Antonio Gramsci


Brief an das Zentralkomitee
der KPdSU(B) [1]

(Oktober 1926)


Quelle: Antonio Gramsci – vergessener Humanist?, Zusammengestellt und eingeleitet von H. Neubert, Dietz Verlag Berlin 1991, S.69ff.
Zuerst veröffentlicht in Rinascita (Rom), 30. Mai 1964, S.17-20.
Später in Antonio Gramsci: Scritti politici, Hrsg. von Paolo Spriano, Bd.3, Rom 1978, S.232-238.
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Teure Genossen,

die italienischen Kommunisten und alle bewußten Werktätigen unseres Landes haben Eure Diskussionen stets mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. Am Vorabend eines jeden Parteitages und einer jeden Konferenz der KPR [2] waren wir gewiß, daß trotz der Schärfe der Polemik die Einheit der russischen Partei nicht gefährdet war; wir waren vielmehr gewiß, daß die Partei, indem sie mit derartigen Diskussionen eine größere ideologische und organisatorische Homogenität errang, besser vorbereitet und ausgerüstet wäre, um die vielfältigen Schwierigkeiten, die mit der Ausübung der Macht eines Arbeiterstaates verbunden sind, zu überwinden. Heute, am Vorabend Eures XV. Parteitages [3], haben wir diese frühere Gewißheit nicht mehr; wir fühlen uns hilflos besorgt; uns scheint, daß die gegenwärtige Verhaltensweise des Blocks der Opposition [4] und die Schärfe der Polemik der KP der UdSSR eine Einflußnahme der Bruderparteien erforderlich machen. Gerade diese unmißverständliche Überzeugung ist es, von der wir uns leiten lassen, wenn wir diesen Brief an Euch richten. Es kann sein, daß die Isolation, in der unsere Partei gezwungen ist zu leben, uns veranlaßt, die Gefahren zu übertreiben, die die innere Situation der Kommunistischen Partei der UdSSR betreffen; keinesfalls aber ist unsere Beurteilung der internationalen Auswirkungen übertrieben, die diese Situation hat. Und wir wollen als Internationalisten unsere Pflicht erfüllen.

Die innere Situation unserer Bruderpartei der UdSSR scheint uns andersartig und viel schwieriger zu sein als in den vorangegangenen Auseinandersetzungen, weil, wie wir sehen, sich heute eine Spaltung der zentralen leninistischen Gruppe bestätigt und vertieft, die immer den führenden Kern der Internationale bildete. Eine Spaltung dieser Art kann unabhängig von den quantitativen Abstimmungsergebnissen des Parteitages die ernstesten Auswirkungen haben, und zwar nicht nur dann, wenn die Minderheit der Opposition nicht mit größter Loyalität die Grundprinzipien der revolutionären Disziplin der Partei akzeptiert, sondern auch dann, wenn diese in der Fortsetzung ihres Kampfes bestimmte Grenzen überschreitet, die außerhalb jeglichen formalen Demokratiegebarens bestehen.

