Henryk Grossmann


Fünfzig Jahre Kampf um den Marxismus 1883-1932

(1932)


Quelle: Zuerst veröffentlicht in dieser Form als die Broschüre Fünfzig Jahre Kampf um den Marxismus 1883-1932, Fischer, Jena, 1932
und auch als der 7. Teil des Aufsatzes Sozialistische Ideen und Lehren I in Ludwig Elster (Hrsg.) Wörterbuch der Volkswirtschaft, Dritte Band vierte Auflage, Fischer, Jena 1933, S.272-341.
Transkription: Rick Kuhn.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Anmerkung: Henryk Grossman war als „Henryk Grossmann“ im deutschsprachigen Raum bekannt. Er hat immer mit „Henryk Grossman“ unterschrieben und als „Henryk Grossman“ auf Polnisch und Englisch veröffentlicht.

A. Die Marxisten der Frühperiode

Bis zum Ausgang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren die Umstände für das Verständnis der Marxschen Ideen – auch innerhalb des sozialistischen Lagers – wenig günstig. Eine besondere Schwierigkeit ergab sich schon daraus, daß das Kapital zunächst nur als Torso, als nur einer von mehreren Bänden, vorlag. Es vergingen noch fast drei Jahrzehnte, ehe die das System zum Abschluß bringenden Bände (von Engels aus dem Nachlaß herausgegeben) erschienen (Bd.II 1885, Bd.III 1895). Und es vergingen noch weitere fünfzehn Jahre, ehe Karl Kautsky den letzten Band der Theorien über den Mehrwert herausgegeben hatte (1910). Diese, von Marx als vierter Teil des Kapital gedacht, sind eine großartige Geschichte der politischen Ökonomie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, der die bürgerliche Geschichtsschreibung nichts Gleichwertiges zur Seite stellen kann.

Noch während des ersten Jahrzehnts nach der Reichsgründung konnte in Deutschland vom „Marxismus“ kaum die Rede sein (viel weniger noch in den anderen Ländern). Zwischen der Arbeiterbewegung und den Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus bestand nur ein sehr lockerer Zusammenhang. Noch lange Jahre nach dem Tode Lassalles stand die deutsche Arbeiterbewegung unter dem Einfluß der Lehren und des Wirkens Lassalles. Im übrigen schöpfte sie ihre Gedanken und Empfindungen aus den Erinnerungen an 1848, aus Proudhon, Rodbertus und Eugen Dühring. Viele Sozialisten begründeten ihre Forderungen mit der Berufung auf Ethik und Humanität oder orientierten sich an den Veröffentlichungen der „Internationalen Arbeiter-Association“. Als auf dem Kongreß zu Gotha (1875) die beiden Richtungen der deutschen Arbeiterbewegung (die sog. „Lassalleaner“ und die marxistischen „Eisenacher“) sich vereinigten, wurden in das neubeschlossene Gothaer Programm die Ideen und Forderungen Lassalles zu seinen Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei, Berlin 1922). In beiden Parteien organisierten sich zuerst nicht die Arbeiter der großen Industrie, sondern das Gros der Bewegung bildeten jene Arbeiter wie Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tabakarbeiter usw., die mit dem Kleinbürgertum noch in engeren Beziehungen blieben. Die Broschüren und Losungen Lassalles, seine verschwommenen Auffassungen vom Staat, die vollkommene Unklarheit über das Ziel der Partei, entsprachen offenbar der damaligen Unreife der Arbeiterbewegung viel mehr als das geschlossene und großartige Gebäude der Marxschen Theorie. Selbst die führenden Köpfe der Arbeiterbewegung waren lange nicht imstande, die eigentlichen Schwerpunkte der Marxschen Lehre zu erfassen. Charakteristisch dafür ist das Ersuchen W. Liebknechts (1868), der doch während seines Londoner Aufenthaltes in engen Beziehungen zu Marx gestanden hatte, Engels möge in einem Aufsatze für das Parteiorgan klarmachen, worin denn eigentlich der Unterschied zwischen Marx und Lassalle liege. Aus der Korrespondenz zwischen Marx und Engels ist zu ersehen, wie peinlich Marx die Tatsache empfand, daß die deutschen Parteikreise eine fast unglaubliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Kapital zeigten.

Nur allmählich und in stetem Kampfe mit anderen in der Arbeiterbewegung verbreiteten Auffassungen (Kampf mit dem Proudhonismus und dem Bakunismus in der I. Internationale, Auseinandersetzung Engels mit Dühring 1878 usw.) drangen die Marxschen Ideen in der Arbeiterbewegung durch. Seit 1883 wirkte Karl Kautsky (geb. 1854) als Redakteur des wissenschaftlichen Parteiorgans Die Neue Zeit für die Verbreitung der Marxschen Gedanken. Indessen war die Zeit des Ausnahmegesetzes (1879-90) der theoretischen Vertiefung des Marxismus recht ungünstig.

Die große Popularität, die das Marxsche Lebenswerk erlangte, verdankte es zunächst jenen Partien des I. Bandes, welche den unmittelbaren Produktionsprozeß innerhalb der Fabrik schildern und damit die Lage der Arbeiterklasse, ihre Ausbeutung durch das Kapital und die sich vor allen Augen abspielenden Klassenkämpfe des Alltags verständlich machen. So ist dieser Band auf Jahrzehnte hinaus zur „Bibel“ der Arbeiterklasse geworden. – Ganz anders war das Los jener Teile des Werkes, welche die geschichtlichen Tendenzen der Kapitalakkumulation und die in ihrem Gefolge eintretende Zusammenbruchstendenz des Kapitalismus darstellen. Hierin war Marx seiner Epoche gedanklich so sehr vorausgeeilt, daß diese Teile seines Werkes zunächst unverständlich bleiben mußten. Der Kapitalismus war noch nicht zu jener Reife gelangt, daß sein Zusammenbruch und die Verwirklichung des Sozialismus unmittelbare Realität gehabt hätten. So ist begreiflich, wenn Kautsky in einer Besprechung des II. Bandes des Kapital (1886) ausführt, daß nach seiner Meinung dieser Band für die Arbeiterklasse geringeres Interesse habe als der erste, daß für sie nur die Produktion des Mehrwerts in der Fabrik von Wichtigkeit sei. Die weitere Frage, wie dieser Mehrwert realisiert wird, interessiere mehr die Kapitalisten als die Arbeiterklasse! Auch Kautskys bekanntes Buch Karl Marx’ ökonomische Lehren (Stuttgart 1887, 1930) beschränkt sich ausschließlich auf die Wiedergabe des Inhalts des I. Bandes des Kapital. Erst den neueren Auflagen ist eine äußerst dürftige Übersicht der Lehren des II. und III. Bandes hinzugefügt.

Zwei Generationen mußten seit dem Erscheinen des Kapital vergehen, bevor der Kapitalismus infolge der Kapitalakkumulation zu seiner heutigen Höhe heranreifte und in seinem Schöße Konflikte gebar, die das Problem der Verwirklichung des Sozialismus aus dem Bereiche der erst für eine ferne Zukunft bestimmten Programmforderung in die Sphäre der täglichen politischen Praxis verlegten. Der veränderten historischen Lage entsprechend ist auch das Verständnis für die Marxschen Ideen gewachsen.

Anders war die Lage nach dem Fall des Ausnahmegesetzes (1890), als der politische Sozialismus aus einer verfolgten kleinen Gruppe sich rasch zur größten Partei Deutschlands zu entwickeln begann und seine Anziehungskraft über die Arbeiterklasse hinaus breite Schichten der Intellektuellen und des Kleinbürgertums erfaßte. Äußerlich war das Erstarken des Marxismus in dieser Periode im Wachstum begriffen. Im Erfurter Programm (1891) gelangte er zu siegreichem Ausdruck. Aber gerade zu der Zeit, als mit dem Erscheinen des III. Kapital-Bandes (1895) das theoretische System von Marx vor der Öffentlichkeit seinen Abschluß erhielt, war mit dem raschen Aufblühen des internationalen Kapitalismus und mit der Erstarkung einer opportunistischen Arbeiteraristokratie innerhalb der Arbeiterklasse eine Wendung eingetreten, die für die Fortentwicklung des theoretischen Marxismus von größter Bedeutung wurde. Die soziale Differenzierung der Arbeiterklasse mußte früher oder später nicht nur in der Politik, sondern auch in ihren theoretischen Auffassungen über die Ziele und die Aufgaben der Arbeiterbewegung zum Ausdruck kommen.
 

