Antonio Gramsci


Sozialistisch oder kommunistisch?

(13. Mai 1921)


Quelle: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig 1980.
Heruntergeladen von der Webseite Sozialistische Klassiker, als PDF-Datei.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das ist die Grundfrage, vor der am Sonntag alle Arbeiter beim Gang zu den Wahlurnen unschlüssig stehen werden. [1] Was bedeutet es für einen Arbeiter, für einen Bauern, für einen Angestellten, für einen Proletarier oder für einen Werktätigen gleich welchen Bereichs, diese neue Handlung zu vollziehen, seine Stimme der Kommunistischen Partei zu geben? Aber ist das denn eigentlich eine neue Handlung? Inwiefern und weshalb handelt das Proletariat anders – indem es der Kommunistischen Partei seine Stimme gibt – als bei den Wahlen, wo es seine Stimme den Klassenparteien gab, die nicht diesen Namen trugen?

Man muß sagen, daß das Klassenbewußtsein, seit es sich bei den großen werktätigen Massen herauszubilden begann, von Anfang an den Wunsch nach einer vollständigen Befreiung von den Banden der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sklaverei zum Inhalt gehabt hat, die in der kapitalistischen Gesellschaft alle, die von ihrer Arbeit leben, gefesselt halten.

Auch wenn die Proletarier einen Streik zur Verkürzung der Arbeitszeit, zur Verbesserung des Lohnes und der Arbeitsbedingungen durchführen, müssen sie in ihrem Innern spüren, daß jeder Kampf von einem Endziel, einem letzten Zweck, überstrahlt ist; dieser kann niemals durch irgendwelche Teilkämpfe erreicht werden, obgleich diese geführt werden und geführt werden müssen, weil sie das eigentliche Leben der Klasse als eines Organismus des Kampfes und der moralischen und materiellen Bildung ausmachen. Doch die Aufgabe der Klasse erschöpft sich nicht in diesen Kämpfen, und sie beanspruchen auch nicht die gesamte Aktivität ihrer Mitglieder. Die Bedeutung des Einverständnisses mit der Kommunistischen Partei und der ihr gegebenen Stimme muß man darin suchen, daß man gerade über diese Endziele des Klassenkampfes nachdenkt. Die Kommunistische Partei fordert von den Arbeitern und Bauern, fordert von allen Proletariern, bei der Stimmabgabe über die höchste Bestimmung ihrer Klasse nachzudenken, bevor sie den Stimmzettel in die Urne legen, darüber nachzudenken, was ihrer Meinung nach im gegenwärtigen Moment ihnen und ihren Genossen bevorsteht, was also ihrer Meinung nach ihre konkrete Aufgabe ist.

Wenn sie das glauben, brauchen sie nicht wählen zu gehen, oder sie gehen nur hin, um Leute ins Parlament zu schicken, die mit der Regierung verhandeln, wenn nicht mehr mit den Industriellen verhandelt werden kann, Leute, die sich ihrer parlamentarischen Autorität bedienen, um die Gewerkschaftsverträge mit einer Garantieunterschrift von den Regierenden des bürgerlichen Staates versehen zu lassen.

Glauben die Proletarier, daß es ihnen im gegenwärtigen Moment möglich sei, auf dem in den ersten Jahrzehnten des Klassenkampfes beschrittenen Weg vorwärts zu gehen und langsam, Schritt für Schritt, Kräfte zu sammeln, um Einrichtungen zur Verteidigung des Proletariats zu schaffen und Organe zur Ausbildung der Fähigkeiten der Werktätigen auf dem, Gebiet der Verwaltung und der Technik zu entwickeln wie Genossenschaften, Banken, Arbeitsvermittlungsbüros usw.? Wenn sie glauben, daß das ausreiche, mögen sie Abgeordnete ins Parlament schicken, nur damit sie diese Einrichtungen verteidigen und ihnen im Rahmen des bürgerlichen Staates eine Existenzmöglichkeit verschaffen.

Glauben die Proletarier, daß eine immer größere Anzahl von Posten für sie in den Organen des bürgerlichen Staates eine wirkliche Stärkung der Kräfte und der Fähigkeiten der werktätigen Klasse darstellt, eine reale und konkrete Machtergreifung ihrerseits? Glauben sie, daß der Sieg der Proletarier als Ergebnis einer von den Proletariern errungenen Mehrheit an Plätzen im bürgerlichen Parlament oder als Ergebnis der Eroberung der größtmöglichen Zahl von Lokalverwaltungen aufgefaßt werden kann?

Wenn sie das glauben, mögen sie Abgeordnete ins Parlament schicken, um dann durch die Erhöhung ihrer Anzahl die Revolution und die Befreiung zu erwirken.

Glauben die Proletarier, daß die Einrichtungen der bürgerlichen Klasse auch der proletarischen Klasse als Regierungsorgane dienen können, daß sie dazu dienen können, den Werktätigen Freiheit und Gerechtigkeit zu bringen, während sie bis heute nur dazu gedient haben, ihnen Sklaverei und Qual zu bringen?

Wenn sie das glauben, mögen sie die Sozialisten auffordern, offen zu sprechen, ihre Gedanken zu enthüllen und zu sagen, daß sie ins Parlament einziehen, um die Zusammenarbeit mit den Bourgeois und der „proletarischen“ Regierung im bürgerlichen Staat vorzubereiten; dann mögen sie die Sozialisten ausdrücklich auffordern, mit den Bürgerlichen zusammenzuarbeiten, und so mögen sie für die Sozialistische Partei stimmen.