Eine der wertvollen Lehren Lenins besteht darin, daß wir gründlich die Urteile unserer Klassengegner studieren müssen. Nun ist es sicher, teure Genossen, daß die einflußreichsten Zeitungen und Staatsmänner der internationalen Bourgeoisie ihre Angriffe auf diesen organischen Charakter des Konflikts richten, der im eigentlichen Kern der Kommunistischen Partei der UdSSR besteht, daß sie ihre Angriffe auf die Spaltung unserer Bruderpartei richten und überzeugt sind, daß die Spaltung zur Auflösung und zu allmählicher Agonie der proletarischen Diktatur führen, daß sie die Katastrophe der Revolution heraufbeschwören muß, wodurch es nicht gelingen wird, den Interventionen und den Aufständen der Weißgardisten ein Ende zu setzen. Die kühl berechnende Zurückhaltung, mit der heute die bürgerliche Presse die russischen Ereignisse analysiert, die Tatsache, daß diese Presse, sofern ihr das möglich ist, jene gewaltsame Demagogie, die ihr in der Vergangenheit eigen war, vermeidet, sind Symptome, über die die russischen Genossen nachdenken und die sie veranlassen müssen, sich noch mehr ihrer Verantwortung bewußt zu sein. Aus einem weiteren Grund setzt die internationale Bourgeoisie auf die mögliche Spaltung oder auf eine Vertiefung der Krise innerhalb der Kommunistischen Partei der UdSSR. Der Arbeiterstaat existiert in Rußland nunmehr seit neun Jahren. Es ist sicher, daß es nur noch eine kleine Minderheit ist, und zwar eine kleine Minderheit nicht nur der werktätigen Klassen, sondern selbst eine der kommunistischen Parteien der anderen Länder, die in der Lage ist, die Entwicklung der Revolution in ihrer ganzen Komplexität zu rekonstruieren und zugleich in den Einzelerscheinungen, aus denen sich das Alltagsleben des Sowjetstaates zusammensetzt, die Kontinuität des roten Fadens zu finden, der zur allgemeinen Perspektive des Aufbaus des Sozialismus hinführt. Und dies trifft nicht nur auf solche Länder zu, in denen die Versammlungsfreiheit nicht mehr existiert und die Pressefreiheit völlig unterdrückt oder einer unerhörten Beschränkung unterworfen ist, wie in Italien (wo die Gerichte die Veröffentlichungen von Büchern Trotzkis, Lenins, Stalins, Sinowjews und letztlich auch des Manifestes der Kommunisten eingezogen und verboten haben), sondern auch auf Länder, wo unsere Parteien noch immer die Freiheit besitzen, ihre Mitglieder und die Massen überhaupt mit einer ausreichenden Dokumentation zu versorgen. Die breiten Massen dieser Länder können die Diskussionen nicht verstehen, die in der Kommunistischen Partei der UdSSR vor sich gehen, besonders wenn sie so heftig verlaufen wie gegenwärtig und nicht nur einen Einzelaspekt betreffen, sondern die Gesamtheit der politischen Linie der Partei. Nicht nur die werktätigen Massen im allgemeinen, sondern die Masse unserer eigenen Parteien sehen in der Republik der Sowjets und in der Partei, die in ihr an der Regierung ist, einen einheitlichen Kampftrupp, oder sie wollen in ihnen einen solchen Kampftrupp sehen, der für die allgemeine Perspektive des Sozialismus tätig ist. Nur in dem Maße, wie die westeuropäischen Massen Rußland und die russische Partei unter diesem Gesichtspunkt betrachten, akzeptieren sie freiwillig und als eine historisch notwendige Tatsache, daß die Kommunistische Partei der UdSSR die führende Partei der Internationale ist, eben weil heute die Republik der Sowjets und die Kommunistische Partei der UdSSR ein großartiger Faktor der Organisation und Förderung der Revolution sind.