B. Der Vorstoß des Reformismus

a) Der Revisionismus Der Sieg des Opportunismus zunächst in England, nachher in Frankreich und Deutschland sowie in einer Reihe kleinerer europäischer Länder steht in notwendigem Zusammenhang mit der Strukturwandlung des Weltkapitalismus, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrunderts eine überaus starke Entwicklung aufwies und immer mehr sein imperialistisches Gesicht zeigte. Dessen grundlegende ökonomischen Züge sind die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol und die koloniale, mit kriegerischen Verwicklungen verbundene Expansion. Die Bourgeoisie und Finanzoligarchie der kapitalistischen Großmächte beziehen durch Kapitalexport, monopolistische Beherrschung und Ausbeutung riesiger Rohstoff- und Kapitalanlagegebiete Mittel- und Südamerikas, Asiens und Afrikas Milliarden an Überprofiten, die diesen die Möglichkeit geben, eine Oberschicht der Arbeiterklasse und den kleinbürgerlichen Anhang der sozialistischen Parteien mit höheren Löhnen und mancherlei anderen Vorteilen zu gewinnen, an der kolonialen Ausbeutung zu interessieren, sie politisch an sich zu binden und eine Interessengemeinschaft mit ihnen gegen die breiten Massen und gegen die anderen Länder einzugehen. Diese Oberschichten waren die Kanäle des Einflusses der Bourgeoisie auf das Proletariat. Die Entstehung der Arbeiteraristokratie, die politisch in der Bildung der „bürgerlichen Arbeiterparteien“ nach dem Muster der Labour Party in England zum Ausdruck gelangt, ist typisch für alle imperialistischen Länder.

Diese Schichten, für die die revolutionären Lehren der Marxschen Theorie unbequem und für ihre praktischen Bestrebungen zur Mitarbeit mit dem Bürgertum und den staatlichen Organen hinderlich waren, traten bald in allen kapitalistisch entwickelten Ländern mit einem Angriff gegen die Marxsche Lehre hervor mit der Begründung, diese befände sich im Widerspruch zu den wirklichen Tendenzen des Kapitalismus. Ihr Hauptgegensatz zum Marxismus bestand darin, daß dieser letztere die Möglichkeit einer dauernden Besserung der Lage der Arbeiterschaft in der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung (von vorübergehenden Besserungen in kürzeren Perioden abgesehen) verneinte und die gegensätzliche Ansicht vertrat, daß die immanenten Kräfte des Kapitalismus mit seiner vollen Entfaltung zu einer Verschlechterung der Lage der Arbeiter notwendig führen müssen. Demgegenüber wiesen die Vertreter des Reformismus darauf hin, daß auch innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung eine dauernde Besserung in der Lage der Arbeiterschaft – sei es auf dem Wege der staatlichen Gesetzgebung (Alters-, Unfall- und Krankenversicherung), sei es auf dem Wege der Selbsthilfe (durch die Gründung und den Ausbau von Gewerk- und Konsumvereinen) – möglich und bereits wirksam sei. Dabei hat man die ziemlich geringe und nur auf eine schmale Oberschicht beschränkte Besserung überschätzt und verallgemeinert und ihren Charakter insofern verkannt, als man sie nicht als temporär, sondern als den Anfang einer stetig nach der Breite und Tiefe fortschreitenden Wandlung betrachtete.

Wohl der wirksamste Hebel zur Durchsetzung der antiradikalen Einstellungen war unzweifelhaft die erstarkende Gewerkschaftsbewegung. Den Führern der Gewerkschaften – den typischen Vertretern der Arbeiteraristokratie – war der Reformismus wie auf den Leib zugeschnitten. Für sie, die den Kleinkampf um eine ganz allmähliche und immer wieder von Rückschlägen bedrohte Aufbesserung der Lage der Arbeiter durchzuführen hatten, bedeutete aller Radikalismus eine Gefährdung ihrer eroberten Positionen, ihrer Organisationen und Gewerkschaftskassen. Sie waren daher bemüht, jede Verschärfung der Kampethoden im Keime zu ersticken. Unter dem „Sozialistengesetz“ war für solche Bestrebungen kein Platz, da damals auch die Gewerkschaften kaum weniger zu leiden hatten als die politische Sozialdemokratie. Mit dem Erstarken der Gewerkschaftsbewegung nach der Aufhebung des Ausnahmegesetzes, namentlich seit der Gründung der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, die mit einer straffen Zentralisierung der Bewegung verbunden war, hat sich das Verhältnis der Gewerkschaften der politischen Partei gegenüber geändert. Die anfänglich bestehende Abhängigkeit von der politischen Bewegung wandelte sich bald, und sowohl auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß, Mai 1905, als auch auf dem Mannheimer Parteitag, September 1905, hatten es die Gewerkschaften und ihre Führer verstanden, ihre Forderungen – oft auch in entscheidenden Fragen – gegen den Willen der Parteiinstanzen durchzusetzen. Nun machte sich ihr Einfluß auch auf die theoretischen Auffassungen der sozialistischen Arbeiterbewegung in steigendem Maße bemerkbar. Allmählich wurden von den gewerkschaftlichen Tarifpraktikern gewisse – wesentliche – Bestandteile der Marxschen Lehre gleichsam ausgehöhlt. Unter den Händen der Gewerkschaftsführer hat der Begriff „Klassenkampf“ eine allmähliche Wandlung durchgemacht, die von dem ursprünglichen Inhalt nicht viel übrig ließ. Unter gleichen Einflüssen änderte sich auch die Haltung der Gewerkschaftsführer zum Staat, indem man auf die Vorteile der Arbeiterklasse hinwies, die man in den staatlichen Institutionen der Sozialversicherung erblickte und deren weiteren Ausbau man erreichen zu können hoffte. So sahen sich diese Kreise veranlaßt, die bisherigen von Marx übernommenen Anschauungen zu revidieren („Revisionismus“). Aber obwohl in den neunziger Jahren und nach der Jahrhundertwende vielfach erörtert wurde, ob nicht für die dem Sozialismus zuneigenden Gewerkschaften eine besondere Gewerkschaftstheorie aufzustellen sei, die den Reformismus, die Einstellung auf eine allmähliche, innerhalb der gegebenen Ordnung „tropfenweise“ sich durchsetzende „Sozialisierung“ zu sanktionieren haben würde, ist es zu einer solchen Gewerkschaftstheorie nicht gekommen. Um so freundlicher begrüßten die Gewerkschaften die Bestrebungen die, in der politischen Partei sich entwickelnd, ihren Wünschen entgegenkamen.

Der Revisionismus ist unzertrennlich mit dem Namen Eduard Bernstein (geb. 1850) verknüpft, weil dieser zuerst in systematischer Weise eine Revision der Marxschen Lehre verlangte mit der Begründung, daß sie mit der tatsächlichen Entwicklung des Kapitalismus nicht übereinstimme, wenn schon vorher der frühere Radikale Georg von Vollmar in seinen berühmten Eldorado-Reden in München (München 1891) und in der Broschüre Staatssozialismus (1892) ähnliche Gedanken entwickelt und eine reformistische Taktik befürwortet hatte. Eduard Bernstein, der zu Lebzeiten von Engels als ein treuer Schüler der Lehre galt, trat mit seiner Kritik erst nach dem Tode des Meisters, 1896/97, in seinen Aufsätzen Probleme des Sozialismus in der Neuen Zeit hervor. (In Buchform unter dem Titel: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899.) Von den übrigen Schriften kommen in Betracht: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?, Berlin 1901; Die Leitsätze für eine Revision des Erfurter Programms, 1909: Theorie und Geschichte des Sozialismus, Berlin 1901.

Bernstein hat die Marxsche Lehre als Ganzes nie offen als falsch bezeichnet. Es ist für den Revisionismus wesentlich, daß er weder beabsichtigt hatte, noch daß es ihm gelungen ist, ein geschlossenes theoretisches Gebäude zu zimmern, um es an die Stelle des Marxschen zu setzen. Seine historische Bedeutung liegt vorwiegend in der Beeinflussung der gewerkschaftlichen und politischen Praxis; um die Theorie kümmerte er sich nur insoweit als sie für diesen praktischen Reformismus ein Hindernis darstellte. Dieses sollte durch die revisionistische Kritik weggeräumt, die Theorie der Praxis angepaßt und so die Zwiespältigkeit zwischen der überlieferten revolutionären Theorie und der reformistischen Tat überwunden werden. Bernstein wandte zu diesem Zweck bei seiner Kritik des Marxschen Lehrgebäudes das bequeme Verfahren an, die beständigen allgemeingültigen Elemente – theoretische Erkenntnissätze – der Lehre von jenen anderen scharf zu trennen, die das veränderliche Element darstellen, weil sie Sätze der angewandten Wissenschaft sind. Unter dem Schutz dieser Distinktion wurden jedoch auch die fundamentalen Sätze der Lehre erfaßt, allerdings dann unter dem Vorwand, daß sie eben als nichtfundamental umgedeutet wurden. Als Ziel des Revisionismus wurde nicht die Überwindung des Marxismus angegeben; vielmehr sollte es sich bloß um die Abstoßung gewisser Reste des „Utopismus“, die der Marxismus angeblich noch mit sich herumschleppte, handeln.

Die „Reinigungsaktion“ Bernsteins war bestrebt, den Sozialismus von der Marxschen Wert- und Mehrwertlehre zu befreien. Der Wert ist eine gedankliche Konstruktion und kein Phänomen. Ob die Marxsche Werttheorie richtig ist oder nicht, sei für den Nachweis der Mehrarbeit überflüssig, da die Mehrarbeit eine empirische Tatsache sei, die allein zur Begründung des Sozialismus genüge. Eine solche Begründung: eine positive Theorie des Kapitalismus, aufgebaut auf der Tatsache der Mehrarbeit mit der Wendung zum Sozialismus hin, hat Bernstein nicht gegeben. Er ist im Negativen geblieben.

