Antonio Gramsci


Italien und Spanien

(11. März 1921)


Quelle: Christian Riechers (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.100-101.
Zuerst veröffentlicht in Ordine Nuovo, 11. März 1921.
Kopiert mit Dank von der nicht mehr vorhandenen Webseite Marxistische Bibliothek.
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Was ist Faschismus, international gesehen? Es ist der Versuch, mit Maschinengewehren und Revolverknallereien die Probleme der Produktion und des Austauschs zu lösen. Die Produktivkräfte sind im imperialistischen Krieg vergeudet und vernichtet worden; zwanzig Millionen Menschen in der Blüte ihrer Jahre wurden getötet; weitere zwanzig Millionen wurden zu Invaliden; die Tausende und Abertausende von Banden zwischen den verschiedenen Weltmärkten sind gewaltsam zerrissen; das Verhältnis Stadt – Land, Mutterland – Kolonien ist auf den Kopf gestellt; die Ströme der Auswanderer, die das Mißverhältnis zwischen Bevölkerungsüberschuß und den Möglichkeiten der Produktionsmittel der einzelnen Nationen periodisch ausglichen, sind weitgehend unterbrochen, sie funktionieren nicht mehr normal. Zugleich haben sich nationale Krisen entwickelt, die eine äußerst schwere allgemeine Krise unabwendbar nach sich ziehen. Aber es gibt in allen Ländern eine Bevölkerungsschicht – die kleine und mittlere Bourgeoisie –, die glaubt, die gigantischen Probleme mit Maschinengewehren und Revolvern lösen zu können, und diese Schicht ist der Nährboden für den Faschismus und verleiht ihm Bestand.

In Spanien manifestierte sich die Organisation der mittleren und kleinen Bourgeoisie in Form bewaffneter Gruppen schon früher als in Italien; sie trat bereits in den Jahren 1918 und 1919 in Erscheinung. Der Weltkrieg hatte Spanien früher als alle anderen Länder in eine furchtbare Krise gestürzt: die spanischen Kapitalisten hatten das Land ausgeplündert und alles Verkaufbare bereits in den ersten Jahren des Krieges verkauft. Die Entente zahlte besser als die armen spanischen Konsumenten es hätten tun können, und die Eigentümer verkauften der Entente den gesamten Reichtum und alle Ware, die der eigenen Bevölkerung hätte dienen sollen. Bereits 1916 war Spanien finanziell eines der reichsten Länder Europas, aber eines der ärmsten an Waren und Produktionsenergien. Die revolutionäre Bewegung wurde stürmisch, die Gewerkschaften organisierten nahezu die Gesamtheit der industriellen Masse; Streiks, Aussperrungen, Belagerungszustand, Auflösung der örtlichen Gewerkschaftshäuser und der Gewerkschaften selbst, Morde, Schießereien in den Straßen wurden zum gewöhnlichen täglichen Anblick des politischen Lebens. Antibolschewistische Bünde (die Somatén) wurden gegründet: sie rekrutierten sich anfänglich, wie in Italien, aus Militärs, die den Offiziersklubs, den juntas, angehört hatten. Aber sehr schnell erweiterten sie ihre Basis, und schließlich gelang es ihnen, in Barcelona 40.000 Bewaffnete anzuwerben. Sie verfolgten die gleiche Taktik, wie man sie in Italien betreibt: Angriffe auf die Führer der Gewerkschaften, heftiger Widerstand gegen Streiks, Terror gegen die Massen, Hilfe für die reguläre Polizei bei Unterdrückungsmaßnahmen und Verhaftungen, Hilfe für Streikbrecher bei Streiks und Aussperrungen. Seit drei Jahren schlägt sich Spanien mit dieser Krise herum: alle vierzehn Tage werden die bürgerlichen Rechte außer Kraft gesetzt, die persönliche Freiheit ist ein Mythos, die Gewerkschaften arbeiten im Untergrund, die Masse der Arbeiter ist hungrig und verzweifelt, die große Volksmasse ist auf das Niveau einer unbeschreiblichen Wildheit und Barbarei gesunken. Die Krise verschärft sich, und mittlerweile ist man bei Attentaten auf einzelne angelangt.

Spanien ist ein Beispiel. Es ist Ausdruck einer Phase, die alle Länder Europas durchlaufen werden, wenn die heutigen allgemeinen ökonomischen Bedingungen mit den gleichen Tendenzen bestehen bleiben. In Italien durchlaufen wir die Phase, die Spanien 1919 durchlief: die Phase der Bewaffnung der Mittelklasse und der Einführung militärischer Methoden wie Sturmangriff und Überraschungsangriff. Auch in Italien glaubt die Mittelklasse, die ökonomischen Probleme mit militärischer Gewalt lösen zu können; sie glaubt, die Arbeitslosigkeit mit Schießereien zu heilen, sie glaubt, mit Maschinengewehrfeuer den Hunger zu stillen und die Tränen der Frauen aus dem Volk zu trocknen. Die historische Erfahrung gilt nicht für die Kleinbürger, die die Geschichte nicht kennen: die Phänomene wiederholen sich und werden sich noch in anderen Ländern außerhalb Italiens wiederholen; ist in Italien nicht der Sozialistischen Partei das gleiche widerfahren, was sich vor einigen Jahren in Österreich, Ungarn, Deutschland zutrug? Die Illusion ist das zäheste Unkraut des Kollektivbewußtseins; die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008