Die bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien nutzen aus der gleichen Überlegung heraus die internen Auseinandersetzungen und bestehenden Konflikte in der Kommunistischen Partei der UdSSR; sie wollen gegen den Einfluß der russischen Revolution, gegen die revolutionäre Einheit, die sich in der ganzen Welt um die Kommunistische Partei der UdSSR herausbildet, kämpfen. Teure Genossen, es ist außerordentlich bezeichnend, daß in einem Land wie Italien, wo die faschistische Organisation des Staates und der Partei jegliche bemerkenswerte Manifestation autonomen Lebens der großen Arbeiter- und Bauernmassen zu unterdrücken vermochte, die faschistischen Zeitungen, besonders jene in den Provinzen, voll von Artikeln sind, die mit einem Minimum an Demagogie und Schmähungen professionell gut für propagandistische Zwecke gestaltet sind, Artikel, in denen man mit einem beabsichtigten Anschein von Objektivität zu beweisen sucht, daß nunmehr, aufgrund von Äußerungen der bekanntesten Führer des oppositionellen Blocks der Kommunistischen Partei der UdSSR selbst, der Sowjetstaat sich mit Sicherheit in einen reinen kapitalistischen Staat verwandelt und daß deshalb der Faschismus in dem weltweiten Duell mit dem Bolschewismus die Oberhand gewinnen wird. Diese Kampagne zeigt einerseits, in welchem starken Maße noch die Sympathien vorhanden sind, die die Republik der Sowjets unter den breiten Massen des italienischen Volkes genießt, obwohl es seit sechs Jahren in einigen Regionen nichts als nur ein spärliches illegales Lesematerial der Partei erhält, und sie zeigt andererseits, wie der Faschismus, der sehr gut die innere Situation in Italien kennt und gelernt hat, mit den Massen umzugehen; diese Kampagne also dient dazu, das politische Verhalten des Blocks der Oppositionen zu nutzen, um endgültig die entschiedene Gegnerschaft der Werktätigen gegen die Regierung Mussolinis aufzubrechen und um zumindest eine solche Einstellung zu erzeugen, der zufolge der Faschismus trotz seiner Grausamkeit und seiner Übel wenigstens als eine unumgängliche historische Notwendigkeit erscheint.

Wir glauben, daß unsere Partei im Rahmen der Internationale diejenige ist, die am meisten die Auswirkungen der in der Kommunistischen Partei der UdSSR bestehenden ernsten Situation zu spüren bekommt. Und dies ist nicht nur der Fall wegen der oben genannten Bedenken, die sozusagen äußere sind und die allgemeinen Bedingungen der revolutionären Entwicklung in unserem Land betreffen. Ihr wißt, daß alle Parteien der Internationale sowohl von der alten Sozialdemokratie wie von verschiedenen nationalen Traditionen in den einzelnen Ländern (vom Anarchismus, Syndikalismus usw.) eine Menge von ideologischen Vorurteilen und Beweggründen ererbt haben, die einen Schmelztiegel für alle linken und rechten Abweichungen darstellen. In den letzten Jahren, vor allem nach dem V. Weltkongreß [5], erreichten unsere Parteien durch schmerzhafte Erfahrung, durch schmerzhafte und zermürbende Krisen eine sichere leninistische Stabilisierung; sie entwickelten sich zu wirklichen bolschewistischen Parteien. Neue proletarische Kader haben sich von der Basis her, aus den Betrieben heraus formiert; die intellektuellen Elemente wurden in der praktischen Arbeit, in der Aktion einer rigorosen Auswahl sowie einer strengen und unnachsichtigen Prüfung unterzogen. Diese Umprofilierung vollzog sich unter der Führung der Kommunistischen Partei der UdSSR in deren voller Einheitlichkeit und unter Teilnahme aller großen Führer der Partei der UdSSR. Und nun: Die Schärfe der gegenwärtigen Krise und die ihr innewohnende drohende offene oder latente Spaltung unterbrechen diesen Prozeß der Entwicklung und der Umprofilierung unserer Parteien, sie konsolidieren die rechten und linken Abweichungen und rücken erneut den Erfolg der organischen Einheit der Weltpartei der Werktätigen weiter in die Ferne. Wir glauben, daß es unsere Pflicht als Internationalisten ist, gerade auf diesen speziellen Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit der Genossen der Kommunistischen Partei der UdSSR, die die höchste Verantwortung tragen, zu lenken. Genossen, Ihr wart in diesen neun Jahren der Weltgeschichte das organisatorische und vorwärtstreibende Element der revolutionären Kräfte aller Länder. Die Funktion, die Ihr ausgeübt habt, findet in der ganzen Geschichte des Menschengeschlechts hinsichtlich der Breite und Tiefe nichts Vergleichbares. Heute aber seid Ihr dabei, Euer Werk zu zerstören; Ihr degradiert die Führungsfunktion, die die Kommunistische Partei der UdSSR durch das Engagement Lenins errungen hat, und Ihr geht das Risiko ein, sie ganz zu verlieren. Uns scheint, daß die mit Gewalttätigkeit verbundene Entwicklung der russischen Probleme Euch die internationalen Aspekte eben dieser russischen Probleme aus den Augen verlieren läßt, daß sie Euch vergessen läßt, daß Eure Pflichten als russische Kämpfer nur erfüllt werden können und müssen im Rahmen der Interessen des internationalen Proletariats.