In bezug auf die Marxsche Voraussage steigender Zentralisation und Konzentration der Kapitale, steigender Konzentration der Betriebe, Erhöhung der Mehrwertrate (der Ausbeutung) und des Falles der Profitrate gibt Bernstein zwar die Tatsachen zu, behauptet aber, das Gesamtbild des Kapitalismus sei bei Marx einseitig gespannt, indem Marx die Gegentendenzen in der Hauptsache vernachlässige. Den Konzentrationstendenzen wirke nämlich eine weitgehende Spaltung schon konzentrierter Kapitale entgegen. Die Einkommensstatistik zeige ein Wachstum der Zahl der Aktionäre und des Durchschnittsbetrages ihres Aktienbesitzes. Unleugbar wachse sowohl absolut als auch relativ die Zahl der Besitzenden. Und die Berufsstatistik ihrerseits beweise eine Zunahme der Mittelklassen. Die Betriebsstatistik endlich gebe einwandfrei zu erkennen, daß in einer ganzen Reihe von Gewerbezweigen kleinere und mittlere Betriebe sich neben Großbetrieben als durchaus lebensfähig erweisen. Das gelte nicht nur für die Industrie, sondern auch für den Handel. Und für die Landwirtschaft gar zeige die Entwicklung soweit der Großbetrieb in Betracht komme, entweder Stillstand oder direkten Rückgang des Größenumfanges der Betriebe. Nach Bernstein hat dann E. David (Sozialismus und Landwirtschaft, Berlin 1903) zu zeigen versucht, daß in der Landwirtschaft eine der Marxschen Prognose diametral entgegengesetzte Entwicklung des Betriebes eingesetzt habe, wobei die These verfochten wurde, daß der Kleinbetrieb nicht nur lebensfähig, sondern die überlegene Produktionsform sei.

Die Marxsche Krisen- und Zusammenbruchstheorie betrachtet Bernstein als eine apriorische Konstruktion nach dem Hegelschen Entwicklungsschema. Die tatsächliche Entwicklung habe in verschiedenen Punkten einen anderen Weg genommen, als der Fall sein müßte, wenn der Zusammenbruch aus rein ökonomischen Gründen unvermeidlich sein sollte. Bernstein gibt zwar die Möglichkeit der lokalen oder partikularen Krisen zu, aber die gewaltige räumliche Ausdehnung des Weltmarktes, die Verkürzung der für Nachrichten und Warentransport erforderten Zeit im Verein mit der Elastizität des modernen Kreditwesens und dem Aufkommen der Kartelle hätten die Möglichkeiten des Ausgleichs lokaler Störungen geschaffen. Deshalb sei das Auftreten von allgemeinen Krisen als unwahrscheinlich zu betrachten. Den Zusammenbruch behandelt Bernstein nicht unter dem Gesichtspunkt, ob er sich aus der immanenten Entwicklung des Kapitalismus notwendig ergebe, sondern er stellt die Frage, ob bei der gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung und dem Reifegrad der Arbeiterklasse der Sozialdemokratie an einer plötzlichen Katastrophe gelegen sein könne. Bernstein verneint diese Frage, weil im stetigen Vormarsch eine größere Gewähr für dauernde Erfolge liege als in den Möglichkeiten, die eine Katastrophe böte. Bernstein sieht gerade in der Zusammenbruchslehre den Kernpunkt des „Utopismus“ im Marxismus, weil dieser den Sieg des Sozialismus von seiner „immanenten ökonomischen Notwendigkeit“ abhängig mache. Bernstein bekämpft der „Geschichte ehernes Muß“ und die materialistische Geschichtsauffassung als Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit und betont die steigende Wirksamkeit ideologischer und ethischer Faktoren. Gegen Marx wird Kant angerufen. Der Sieg des Sozialismus hänge nicht von der ökonomischen Notwendigkeit ab, sondern von der moralischen Reife der Arbeiterklasse, also ihrer Einsicht, daß der Sozialismus wünschenswert sei.

Bernstein eskamotiert schließlich das Endziel des Sozialismus. („Das Ziel, was immer es sei, ist mir nichts, die Bewegung alles“.) Die Endzielsetzung sei untergeordnet, vielmehr sei die Auerksamkeit und die Energie der Arbeiterklasse auf „naheliegende Ziele“, auf die „Kleinarbeit des Alltags“ zu konzentrieren, aus der sich ein Fortschritt der Kulturentwicklung, eine höhere Moral und Rechtsauffassung ergeben würden. Daß eine solche Formulierung der Aufgaben der Arbeiterbewegung nichts mehr mit dem Sozialismus zu tun hat und sich mit den Auffassungen des bürgerlichen Liberalismus deckt, ist offenbar. Die allgemeine Anschauung, daß in allen Einzelzielen immer der Hinweis auf ein weiteres noch zu erreichendes Ziel liege, das später erstrebt werden müsse, führt nur zu einem Fortschreiten ins Unendliche, und das ist gerade dem Wesen des Sozialismus, der auf bestimmter Stufe der Entwicklung ein abgegrenztes System durch ein anderes ersetzen will und soll, diametral entgegengesetzt (Brauer [Der moderne deutsche Sozialismus, Freiburg in Breisgau 1929]).

Es war nur konsequent, daß mit der Aufgabe des Endziels Bernstein zugleich auch die zu seiner Erreichung notwendige revolutionäre Taktik preisgab. Im Gegensatz zur Marxschen Klassenkämpflehre und seiner Auffassung, daß die Gewalt der Geburtshelfer jeder werdenden Gesellschaft sei, betont Bernstein die pärlamentarische Tätigkeit als däs Mittel der Arbeiteremanzipation. Die Idee der Eroberung der politischen Macht durch revolutionäre Aktion sei im Marxismus ein Fremdkörper, ein Rest von Blanquismus, dem Engels gegen Ende seines Lebens den Abschied gegeben habe.

Aus seiner Kritik zog Bernstein den Schluß, daß es falsch und verhängnisvoll sei, mit großen sozialen Katastrophen zu rechnen und die Taktik der Partei darauf einzustellen. Die Utopie von einer kommenden Revolution müsse aufgegeben werden. Die Entwicklung laufe hinaus auf eine Abstumpfung der Klassengegensätze und eine Demokratisierung der Gesellschaft. Diese Entwicklung gelte es zu fördern. Um Einfluß zu gewinnen müsse die Sozialdemokratie den Mut finden, „das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei“.

Aus all dem ist zu ersehen, wie Brauer mit Recht betont, daß im Marxschen Sinne Bernstein nicht Sozialist ist, weil er in den politischen Kategorien hängen bleibt. Die proletarische Revolution ist für Marx nicht bloß „politischer Akt“, der die alte Gewalt auf dem Boden des Parlaments durch eine neue ersetzt, sondern sie ist zugleich eine „soziale“ Revolution, insofern sie die gesamte bisherige Gesellschaftsform aufhebt, um an ihre Stelle eine neue zu setzen. Der Klassenkampf – ebenso wie seine höchste Potenzierung, der Bürgerkrieg – ist für Marx nicht ein Erzeugnis des guten oder schlechten Willens der Menschen und nicht nach freiem Ermessen durch parlamentarische Tätigkeit ersetzbar. Vielmehr sind Klassenkampf und Revolution unvermeidliche Begleiterscheinungen der immanenten ökonomischen Notwendigkeit, mit der die Entwicklung zum Sozialismus treibt.

Der beträchtliche Einfluß, den Bernstein auf die Intellektuellen ausgeübt hat, erklärt sich daraus, daß sein Vorgehen zunächst durch seine Kühnheit bestach, indem er gegenüber der befürchteten Erstarrung des Marxismus seiner Weiterentwicklung einen Weg zu bahnen schien. Zugleich gewann er diejenigen, die aus Gründen des Opportunismus sich nicht „festlegen“ wollten, dabei in den beschränkenden Bestimmungen und Verklausulierungen Bernsteins die ihnen erwünschten Schlupfwinkel für die eigene Unentschlossenheit fanden.

Unter den Kritikern der Marxschien Krisen- und Zusammenbruchstheorie, die ähnlich wie Bernstein vom ethischen Gesichtspunkte ausgehen, hat sich mit Argumenten, die nachher vom Revisionismus reichlich benutzt worden sind, insbesondere der russische Professor Michael Tugan-Baranowsky hervorgetan (Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England, Jena 1901; Theoretische Grundlagen des Marxismus, Leipzig 1905; Der moderne Sozialismus in seiner geschichtlichen Entwicklung, Dresden 1908). Die Krisen und der schließliche Zusammenbruch des Kapitalismus können nach Tugan-Baranowsky nicht die Folgen des mangelnden Absatzes sein, da die einzelnen Produktionssphären bei Erweiterung der Produktion gegenseitig für sich neue Absatzmöglichkeiten schaffen, was Tugan-Baranowsky an einem im Anschluß an Marx konstruierten Reproduktionsschema nachzuweisen versucht. Auch die Verringerung der gesellschaftlichen Konsumtion infolge fortschreitender Technik und Ersetzung der menschlichen Arbeit durch die Maschinen brauche zu einer Überproduktion nicht zu führen, da an die Stelle des menschlichen Konsums bei Erweiterung der Produktion die produktive Konsumtion, d.h. eine stärkere Nachfrage nach Produktionsmitteln trete. Diese Ergebnisse der abstrakten theoretischen Analyse werden nach Tugan-Baranowsky durch die empirischen Tatsachen bestätigt. Die neueste kapitalistische Entwicklung zeige eine starke Ausdehnung der Produktionsmittelindustrien, solcher Zweige, wie die Montanindustrie, Maschinenindustrie, chemische Industrie usw., deren Produkte in den menschlichen Konsum nicht eingehen, während die unmittelbar dem menschlichen Konsum dienenden Produktionszweige, wie die Textil-(Baumwoll-)industrie fast zum Stillstand gelangt sind.