Aber die Proletarier mögen daran denken, welche Situation im gegenwärtigen Moment herrscht. Sie mögen daran denken, daß der Krieg die größte Krise seit Menschengedenken hervorgerufen hat, eine Krise, die keine Regierungs- oder Staatskrise ist, sondern die eines Regimes und einer Welt, des Regimes und der Welt des Unternehmertums.

Mögen die Proletarier das beachten, was sich schon seit Beginn dieser Krise zeigte und mit ihrer Verschärfung immer deutlicher wird, daß nämlich die in den Jahren des Friedens und der Ruhe verfolgte Taktik im gegenwärtigen Moment zu nichts mehr nütze ist.

Alles, was einmal als ein Schritt vorwärts erschienen war, jede Aktion, die einst dazu diente, ein wenig Freiheit zu garantieren und den Werktätigen ein wenig Gerechtigkeit zu verschaffen, dient heute nur dazu, die Krise zu verschärfen, die Feinde noch grausamer zu machen, heftigere Gegenreaktionen hervorzurufen und das Leben härter und den Kampf schärfer zu machen.

Jede Lohnerhöhung führt zu einer zehnfachen Erhöhung der Lebenskosten, jeder Versuch, ein wenig Freiheit zu erobern, ruft den bestialischen Zorn und grausame Vergeltungsmaßnahmen der Unternehmer hervor. Die Erhöhung der Anzahl der Abgeordneten, das Anwachsen der Macht der Organisationen und die Eroberung von zweitausend Gemeinden haben die Bourgeois dazu veranlaßt, sich zu bewaffnen, die Arbeiter und Bauern mit Waffengewalt zu verfolgen, ihre Häuser anzuzünden, ihre Einrichtungen zu zerstören und ganze Regionen wieder einem Regime zu unterstellen, das schlimmer als die Sklaverei ist; denn es gibt dort kein Gesetz und kein Recht mehr außer dem des Faustrechts und des Prügelstockes und des auf das Gesicht der Werktätigen und auf die Brust ihrer Frauen und Kinder gerichteten Revolvers.

Was soll das bedeuten? Was will die Bourgeoisie mit diesen Gewaltakten erreichen? Sie will den Proletariern beweisen, daß diese sich, solange die Bourgeoisie die Macht ausübt, keine Illusionen machen dürfen, daß man schrittweise Gerechtigkeit und Freiheit erringen könnte.

Es ist notwendig, daß die Werktätigen die Macht übernehmen, aber sie werden das niemals erreichen können, solange sie sich einbilden, sie durch die Organe des bürgerlichen Staates erobern und ausüben zu können.

Den Defensivkampf der Gewerkschaften, die Schaffung von sozialistischen Organen und die Durchführung sozialistischer Experimente im bürgerlichen Regime, die Eroberung neuer Posten in den Organen, mit denen das Bürgertum die Gesellschaft regiert, alles das reicht heute nicht mehr aus, es nützt nicht mehr.

Man braucht etwas anderes, wenn man nicht überrumpelt werden und alles verlieren will. Es ist notwendig, daß die Arbeiter, Bauern, alle Werktätigen zu Herrschern der ganzen Gesellschaft werden, daß sie die Macht haben und sie durch neue Einrichtungen ausüben, die der Gesellschaft eine neue Form und eine eiserne Ordnungs- und Arbeitsdisziplin für alle geben. Es ist notwendig, daß jeder andere Kampf dem Kampf für die Eroberung der Macht und für die Schaffung des neuen Staates, des Staates der Arbeiter und Bauern untergeordnet wird.

Das ist die von den russischen Werktätigen verfolgte Taktik, die es ihnen heute gestattet, mit Gewißheit in die Zukunft zu schauen, während die Werktätigen in allen anderen Ländern das mit Besorgnis, mit Angst und Beklemmung tun. Das ist die Taktik, die die Kommunistische Partei den Arbeitern und Bauern Italiens vorschlägt, das Programm, auf das sie sich stützen sollen.

Kommunist sein und für die Kommunistische Partei stimmen bedeutet das Bekenntnis, von der Richtigkeit dieses Programms überzeugt zu sein, sich bereit zu erklären, für seine Verwirklichung zu kämpfen, Männer in das Parlament zu schicken, die sich nichts anderes vornehmen, als diese Grundsätze zu bestätigen und dem Organ Kraft zu verleihen, das den besten Teil der Arbeiterklasse führt, um eben diese Grundsätze in der ganzen Welt zu verwirklichen.


Anmerkung

1. Der Ministerpräsident Giolitti hatte am 7.4.1921 die Kammer aufgelöst und die Wahlen für den 15.5.1921 ausgeschrieben, wobei er die Absicht verfolgte, den Einfluß der Sozialisten zurückzudrängen und die zu Beginn des Jahres erst gegründete KPI daran zu hindern, sich auf die Gewinnung einer stärkeren Position im Parlament vorzubereiten. Außerdem hoffte Giolitti, die Faschisten in eine konservative Mehrheit einzuordnen. Die ISP verlor zwar 34 Parlamentssitze, doch behielt sie immerhin noch 122 Mandate. Die KPI erhielt nur 15 Mandate.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008