Das Politische Büro der KPI hat sehr gründlich und aufmerksam, soweit ihm das möglich war, alle Probleme studiert, die sich heute in der Kommunistischen Partei der UdSSR in der Diskussion befinden. Die Fragen, die sich heute Euch stellen, können morgen an unsere Partei gerichtet werden. Auch in unserem Lande bilden die bäuerlichen Massen die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Außerdem werden sich alle der Hegemonie des Proletariats innewohnenden Probleme bei uns offenkundig in einer viel komplizierteren und zugespitzteren Form als in Rußland stellen, weil die Dichte der bäuerlichen Bevölkerung in Italien beträchtlich größer ist, weil unsere Bauern eine sehr reiche Tradition an Organisiertheit besitzen und es ihnen immer gelungen ist, auf sehr sensible Weise ihr spezifisches Gewicht als Masse im nationalen politischen Leben zur Geltung zu bringen, weil bei uns der Apparat der kirchlichen Organisation eine Tradition von zweitausend Jahren besitzt und sich in bezug auf die Propaganda und die Organisierung der Bauern in einer Weise spezialisiert hat, wie es seinesgleichen in anderen Ländern nicht gibt. Wenngleich es richtig ist, daß die Industrie bei uns entwickelter ist und das Proletariat eine beachtliche materielle Basis besitzt, so ist es auch richtig, daß diese Industrie im Lande selbst nicht über Rohstoffe verfügt und deshalb mehr der Krise ausgeliefert ist; das Proletariat wird deshalb seine Führungsfunktion nur ausüben können, wenn es sich in reichlichem Maße durch einen Geist von Opferbereitschaft auszeichnet und wenn es sich freimacht von allen Überresten des reformistischen und syndikalistischen Korporativismus. Von diesem realistischen Gesichtspunkt aus, den wir für leninistisch halten, hat das Politische Büro der KPI Eure Diskussion studiert. Bisher haben wir eine Meinung als Partei lediglich zur Disziplinarfrage in bezug auf Fraktionen im engeren Sinne zum Ausdruck gebracht, indem wir uns an die Aufforderung halten wollen, die Ihr nach Eurem XIV. Parteitag [6] verkündet habt, nämlich die russische Diskussion nicht in die Sektionen der Internationale zu tragen. Wir erklären heute, daß wir die politische Linie der Mehrheit des ZK der Kommunistischen Partei der UdSSR grundsätzlich für richtig halten und daß in diesem Sinne sich sicherlich die Mehrheit der italienischen Partei äußern würde, wenn es notwendig werden würde, die ganze Frage zu stellen. Wir haben nicht die Absicht und halten es für unnütz, mit Euch und mit den Genossen des Blocks der Oppositionen Agitation und Propaganda zu betreiben. Wir möchten deshalb kein Verzeichnis aller Einzelfragen, am Rande mit unserem Urteil versehen, aufstellen. Wir wiederholen, daß uns die Tatsache bewegt, daß