Die absolute Grenze für die Erweiterung der Produktion bilden die Produktivkräfte, über welche die Gesellschaft jeweils verfügt. Das Kapital könne diese Grenze nie erreichen, soweit diese Erweiterung der Produktion in sämtlichen Produktionszweigen proportional vor sich gehe. Die kapitalistischen Krisen seien daher ausschließlich die Folge der nichtproportionalen Kapitalanlage in den einzelnen Sphären. Bei proportioneller Anlage können sich die Produktivkräfte des Kapitalismus schrankenlos entfalten. „Die kapitalistische Wirtschaft könne gar nicht aus ökonomischen Gründen zusammenbrechen.“ Die Marxsche Werttheorie sei für den Nachweis der Mehrarbeit überflüssig. Das Mehrprodukt sei nicht das Produkt der in der Produktion beschäftigten und ausgebeuteten Lohnarbeiter allein, sondern ein Erzeugnis der ganzen Gesellschaft als einer Einheit. Der Mangel der kapitalistischen Wirtschaft liege darin, daß sich die Besitzenden dieses Mehrprodukt aneignen. Das Ende dieses ungerechten Systems könne daher nur aus ethischen Gründen erfolgen. „Es gibt keine Gründe, vorauszusagen, daß der Kapitalismus je eines natürlichen Todes sterben wird; er muß zerstört werden durch den bewußten Willen des Menschen, zerstört durch die vom Kapital ausgebeutete Klasse – das Proletariat.“ Tugan-Baranowsky preist deshalb den sog. utopischen Sozialismus, der insoweit viel wissenschaftlicher gewesen sei als der Marxismus, als er seinen ethischen Forderungen des Umbaus der bestehenden Wirtschaftsordnung keine unhaltbare objektive Begründung zu geben versucht habe.

Neben den Angeführten ist noch kurz Conrad Schmidt, der Verfasser des wertvollen und von Engels lobend erwähnten Buches über Die Durchschnittsprofitrate auf Grundlage des Marxschen Wertgesetzes (Stuttgart 1889) zu nennen, der aber bald zum schärfsten Gegner der Marxschen Wert- und Mehrwerttheorie wurde. Er begnügte sich indes nicht mit der Kritik und Ablehnung der Marxschen Auffassung, sondern unternahm selber den Versuch einer systematischen Analyse der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Gesetze (vgl. seine Aufsätze über Werttheorie und Krisen in Sozialistische Monatshefte, Jahrgang 1899, 1901, 1910, und insbesondere Zur Methode der theoretischen Nationalökonomie, ebda., 1915). Dabei gelangte Schmidt zu derselben Schlußfolgerung, die Marx für die kapitalistische Wirtschaft ableitet: Der Arbeiter kann mit der ihm in Lohnform zustehenden Kaufkraft nur einen Wertbetrag kaufen, zu dessen Produktion nur ein Bruchteil der von ihm selbst geleisteten Arbeit notwendig war. Mit anderen Worten: Wenn die von ihm produzierten Waren für den Unternehmer gewinnbringend veräußerlich sein sollen, muß er immer Mehrarbeit leisten. Aber dieses Grundergebnis, meint Schmidt, wurde gewonnen, ohne daß man sich des unhaltbaren Marxschen Wertgesetzes bedienen mußte, wodurch man vielen Widersprüchen, die mit diesem Wertgesetze verbunden sind, ausweichen könnte.
 

b) Die Neukantianer Neben der revisionistischen Bewegung, welche die ökonomischen und politischen Grundlagen des Marxismus zu erschüttern suchte, entstand gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine stärkere revisionistische Strömung innerhalb der Sozialdemokratie auch auf philosophischem Gebiete. Das Eindringen breiterer Intellektuellenschichten in die Arbeiterbewegung führte bald zu einer Diskussion über die Bedeutung und Geltung der „materialistischen Geschichtsauffassung“, wobei gewisse Modifikationen derselben schon von Engels ausgingen in Briefen an sozialistische Akademiker, die ihn um Auskunft baten (vgl. insbesondere den Brief vom 21.IX.1890 an J. Bloch). In diesen Briefen warnte Engels vor Ubertreibungen und stellte fest, „daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird als ihr zukommt“, und daß die ökonomische Lage nicht das einzig, sondern nur in letzter Instanz bestimmende Moment der sozialgeschichtlichen Entwicklung sei. Von diesen Intellektuellen wurden in die Arbeiterbewegung idealistische Nebenströmungen hineingetragen, die die materialistische Geschichtsauffassung preisgeben oder sie mit der idealistischen verbinden wollen. So namentlich in Frankreich, wo Jean Jaurès in seiner lateinischen Dissertation, 1891, die idealistische Geschichtsauffassung entwickelt, nach welcher die Geschichte das Erzeugnis des menschlichen Geistes sei – eine Auffassung, die er auch später, als Sozialist, beibehielt. Die idealistische Strömung wird dadurch gefördert, daß manche Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung wie z.B. Paul Lafargue (1842-1911), durch grobe Deutung derselben zu ihrer Diskreditierung beitrugen (vgl. Lafargue, Le déterminisme économique de Karl Marx. Recherches sur l’origine et l’évolution des idées de justice, du bien, de l’âme et de Dieu, Paris 1909). Auf deutschem Boden entsteht zunächst in der Universitätsphilosophie eine Strömung, die den Sozialismus idealistisch begründen und mit Kant verknüpfen will. Sie geht von Hermann Cohen (1842-1918), dem Begründer des Neukantianismus, der sog. „Marburger Schule“, aus, der in seiner Einleitung zu F.A. Langes Geschichte des Materialismus (Leipzig 1896) nachzuweisen versuchte, daß der Sozialismus „im Sozialismus der Ethik begründet“ und insofern Kant „der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus“ sei. Rudolf Stammler (Halle) erkannte zwar in seinem Buche Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (Leipzig 1896) diese als die bisher beste und einheitlichste Methode kausaler Erforschung der wirtschaftlichen Entwicklung an, verlangte aber deren Ergänzung durch eine zielsetzende („ideologische“) Betrachtung. Nur auf dem letzteren Wege könne man zu einem obersten sozialen Endziel gelangen, das Stammler in einer „Gemeinschaft frei wollender Menschen“ erblickt, in der „ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke des anderen zu den seinigen macht“. Noch mehr versuchte Franz Staudinger (1849-1921) in seinen Schriften (Ethik und Politik, Berlin 1899; Wirtschaftliche Grundlagen der Moral, Darmstadt 1907) den marxistischen Standpunkt mit der Erkenntniskritik und Ethik Kants in Einklang zu bringen. Jeder Kantianer müsse in folgerechter Entwicklung seiner eigenen Grundgedanken zu Marx kommen. Und umgekehrt: „Sobald der Marxismus nicht mehr bloß das soziale Werden nach dem kausalen Gesichtspunkte wissenschaftlich verfolgt, sondern sich bewußte und planmäßige Umgestaltung des Gegebenen zum Ziele macht, kommt er in konsequenter Verfolgung seines eigenen Prinzips zu Kant.“ Im ähnlichen Sinne wie Staudinger trat auch Karl Vorländer in seinen Schriften (Kant und der Sozialismus, Berlin 1900; Kant und Marx, Tübingen 1911, 1926; Von Machiavelli bis Lenin, Leipzig 1926) für eine Verbindung von „Marx“ und „Kant“, d.h. für eine Verbindung wirtschaftlich-historischer mit erkenntniskritisch-ethischer Begründung des Sozialismus ein.

Diese Strömung, die zunächst außerhalb der sozialistischen Bewegung entstand, rief bald einen Widerhall auch innerhalb derselben hervor, insbesondere in den Reihen der Revisionisten: E. Bernstein, C. Schmidt und L. Woltmann (Der historische Materialismus, Düsseldorf 1900), die den Marxismus auch von der philosophischen Seite zu erschüttern versuchten, ebenso aber auch in den Reihen der damals radikalen jüngeren Wiener Marxisten wie Max Adler (Kausalität und Theologie im Streite um die Wirtschaft, in Marx-Studien, 1904; Marx als Denker, Berlin 1908; Kant und der Marxismus, Berlin 1925; Marxistische Probleme, Stuttgart 1913) und Otto Bauer (Marxismus und Ethik, gegen Kautsky gerichtet, Neue Zeit, 1906), die schließlich in das Lager des Reformismus abschwenkten. Sie alle forderten eine stärkere Berücksichtigung der „ideologischen“ Momente, der Erkenntniskritik und und Ethik, innerhalb der sozialistischen Theorie. Ähnliche Versuche des russischen Revisionismus auf philosophischem Gebiete riefen die entschiedene Abwehr Plechanows und Lenins (Materialismus und Empiriokritizismus, 1908) hervor. Im ganzen blieb der Revisionismus in philosophischer Hinsicht im Negativen und erwies sich hier als ebenso unfruchtbar wie auf ökonomischem Gebiete. Indes mit dem Sieg des Reformismus in der deutschen Sozialdemokratie während der Kriegsund Nachkriegszeit gelangen auch diese Strömungen zur Geltung. Für die völlige veränderte Haltung des Sozialismus in dieser Periode ist es bezeichnend, daß zu dem vor dem Görlitzer Parteitag erschienenen Buche Das Programm der Sozialdemokratie, Vorschläge für seine Erneuerung (Berlin 1920) den Artikel über die philosophischen Grundlagen des Sozialismus auf Aufforderung der maßgebenden Parteikreise der erwähnte Kantianer K. Vorländer geschrieben hat.

