revolutionären Verteidigung zu widmen. Dann wird er die Existenz einer großen Partei des besten Teils des Proletariats schätzen, einer stark organisierten und disziplinierten Partei, die zum revolutionären schöpferischen Werk anspornt, die beispielgebend im Opferbringen ist, die durch ihr Beispiel die großen werktätigen Massen mit sich reißt und sie dahin bringt, den Zustand der Demütigung und der Erniedrigung rascher zu überwinden, in den sie durch die kapitalistische Ausbeutung geraten sind.

Die sozialistische Anschauung vom revolutionären Prozeß wird durch zwei grundlegende Bemerkungen charakterisiert, die Romain Rolland in seiner Losung zusammenfaßt: „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ Die Ideologen des Anarchismus deklarieren statt dessen, daß sie „Interesse daran haben“, den Pessimismus des Verstandes von Karl Marx abzulehnen (s. L. Fabbri, Briefe an einen Sozialisten, Florenz 1914, S.134), „da eine Revolution, die aus einem Übermaß an Elend oder Unterdrückung erfolgt, die Einrichtung einer autoritären Diktatur erfordern würde, die uns sogar (!) zu einem Staatssozialismus (!?), aber niemals zum anarchistischen Sozialismus bringen könnte“. Der sozialistische Pessimismus ist auf schreckliche Weise durch die Ereignisse bestätigt worden: Das Proletariat ist in den tiefsten Abgrund des Elends und der Unterdrückung gestoßen worden, den das Gehirn eines Menschen erdenken kann. Die Ideologen des Anarchismus können einer solchen Situation nichts anderes entgegensetzen als eine äußerliche und leere pseudorevolutionäre Phraseologie, die aus den uralten Motiven des Massen- und Volksoptimismus gewoben ist. Die Sozialisten setzen ihr eine energische Aktion zur Organisierung der besten und bewußtesten Elemente der Arbeiterklasse entgegen, die Sozialisten bemühen sich auf jede Art und Weise, mit Hilfe dieser Elemente der Vorhut die breiten Massen darauf vorzubereiten, sich die Freiheit und die Macht zu erobern, die ihnen diese Freiheit garantieren kann. Die proletarische Klasse ist heute regellos in den Städten und auf dem flachen Land bei den Maschinen und auf den Feldern verstreut, sie arbeitet, ohne den Grund für ihre Arbeit zu wissen; sie ist zu der Sklavenarbeit durch die immer über ihr schwebende Drohung, vor Hunger und Kälte zu sterben, gezwungen. Sie schließt sich zwar auch in den Gewerkschaften und in den Genossenschaften zusammen, aber aus der Notwendigkeit des Widerstandes im Wirtschaftskampf und nicht aus spontaner Entscheidung heraus, nicht aus einem in ihrem Geiste entstandenen eigenen Antrieb. Alle Aktionen der proletarischen Masse bewegen sich notwendigerweise in Formen, die durch die kapitalistische Produktionsweise und durch die Staatsmacht der bürgerlichen Klasse bestimmt werden. Abzuwarten, daß eine in diese Lage der körperlichen und geistigen Sklaverei versetzte Masse eine autonome historische Entwicklung hervorbringt, abzuwarten, daß sie spontan ein revolutionäres schöpferisches Werk beginnt und weiterführt, ist eine reine Illusion von Ideologen. Allein auf die schöpferische Fähigkeit einer solchen Masse zu zählen und nicht systematisch daran zu arbeiten, ein großes Heer von disziplinierten und bewußten Kämpfern zu organisieren, die zu jedem Opfer bereit sind, die erzogen sind, alle gleichzeitig eine Losung in die Tat umzusetzen, die bereit sind, die effektive Verantwortung der Revolution auf sich zu nehmen; und die bereit sind, die, Triebkräfte der Revolution zu werden, ist ein wahrer Verrat an der Arbeiterklasse, ist unbewußte Konterrevolution im voraus.

Die italienischen Anarchisten sind empfindlich, weil sie eingebildet sind. Sie regen sich leicht auf gegenüber der proletarischen Kritik, es ist ihnen lieber, als die Meister des Revolutionarismus und der absoluten theoretischen Konsequenz umschmeichelt und gepriesen zu werden. Wir sind überzeugt, daß in Italien die Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Anarchisten für die Durchführung der Revolution notwendig ist, eine freie und faire Zusammenarbeit zweier politischer Kräfte, die ihre Grundlage in konkreten, proletarischen Problemen hat. Wir glauben, daß es jedoch notwendig ist, daß auch die Anarchisten ihre traditionellen taktischen Kriterien einer Revision unterziehen, so wie es die Sozialistische Partei getan hat, und daß sie mit aktuellen Gründen, die in Zeit und Raum angesiedelt sind, ihre politischen Behauptungen rechtfertigen. Die Anarchisten müßten geistig freier werden. Das ist eine Voraussetzung, die demjenigen nicht übertrieben erscheinen dürfte, der Freiheit und nichts anderes als Freiheit will.


Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008