die Verhaltensweise der Oppositionen die gesamte politische Linie des ZK betrifft und direkt ins Herz der Leninschen Lehre und der politischen Aktion unserer Partei der Sowjetunion stößt. Es handelt sich um das Prinzip und die Praxis der Hegemonie des Proletariats, die zur Diskussion gestellt werden; es handelt sich um die grundsätzlichen Bündnisbeziehungen zwischen Arbeitern und Bauern, die gestört und in Gefahr gebracht werden, das heißt die Grundpfeiler des Arbeiterstaates und der Revolution.[7] Genossen, wir kennen aus der Geschichte keine Situation, in der eine herrschende Klasse in ihrer Gesamtheit unter Bedingungen lebt, die schlechter sind als jene von bestimmten Elementen und Schichten der beherrschten und unterdrückten Klasse. Diesen unerhörten Widerspruch hat die Geschichte dem Proletariat vorbehalten; dieser Widerspruch enthält die größten Gefahren für die Diktatur des Proletariats, besonders in Ländern, wo der Kapitalismus keine große Entwicklung genommen hat und wo es nicht gelang, die Produktivkräfte zu konzentrieren. Es ist jener Widerspruch, der sich übrigens bereits in einigen seiner Aspekte in kapitalistischen Ländern zeigt, in denen das Proletariat objektiv eine solche gehobene soziale Funktion erreicht hat, aus dem der Reformismus und der Syndikalismus erwachsen, jener Widerspruch, der den Korporativgeist und die Bildung der Arbeiteraristokratie hervorbringt. Das Proletariat kann deshalb nicht zur herrschenden Klasse werden, wenn es nicht mit dem Verzicht auf die korporativen Interessen diesen Widerspruch überwindet; es kann nicht seine Hegemonie und seine Diktatur erhalten, selbst wenn es herrschend geworden ist, wenn es nicht diese unmittelbaren Interessen opfert für die generellen und fortwährenden Interessen der Klasse. Sicher ist es leicht, auf diesem Gebiet Demagogie zu betreiben, und sicher ist es leicht, die negativen Seiten des Widerspruchs hervorzukehren: „Bist du, der schlecht gekleidete und schlecht ernährte Arbeiter, der Herrschende, oder ist der pelzbehangene NÖP-Mann [8], dem alle Güter der Erde zur Verfügung stehen, der Herrschende?“ Die Reformisten sprechen nach einem revolutionären Streik, der den Zusammenhalt und die Disziplin der Massen verstärkt, den einzelnen Arbeiter aber durch seine Länge noch ärmer gemacht hat, in folgender Weise: „Wofür wurde gekämpft? Ihr seid ruiniert und verarmt“. In dieser Hinsicht ist es leicht, Demagogie zu betreiben, und es ist schwer, sie zu unterlassen, solange die Frage in den Grenzen des Korporativgeistes und nicht in denen des Leninismus, nicht in denen der Lehre von der Hegemonie des Proletariats gestellt wird, das sich historisch in einer bestimmten Lage befindet und nicht in einer anderen.