Was den Revisionismus insgesamt anlangt, so verleiht ihm nicht nur der Umstand einen individualistischen Zug, daß sowohl Bernstein als auch Tugan-Baranowsky sich zur Grenznutzenlehre bekennen, sondern, wie gezeigt wurde, sein Versuch, an Stelle der Marxschen materialistischen Dialektik die Kantsche Ethik und Erkenntniskritik zu setzen. Denn gegenüber dem Sozialismus, soweit er grundsätzlicher Sozialismus sein will, ist festzuhalten, daß Kants Ausgangspunkt die autonome Persönlichkeit ist; darin liegt aber ein fundamentaler Gegensatz zum Sozialismus überhaupt und zum Marxschen Sozialismus im besonderen, der den einzelnen nur in seiner Bedingtheit durch die gesellschaftliche Umgebung kennt und aus dieser allein erklären will.

Der Revisionismus insgesamt hat es nicht vermocht, an die Stelle der Marxschen eine eigene, den wirtschaftlichen Mechanismus mit seinen sozialen Verkettungen von einem einzigen Punkte aus erfassende Theorie zu setzen. Er blieb im Kritischen stecken, und deshalb ist die Frage, ob der Revisionismus als prinzipieller Sozialismus anzusprechen sei, zu verneinen. Aber auch im rein Kritischen hat sich der Standpunkt des Revisionismus als falsch erwiesen. Man braucht nur seine Kritik der Marxschen Krisen- und Konzentrationsfähigkeit des Handwerks und der Mittelklassen, endlich seine Auffassung von der Überlegenheit des agrarischen Kleinbetriebs mit den Erfahrungen der Nachkriegszeit zu vergleichen (vgl. F. Pollock, Sozialismus und Landwirtschaft, in Festschrift für C. Grünberg, Leipzig 1932, und J. Gumperz, Die Agrarkrise in den Vereinigten Staaten, Leipzig 1931), um zu sehen, daß die Geschichte nicht dem Revisionismus, sondern Marx Recht gegeben hat. Wer sich heute nach sieben Jahrzehnten in das Kapital vertieft, muß staunend zugestehen wie richtig, ja prophetisch Marx die großen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus erfaßte.

In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Weltkriege ist der Reformismus zu einer internationalen Erscheinung geworden. Viel früher als in Deutschland trat er in England auf. Dort war die erste Massenbewegung des englischen Proletariats, die Chartistenbewegung, in den dreißiger-vierziger Jahren geschlagen worden. Aber ihr Kampf hatte der englischen Bourgeoisie die Gefahr gezeigt, die ihr drohte. Sie hat es danach verstanden, die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse durch rechtzeitig gewährte Zugeständnisse und reale Vorteile an deren Oberschicht, die ihr ihre Vorherrschaft auf dem Weltmarkte erlaubte, zu besänftigen. Auf diese Weise gelang es ihr, lange Zeit hindurch zu verhindern, daß das englische Proletariat sich in einer selbständigen politischen Partei zusammenschloß. Die ganze Energie der Arbeiterklasse wandte sich dem Ausbau von Gewerkschaften, Hilfsklassen und Genossenschaften zu. Die große Umgestaltung der Lokalverwaltung gab den Arbeitern die Möglichkeit, in den autonomen Selbstverwaltungskörpern ihre Interessen auf dem Gebiete der kommunalen Wirtschafts- und Wohlfahrtspflege zu vertreten. Die Gewerkschaften bildeten eine rein reformistische Praxis aus. Die revolutionären Traditionen des Chartismus gerieten in Vergessenheit. Die um 1883/84 entstandene sozialistisch-reformistische „Gesellschaft der Fabier“ („Fabian Society“), die aus einigen hundert Intellektuellen bestand, erlangte unter der Führung von Sidney Webb (geb. 1859) und G.B. Shaw erheblichen Einfluß in bürgerlichen Kreisen und unter der Gewerkschaftsbürokratie. Einen klaren Einblick in das Wesen der Fabier gibt der Bericht, den sie für den Internationalen Sozialistenkongreß in London (1896) abgefaßt hatten.

Die Fabier wollen keine Partei sein, vielmehr alle bestehenden Organisationen und Bewegungen mit Fabier-Ideen durchdringen. Die „Taktik der Durchdringung“ ist eines der spezifischen Kennzeichen der Fabier. „Sie bemühen sich, das soziale Gewissen zu wecken, indem sie der Öffentlichkeit die bestehenden Übel zum Bewußtsein bringen.“ Der englische Reformismus fand seinen theologischen Ausdruck, außer in zahlreichen Broschüren (Tracts) der Fabier-Gesellschaft, vor allem in den Arbeiten des Ehepaares Sidney und Beatrice Webb (Die Geschichte des Britischen Trade-Unionismus. Mit Nachwort von E. Bernstein, Stuttgart 1895; Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine, 2 Bde., Stuttgart 1898; The prevention of destitution, London 1911, deutsch unter dem Titel: Das Problem der Armut, Jena 1912; A constitution for the socialist commonwealth of Great Britain, London 1920; The decay of capitalist civilisation, London 1923) und von James Ramsay Macdonald (Socialism and Society, London 1905, deutsch unter dem Titel: Socialismus und Regierung, mit einem Vorwort von Ed. Bernstein, Jena 1912). Die endlich im Jahre 1900 gegründete Labour Party nahm mit den Fabiern und den Gewerkschaften zugleich deren reformistische Prinzipien und Praxis in sich auf.

In Frankreich findet man den Reformismus bereits in den Broschüren, die Paul Brousse 1881-82 in Paris veröffentlichte. Brousse war der Begründer der Partei der sog. „Possibilisten“, die bis 1899 bestand. Nachher fanden die reformistischen Ideen stärkste Förderung durch das Wirken von Jean Jaurès, der auch 1899 die Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung (Ministerialismus) befürwortete. Auch in der sozialistischen Partei Italiens haben sich – trotz der schwachen industriellen Entwicklung des Landes – starke reformistische Strömungen gezeigt, im wesentlichen vertreten von kleinbürgerlichen Intellektuellen, die sich an allen theoretischen Kontroversen über die Verelendungs- und Konzentrationstheorie beteiligten, die gelegentlich der Veröffentlichung des III. Bandes des Kapital in der Zeit von 1895-1905 im wissenschaftlichen Parteiorgan Critica Sociale ausgefochten wurden. Die Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie kritisierte vor allem der Syndikalist Arturo Labriola in seinem Studio sul Marx, 1908 (französisch unter dem Titel: Karl Marx, l’économiste, le Socialiste, Paris 1910). In den Schriften Die ökonomische Spekulation (1907) und Die Diktatur der Bourgeoisie (1922) behandelte er Probleme des Imperialismus. Mit der stärkeren industriellen Entwicklung des Landes nach 1905, der damit verbundenen Verschärfung der Klassenkämpfe und dem Vordringen der politischen Reaktion innerhalb der Bourgeoisie fielen zahlreiche Intellektuelle vom Sozialismus ab. In derselben Richtung wie Jauès in Frankreich, wirkte Emile Vandervelde in Belgien. (La Belgique Ouvrière, Paris 1906. Le collectivisme et Revolution industrielle, Paris 1906. Le socialisme agraire ou le collectivisme agricole, Paris 1908. Essais sur la question agraire en Belgique, Paris 1902. Le Parti Ouvrier Belge 1885-1925, Brüssel 1925.) – Eine spezifische Form zeigte der Reformismus in Rußland. Seine namhaftesten theoretischen Vertreter waren Tugan-Baranowsky und P.B. Struve, die jedoch bald zum Liberalismus abschwenkten. Politischen Masseneinfluß in der Arbeiterbewegung erlangte er im Menschewismus.
 

c) Die Radikalen in der Abwehr Den Bestrebungen des Revisionismus traten bald die sog. „Radikalen“ oder „orthodoxen Marxisten“ K. Kautsky, Franz Mehring, H. Cunow, Parvus, vor allem aber Rosa Luxemburg, in der Neuen Zeit und in besonderen Streitschriften entgegen, während die Revisionisten die neugegründeten Sozialistischen Monatshefte benutzten.