Dies ist für uns das wesentliche Element Eurer Diskussionen; in diesem Element liegt die Wurzel der Irrtümer des Blockes der Oppositionen wie auch der Ursprung der latenten Gefahren, die in deren Tätigkeit enthalten sind. In der Ideologie und in der Praxis des Blockes der Oppositionen wird völlig die ganze Tradition der Sozialdemokratie und des Syndikalismus wiederbelebt, die bislang das westliche Proletariat daran gehindert hat, sich als führende Klasse zu organisieren.

Nur eine feste Einheit und eine feste Disziplin in der Partei, die den Arbeiterstaat regiert, kann die proletarische Hegemonie in einem Regime der NÖP, das heißt in der umfassenden Entwicklung jener von uns gekennzeichneten Widersprüche gewährleisten. Doch dürfen in diesem Falle die Einheit und die Disziplin nicht mechanisch und nicht erzwungen sein; sie müssen loyal sein und sich auf Überzeugtheit gründen; es darf nicht die Einheit und die Disziplin einer gefangenen oder belagerten feindlichen Truppe sein, die eine Flucht oder einen Überraschungsausbruch beabsichtigt.

Dies, teuerste Genossen, wollten wir Euch im Geiste von Brüdern und Freunden, wenn auch von jüngeren Brüdern, sagen. Die Genossen Sinowjew, Trotzki, Kamenjew haben in starkem Maße beigetragen, uns für die Revolution zu erziehen; sie haben uns einige Male sehr energisch und ernst korrigiert; sie waren unsere Lehrer. Wir wenden uns besonders an sie als diejenigen, die für die gegenwärtige Situation die größte Verantwortung tragen, weil wir sicher sein wollen, daß die Mehrheit des ZK der UdSSR nicht die Absicht hegt, im Kampf einen totalen Sieg zu erringen, daß sie bereit sein möge, außerordentliche Maßnahmen zu vermeiden. Die Einheit unserer Bruderpartei Rußlands ist notwendig für die Entwicklung und den Sieg der revolutionären Kräfte der Welt; dieser Notwendigkeit wegen muß jeder Kommunist und Internationalist bereit sein, die größten Opfer zu bringen. Die schädlichen Folgen eines Fehlers, den eine einheitliche Partei begeht, sind leicht zu überwinden; die Schäden einer Spaltung oder die längerfristige Situation einer latenten Spaltung können irreparabel und tödlich sein.

 

Mit kommunistischen Grüßen.
        Das PB der KPI



Anmerkungen

1. Der Brief, der keine exakte Datumsangabe enthält, stammt nach Aussagen Palmiro Togliattis, über den er in Moskau an die KPdSU weitergeleitet werden sollte, aus der ersten Oktoberhälfte 1926. Togliattis Antwort an Gramsci ist vom 18. Oktober 1926 datiert. Erstmals veröffentlicht wurde dieser Brief Gramscis zusammen mit dem Antwortschreiben Togliattis sowie einem Brief Togliattis (von 1964) an Giansiro Ferrata, den Herausgeber der Sammlung 2000 pagine di Gramsci (2000 Seiten Gramsci), Mailand 1964, in: Rinascita (Rom), 30. Mai 1964, S. 17-20, sodann in: Antonio Gramsci: Scritti politici, Hrsg. von Paolo Spriano, Bd.3, Rom 1978, S.232-238.

2. Kommunistische Partei Rußlands.

3. Der XV. Parteitag der KPdSU(B) fand vom 2. bis 19. Dezember 1927 statt.

4. Die nach Lenins Tod geführte Auseinandersetzung Stalins mit seinen Kontrahenten in der Führung der Partei erreichte im Sommer 1926 einen weiteren Höhepunkt dadurch, daß sich die Anhänger Trotzkis und Sinowjews zu einem oppositionellen Block gegen Stalin, der im Zentralkomitee die Mehrheit der Mitglieder hinter sich hatte, vereinten.

5. Gemeint ist der V. Kongreß der Kommunistischen Internationale vom 17. Juni bis 18. Juli 1924; es war der erste Komintern-Kongreß nach Lenins Tode.

6. Der XIV. Parteitag der KPdSU(B) fand vom 18. bis 31. Dezember 1925 statt. Stalin, der auf den „Sieg des Sozialismus in einem Lande“ (d.h. in der UdSSR) und in diesem Zusammenhang auf eine forcierte Industrialisierung orientierte, setzte sich auf dem Parteitag gegen Leo Trotzki durch, und zwar mit dem Vorwurf, der Trotzkismus sei eine antileninistische Plattform.

7. Mit dem vorausgegangenen Hinweis auf die besondere traditionelle Rolle der Bauernschaft, namentlich in Italien, will Gramsci offenbar davor warnen, die Ziele der Arbeiterklasse auf Kosten der Bauernschaft durchzusetzen, wie es damals Trotzki propagiert hatte und dafür von Stalin nach Gramscis Meinung zu Recht kritisiert wurde.

8. NÖP ist die Abkürzung für Neue Ökonomische Politik, die Lenin 1921 einleitete, um mit Hilfe der wirtschaftlichen Privatinitiative und des freien Handels in Stadt und Land die wirtschaftliche Misere zu überwinden und um breiteste soziale Kräfte in den Aufbau des Landes einzubeziehen. NÖP-Mann bezeichnet Leute, die sich unter Ausnutzung der neuen Möglichkeiten bereicherten und dadurch viel besser lebten als die Arbeiter. Gramsci verteidigte die Leninsche Orientierung auf die NÖP, die von der Arbeiterklasse im Interesse des Landes Selbstlosigkeit und Opfer erfordere.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008