Gegen die revisionistische Kritik der von Marx dargestellten Entwicklungstendenzen in der Landwirtschaft richtet sich Kautskys Agrarfrage (Stuttgart 1899), seine bedeutendste und selbständigste ökonomische Schrift, obwohl auch in dieser das Historisch-Deskriptive das rein Theoretische zurückdrängt. In seiner gegen die Kritik Bernsteins gerichteten Antikritik (Bernstein und das Sozialdemokratische Programm, Stuttgart 1899) behandelt Kautsky die Fragen der Methode, des Programms und der Taktik, insbesondere die von Bernstein umstrittenen Lehren: die Zusammenbruchstheorie, die Entwicklungstendenzen in bezug auf die Betriebsgrößen (Groß- und Kleinbetrieb), die Zunahme der Zahl der Besitzenden und des Mittelstandes, die Verelendungs- und die Krisentheorie. Kautsky sucht hier die von Bernstein behauptete Milderung der kapitalistischen Gegensätze durch philologische Deutung der Marxschen Texte und durch umfangreiche Betriebs-, Steuer- und sonstige Statistiken zu widerlegen und die These von der Verschärfung der Klassengegensätze zu verteidigen. Dabei kam er selbst dazu, wichtige Grundlagen der Marxschen Lehre zu lockern oder ganz preiszugeben. Sogar das (von Kautsky verfaßte) Erfurter Programm (1891), das den Höhepunkt der marxistischen Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie bedeutet, stellt den entscheidenden politischen Programmpunkt reichlich verschwommen dar: Der Entwicklungsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft erscheint als Ergebnis des Wirkens blinder sozialer Kräfte. Die Eroberung der Macht ist in absolutes Dunkel gehüllt. Die Diktatur des Proletariats ist nicht einmal erwähnt, wodurch die politische Seite des Marxismus geradezu enthauptet war, bis sie Lenin nach einem Vierteljahrhundert wieder rekonstruierte. Die Engelssche Kritik am Programmentwurf 1891 blieb ebenso unbeachtet und unwirksam, wie 1875 die Marxsche Kritik des Gothaer Programmentwurfes. Im Streite mit Bernstein wurde nun die Umdeutung der ursprünglichen Marxschen Lehre durch Kautsky noch verstärkt. Der Forderung Bernsteins gegenüber, die Partei solle zu einer demokratisch-sozialistischen Reformpartei werden, betonte Kautsky, daß die Sozialdemokratie „eine Partei der sozialen Revolution werden müsse“. Dabei, fügte er hinzu, handle es sich aber nicht um den Begriff der Revolution „im Sinne des bewaffneten Aufstandes“, sondern um „jede große politische Erschütterung, die das politische Leben der Nation beschleunige und aufs kraftvollste pulsieren lasse“, wobei die „außergesetzliche Gewaltanwendung“ zwar eine Episode in einer solchen Erschütterung bilden könne, aber nie die Revolution selbst sei. Daß bei dieser Umdeutung des Begriffes „politische Revolution“ sein wirklicher Inhalt – der Übergang der Macht in die Hände einer neuen Klasse – verloren ging, ist klar. Eine nicht unwichtige Rolle spielte in den damaligen Auseinandersetzungen über die Taktik das „politische Testament“ von Engels, seine berühmte, 1895 geschriebene Einleitung zu den Klassenkämpfen in Frankreich, in der er angeblich die Taktik der Arbeiterbewegung revidiert, und den Barrikadenkämpfen – der gewaltsamen Revolution – den nur gesetzlichen Kampf, den Parlamentarismus, entgegengestellt haben sollte. Wie sich 30 Jahre später, dank der Aufdeckung des richtigen Wortlautes durch Rjasanow (vgl. Internationale Presse-Korrespondenz, 1924, Nr.141), herausstellte, war die Einleitung seinerzeit vom Parteivorstand in beschnittener Fassung veröffentlicht worden, wodurch ihr Sinn wesentlich entstellt wurde.

Auch die ökonomische Seite des Marxismus hat Kautsky in wichtigen Punkten umgedeutet, indem er in den Marxschen Text eigene Auffassungen hineininterpretierte, was zunächst von der sozialistischen Öffentlichkeit nicht gebührend bemerkt worden ist, da er in der Rolle des Verteidigers der Marxschen Lehren gegen Bernstein auftrat und an der traditionellen Marxschen Terminologie festhielt. Dies gilt insbesondere von der Marxschen Zusammenbruchs- und Krisentheorie. Statt die Marxsche Zusammenbruchslehre, die Lehre von der objektiven Notwendigkeit des Unterganges des Kapitalismus, gegen die Entstellung in der revisionistischen Kritik, als ob der Zusammenbruch „automatisch“, ohne aktives Eingreifen des Proletariats, erfolgen könnte, in ihrer wirklichen Gestalt zu behaupten, leugnete Kautsky diese entscheidende Position des Marxschen Systems überhaupt und stellte die Zusammenbruchslehre als eine Bernsteinsche Erfindung hin. Gleichzeitig, und im Widerspruch dazu, lehrte er in bezug auf die Krisen, daß, während die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos sei, der äußere und innere Absatzmarkt seine Schranken habe, wodurch die „kapitalistische Produktionsweise von einem bestimmten historischen Moment an zur Unmöglichkeit werde“, da dann nicht bloß vorübergehende Krisen, sondern eine „unheilbare chronische Überproduktion“ eintreten werde als „letzte Grenze“, bis zu der das kapitalistische Regime sich überhaupt behaupten könne. Die Bedeutung dieser „äußersten Grenze der Lebensfähigkeit“ der heutigen Gesellschaft bestehe darin, daß der Sozialismus dadurch aus dem Bereich nebelhafter Vorstellungen zu einem „notwendigen Ziel praktischer Politik werde“. Daß diese unklare, widerspruchsvolle Haltung Kautskys in bezug auf wichtige Bestandteile der Marxschen Theorie unbefriedigend wirken mußte, ist klar, und dies um so mehr, als Kautsky durch seine späteren Schriften die theoretische Verwirrung noch größer machte. Während er in seiner drei Jahre später gegen die Kritik Tugan-Baranowsky gerichteten Artikelserie Krisentheorien (Neue Zeit, 20. Jahrg., 1902) gegen Tugan-Baranowskys Ansicht kämpft, daß die Krisen aus mangelnder Proportionalität der Produktion entstehen, und gegen seine Behauptung von der schrankenlosen Entfaltungsmöglichkeit des Kapitalismus ausführt, daß „die kapitalistische Produktionsweise ihre Grenzen hat, über die sie nicht hinaus kann“, machte er sich nach einem Vierteljahrhundert in der Vorrede zur Volksausgabe des II. Bandes des Kapital (Berlin 1926) die früher bekämpfte Theorie Tugan-Baranowskys von der Disproportionalität als Krisenursache vorbehaltlos zu eigen. In seinem letzten großen Werk (Materialistische Geschichtsauffassung, Berlin 1927), am Abend seines Lebens, hat Kautsky schließlich die Marxsche Lehre von der unüberschreitbaren Grenze der kapitalistischen Entwicklung fallen gelassen und sich auf den Boden der von ihm vor 25 Jahren kritisierten Theorie Tugan-Baranowskys von der schrankenlosen Entfaltungsmöglichkeit des Kapitalismus gestellt, damit sein ganzes Lebenswerk verleugnend. Daß jede Produktionsweise schließlich sich überlebe und in der Zeit ihres Niederganges zur Fessel der Produktion werde, finde auf den Kapitalismus keine Anwendung. Der industrielle Kapitalismus führe nicht zum Verfall, sondern „zu einer immer stürmischeren Entfaltung der Produktivkräfte“. Von dem Nachkriegskapitalismus behauptet Kautsky, er habe „seine Lebensfähigkeit und Anpassungsfähigkeit an die mannigfachsten, selbst verzweifeltsten Situationen in der Praxis aufs eindringlichste bezeugt und es gebe keine Argumente der ökonomischen Theorie, die seine Lebenskraft in Frage stellen könnten“. Habe er – Kautsky – vor drei Jahrzehnten mit einer chronischen Krise des Kapitalismus gerechnet, so habe sich das als falsch erwiesen. „Rein ökonomisch betrachtet, erscheint er mir heute weit lebensfähiger, als vor einem halben Jahrhundert.“

Berücksichtigt man diese spätere Entwicklung Kautskys, die im Keime schon zur Zeit seiner Auseinandersetzungen mit Bernstein, und zwar in seiner unklaren und schwankenden Haltung in wichtigen prinzipiellen Punkten der Theorie, enthalten war, so wird es begreiflich, daß es in der Kontroverse zwischen diesen beiden Theoretikern zu einer Klärung der grundlegenden Fragen der Marxschen Theorie nicht gekommen ist und nicht kommen konnte, weil beide – was damals nur von wenigen (Rosa Luxemburg) bemerkt wurde – in entscheidenden Punkten die Marxsche Lehre preisgegeben hatten und den Kampf nur um wenige wichtige Punkte, z.T. bloß um Worte führten. Wie groß auch das Verdienst Kautskys um die Popularisierung der Marxschen Ideen ist, der eigentliche revolutionäre Charakter des Marxismus ist ihm fremd geblieben. Im Kampfe Kautskys mit Bernstein ist schließlich Bernstein Sieger geblieben.

Wirkungsvoll waren noch die Argumente, die Parvus (J. Helphand), während des Weltkrieges begeisterter Sozialpatriot, in einer Reihe von Schriften gegen den Revisionismus vortrug (Die Handelskrisis und die Gewerkschaften, München 1901; Der gewerkschaftliche Kampf, Berlin 1908; Der Sozialismus und die soziale Revolution, Berlin 1910; Die Kolonialpolitik und der Zusammenbruch, Leipzig 1907).

Am eindrucksvollsten und nachhaltigsten waren die Aufsätze Rosa Luxemburgs, deren Höhepunkt nach der theoretischen Seite hin ihre Schrift Sozialreform oder Revolution bildet, die gegen Bernsteins Voraussetzungen, Leipzig 1899 erschienen ist.

Wenn Bernstein, führt Rosa Luxemburg aus, den Übergang zum Sozialismus von der fortschreitenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechtssystems, von der gesetzlichen Sozialreform erwarte, so unterlaufe ihm ein Grundirrtum in bezug auf das Wesen der kapitalistischen Klassenherrschaft. Diese beruhe – im Unterschied zu früheren Klassengesellschaften – nicht auf gesetzlich verankerten „wohlerworbenen Rechten“, sondern auf tatsächlichen wirtschaftlichen Kräften. „Man wird in unserem ganzen Rechtssystem keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaft finden.“ „Der Proletarier wird durch kein Gesetz gezwungen, sich in das Joch des Kapitals zu spannen, sondern durch die Not, durch den Mangel an Produktionsmitteln“, die ihm nicht durch Gesetz, sondern durch die ökonomische Entwicklung genommen sind. Deshalb könne auch die Ausbeutung der Arbeiterklasse als ein ökonomischer Prozeß nicht durch gesetzliche Bestimmungen – im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft – abgeschafft oder gemildert werden. Die „Sozialreform“, die Fabrikgesetze, Arbeiterschutz, bedeuten nicht ein Stück „gesellschaftlicher Kontrolle“ des Arbeitsprozesses im Interesse der Arbeiterklasse, sie bilden „nicht einen Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung, sondern eine Normierung, Ordnung dieser Ausbeutung“ im Interesse der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Tatsächlich laufe die Entwicklung auf eine Verschärfung und Zuspitzung der Gegensätze im Kapitalismus hin. Der Kredit, die Unternehmerverbände und andere angeblich zur Überwindung dieser Gegensätze und zur Regulierung der Produktion dienende Mittel sind nur vom Standpunkt der einzelnen Kapitalisten geeignet, ihre unzureichenden Mittel den Anforderungen des Marktes anzupassen, die sinkende Profitrate des kartellierten Industriezweiges auf Kosten der anderen zu heben. Ausgedehnt auf alle wichtigeren Produktionszweige heben die Kartelle ihre Wirkung selbst auf. Vom Standpunkt der Wirtschaft im ganzen trägt der Kredit dazu bei, die Produktion über die Grenzen des Absatzes zu steigern und die waghalsigsten Spekulationen zu fördern. Unternehmerverbände und Kredit, weit entfernt, Mittel der Milderung der Gegensätze im Kapitalismus zu sein, sind im Gegenteil mächtige, die Krisen verschärfende und fördernde Faktoren und müssen dessen Untergang beschleunigen. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft – sagt R. Luxemburg, nicht nur gegen Bernstein, sondern offenbar auch gegen Kautsky – ist ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus, denn die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung stütze sich „vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht“. Nimmt man jedoch die progressive Milderung der Gegensätze an, nimmt man an, daß „die kapitalistische Entwicklung nicht in der Richtung zum eigenen Untergang gehe, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein“. Dann ist seine Begründung nur durch „reine Erkenntnis“, also eine „idealistische Begründung“, möglich, „während die objektive Notwendigkeit, d.h. die Begründung durch den Gang der materiellen gesellschaftlichen Entwicklung, dahinfällt“.

Mit gleichem Scharfsinn entwickelt R. Luxemburg auch ihren taktischen Hauptgedanken über den Klassenkampf. Auch der radikale Marxismus wolle ebenso wie der Reformismus die sozialreformerische Alltagsarbeit, das taktische Gerichtetsein auf Gegenwartsfragen: den gewerkschaftlichen Lohnkampf, den Kampf um die Sozialreform und um die Demokratisierung der politischen Einrichtungen. „Der Unterschied liege nicht in dem Was, sondern in dem Wie.“ Weil der Reformismus von der Unmöglichkeit der politischen Machtergreifung als Voraussetzung ausgehe, wolle er durch den „gewerkschaftlichen und politischen Kampf die kapitalistische Ausbeutung selbst stufenweise einschränken, der kapitalistischen Gesellschaft immer mehr ihren kapitalistischen Charakter nehmen und den sozialistischen aufprägen, mit einem Worte, die sozialistische Umwälzung in objektivem Sinne herbeiführen“. Dem Marxismus dagegen bedeute der gewerkschaftliche und politische Kampf nur die notwendige Vorbereitung des subjektiven Faktors der sozialistischen Umwälzung – der Arbeiterklasse – für den revolutionären Entscheidungskampf, indem sie die Arbeiter erst „als Klasse organisieren“ und die Herausbildung der Erkenntnis, des einheitlichen proletarischen Klassenbewußtseins bewirken. Der sozialistische Umschlag komme nicht von selbst, indem man ihn fatalistisch abwartet. Er ergebe sich vielmehr als Konsequenz der im alltäglichen Kampf der Arbeiterklasse gewonnenen Erkenntnis von der Unerläßlichkeit der Aufhebung der sich objektiv zuspitzenden Widersprüche des Kaptialismus durch eine soziale Umwälzung. So sind bei R. Luxemburg, wie später bei Lenin, die Reformen nur Nebenprodukte des auf die Revolution hingerichteten Klassenkampfes. Der Revisionismus dagegen verselbständige die Alltagsarbeit gegenüber der sozialistischen Endzielsetzung, er trenne die Reform von der Revolution und indem er die Bewegung zum Selbstzweck erhebe, verändere er ihren eigenen Charakter: sie ist nicht mehr Mittel, um jenes Ziel – die soziale Umwälzung – zu erreichen, sondern ist an Stelle dieser Umwälzung selbst zum Ziele geworden. Diese undialektische Einstellung sehe nur die sich ausschließenden Gegensätze: Entweder-Oder, Reform oder Revolution, nicht aber die Einordnung dieser Gegensätze in die Gesamtheit des gesellschaftlichen Prozesses.

Wie wir sehen, wird erst durch diese Ausführungen die im Erfurter Programm versäumte Begriffsbestimmung des „Endziels“ gegeben. Unter „Endziel“ versteht R. Luxemburg nicht das Ideal des erst nach der sozialistischen Umwälzung aufzurichtenden Zukunftsstaates, sondern die Eroberung der politischen Macht, die Revolution selbst. Begreift man unter „Endziel“ den Zukunftsstaat, dann kann man jede demokratische oder ökonomische Errungenschaft als einen Schritt auf diesem Wege zu diesem Ziel hin betrachten. Faßt man aber als Endziel die Eroberung der politischen Macht durch die Revolution auf, so wird damit eine scharfe Grenze gezogen gegenüber dem Reformismus, der an Stelle der strategischen Aufgabe der Erziehung zur Revolution die opportunistische Gegenwartsarbeit oder die Propagierung eines mehr oder weniger verschwommenen und fatalistisch abgewarteten Endziels setzt. Obwohl also die Ergreifung der Staatsgewalt vom objektiven Gang der materiellen gesellschaftlichen Entwicklung abhängt und „einen bestimmten Reifegrad der ökonomisch-politischen Verhältnisse voraussetzt“, weist der Marxismus in der Deutung R. Luxemburgs durch die Ausrichtung der Gegenwartsarbeit auf das revolutionäre Endziel dem politischen Aktivismus der Arbeiterklasse die entscheidende Rolle zu und grenzt sich so sowohl vom Fatalismus als auch vom reinen Voluntarismus scharf ab.

In bezug auf die Schicksale des Streites zwischen Reformisten und Radikalen verweisen wir auf den Artikel „Internationale“. Der Reformismus, geschlagen in allen theoretischen Gefechten, verurteilt durch Resolutionen der Parteitage und internationalen Kongresse, immer von neuem durch die im Laufe der tatsächlichen Entwicklung sich durchsetzende Verschärfung der Klassengegensätze widerlegt, machte – aus dem Boden einer Arbeiteraristokratie erwachsend – trotz allem in der täglichen Praxis der Arbeiterbewegung Westeuropas seinen Siegeszug. Die wachsende Kraft des Marxismus aber bewies sich darin, daß er von allen sozialistischen Richtungen, die in allen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet waren – St. Simonismus, Proudhonismus, später Blanquismus usw. –, allein die Massen geistig beherrschte, und daß der Reformismus, um die Massen gewinnen zu können, unter Marxscher Flagge segeln mußte.
 

d) Der Reformismus in marxistischer Verhüllung. (Die Neo-Harmoniker) Hier ist vor allem der „Austromarxismus“, eine Gruppe von Wiener Intellektuellen: R. Hilferding, Otto Bauer, Max Adler, G. Eckstein und Karl Renner, zu nennen, die um die damals neu gegründete wissenschaftliche Revue Der Kampf (seit 1908) gruppiert, für die reformistische Praxis theoretische Formulierungen zu geben versuchten. Das wichtigste Buch dieser Richtung, das die spätere theoretische Entwicklung stark beeinflußte, ist R. Hilferdings Das Finanzkapital (Wien 1910). Man muß in ihm zwei Bestandteile unterscheiden. Einerseits ist Hilferding bestrebt, die neuesten Erscheinungen des Wirtschaftslebens – Trusts, Kartelle, Kapitalexport, imperialistische Expansionsbestrebungen –, kurz den Monopolkapitalismus, der an Stelle des konkurrenzbedingten Kapitalismus getreten ist, in das System der Marxschen Ökonomie einzubauen. Andererseits bemüht sich Hilferding, im Anschluß an die Krisenlehre Tugan-Baranowskys, unter Leugnung der Marxschen Zusammenbruchslehre die Marxsche Krisentheorie im harmonistischen Sinne einer schrankenlosen Entfaltungsmöglichkeit des Kapitalismus umzudeuten. Die alte, von Marx stets bekämpfte Lehre J.B. Says erneuernd, daß eine primär allgemeine Überproduktion unmöglich sei, weil die einzelnen Produktionssphären für sich gegenseitig den Absatzmarkt schaffen, gelangt Hilferding zum Schluß, daß die Krisen nicht notwendig mit dem Wesen des Kapitalismus verknüpft seien. Sie entsprängen lediglich aus der Disproportion im Wachstum einzelner Sphären, also „nur aus einer ungeregelten Produktion“. Erfolge die Kapitalverteilung auf einzelne Industriezweige proportional, dann bestehe keine Schranke der Produktion, dann „könne die Produktion ins Unendliche ausgedehnt werden, ohne zur Überproduktion von Waren zu führen“, kurz: auch auf kapitalistischer Basis könne die Produktion geregelt, könnten die Krisen vermieden werden.

Die Grundlage des Werkes bildet Hilferdings Geld- und Kredittheorie, in der er von der Marxschen Geldlehre abrückt und sie im Sinne von Knapps „Chartalismus“ umbiegt. Freilich muß Hilferding zu diesem Zweck für die Geldware die allgemeine Gültigkeit des Marxschen Wertgesetzes durchbrechen, was, wie K. Kautsky zutreffend feststellte, „marxistischen Selbstmord“ bedeutet. Auf der Grundlage dieser Geldtheorie wird dann die Theorie des Finanzkapitals aufgebaut. Das Charakteristische der neuesten Entwicklung sei die herrschende Rolle des Bankkapitals gegenüber der Industrie. Mit der kapitalistischen Entwicklung wächst beständig die Summe des Geldes, das von den nichtproduktiven Klassen den Banken und durch diese den Industriellen zur Verfügung gestellt wird, also die Rolle des Bankkapitals in Geldform, das in industrielles Kapital verwandelt wird. Eine besondere Rolle fällt hier der Unternehmungsform der Aktiengesellschaft zu; mit der Aktie entsteht das sog. fiktive Kapital, das, losgelöst von dem in den Betrieben füngierenden produktiven Kapital, den Banken schnelle Eigentumskonzentration ermöglicht, die unabhängig von der Betriebskonzentration vor sich geht und durch die Börsenspekulation und Akkumulation des Gründergewinnes durch die Banken beschleunigt wird. Durch diese „Mobilisierung des Kapitals“ wird ein immer wachsender Teil des Kapitals in der Industrie zum Finanzkapital, d.h. gehört nicht den damit arbeitenden Industriellen. Die Verfügung über das in der Industrie angelegte Kapital falle immer mehr den Banken zu. „Sie werden die Gründer und schließlich die Beherrscher der Industrie.“ Die Tendenz zur Konzentration des Bankwesens, zur fortschreitenden Ausschaltung der Konkurrenz unter den Banken, „würde in letzter Instanz dazu führen, daß eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche Zentralbank würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben“.

Eine parallele Zusammenschlußtendenz wirke auch in der Produktion. In einem Abschnitt über Geschichtliche Tendenz des Finanzkapitals – der wohl ein Gegenstück zum berühmten Marxschen Kapitel über Geschichtliche Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation darstellen soll – wird von Hilferding der Verlauf der geschichtlichen Entwicklung ganz anders als bei Marx dargestellt. Hatte dieser die Grenzen der kapitalistischen Akkumulation aufgezeigt, die schließlich auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung im dialektischen Umschlag zur „Expropriation der Expropriateure“ führt, will Hilferding ein friedliches und allmähliches Hineinwachsen des Kapitalismus in die geregelte Wirtschaft zeigen. Die zwecks Erhöhung der Preise und Profite durchgeführte Kartellierung der Industrien senke die Profitrate in den nichtkartellierten Industrien, verschärfe in ihnen die Konkurrenz und damit die Konzentrationstendenz, was zur Weiterkartellierung auch dieser Industrien führe. So entstehe eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung. Als Resultat dieser Konzentrationsbewegung, als ihr ideeller, theoretischer Endpunkt ergäbe sich die lückenlose Kartellierung aller Industriezweige nicht bloß der nationalen, sondern auch der Weltwirtschaft, ein Universal- oder „Generalkartell“, das die ganze kapitalistische Produktion in allen ihren Sphären bewußt regele, die Preise festsetze und ebenso die Verteilung der Produkte vornehme. Die mit der fortschreitenden Konzentrationsbewegung der Industrie sich durchsetzende Steigerung der Planmäßigkeit der Produktion – der „organisierte Kapitalismus“ – erreiche schließlich im Generalkartell ihre höchste Entfaltung: die Anarchie der Produktion verschwinde, die Krisen würden ausgeschaltet und durch die vom Generalkartell „geregelte“ Produktion – wenn auch noch auf Basis der Lohnarbeit – ersetzt. „Die Tendenz zur Herstellung eines Generalkartells und die Tendenz zur Bildung einer Zentralbank treffen zusammen“, wodurch ein friedlicher, schmerzloser Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus möglich würde. „Diese vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle gebracht hat, genügt es, wenn die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den vom Proletariat eroberten Staat, sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort die Verfügung über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten.“ „Die Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrien bedeuten.“

Nach dem Kriege (1927) erklärte Hilferding, er habe immer „jede ökonomische Zusammenbruchstheorie abgelehnt“, auch Marx habe sie als falsch betrachtet. Der Sturz des kapitalistischen Systems werde „nicht aus inneren Gesetzen dieses Systems eintreten, sondern müsse „die bewußte Tat des Willens der Arbeiterklasse sein“.

Auch die übrigen Neo-Harmoniker wie Otto Bauer (Die Akkumulation des Kapitals, in Neue Zeit, 31. Jahrgang, 1913), K. Kautsky in der Nachkriegszeit leiten die Krisen lediglich von der Disproportionalität der Kapitalverteilung auf einzelne Industriezweige ab, betrachten die Krisen bei geregelter Kapitalverteilung als auch im Kapitalismus vermeidbar und die schrankenlose Entfaltung des Kapitalismus für möglich. Die harmonistische Deutung der Marxschen Krisenlehre durch O. Bauer erhält eine spezifische Färbung dadurch, daß nach ihm der kapitalistische Mechanismus diese proportioneile Kapitalverteilung – wenn auch durch Vermittlung periodischer Krisen – selbsttätig durchführe, „daß der Mechanismus der kapitalistischen Produktion selbsttätig Überakkumulation und Unterakkumulation aufhebe“. Hatte Marx für den Kapitalismus die Notwendigkeit des progressiven Wachstums der industriellen Reservearmee behauptet, versucht Bauer das Gegenteil zu beweisen: „In der kapitalistischen Produktionsweise besteht die Tendenz zur Anpassung der Akkumulation des Kapitals an das Wachstum der Bevölkerung.“
 

C) Der Wiederaufstieg des revolutionären Marxismus

a) Verfall des theoretischen Reformismus Der Reformismus war, wie schon vorher gezeigt, das Ergebnis der relativ friedlichen Periode der kapitalistischen Entwicklung von 1872-94. Die Marxsche revolutionäre Theorie, selbst Produkt der revolutionären Periode von 1848, schien auf diese friedliche Periode nicht mehr zu passen. Der vom Reformismus unternommene Versuch, den Marxismus seines revolutionären Charakters zu entkleiden, um ihn so an die reformistische Praxis der friedlichen Aufbauarbeit anzupassen, war in der Theorie schließlich doch zum Scheitern verurteilt, als die wirtschaftliche Entwicklung am Ende des vorigen Jahrhunderts abermals eine entscheidende Wandlung erfuhr, die die ganze Fragwürdigkeit auch der „Praxis der friedlichen Aufbauarbeit“ aufwies:

Die imperialistische Expansionspolitik, die in den fortgeschrittensten Ländern vorübergehend in der Lage war, der Oberschicht der Arbeiterklasse manche Vorteile zu sichern, führte um die Jahrhundertwende zur Verschärfung aller Gegensätze sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik. Es begann die imperialistische Ära der gesteigerten Kolonialpolitik, der fieberhaften militärischen und maritimen Kriegsrüstungen, schließlich der kriegerischen Kollisionen, die zum Ausbruche der Weltkriege führten.

Mit den wachsenden außenpolitischen Spannungen ging in allen kapitalistischen Ländern eine Verschärfung der inneren Klassengegensätze parallel. Die großen Fortschritte der sozialistischen Arbeiterbewegung beschleunigten den Prozeß des Zusammenschlusses der Unternehmer zu mächtigen Kampfverbänden, welche die Arbeiter in allen Wirtschaftskämpfen in die Defensive drängten. Kautsky wies 1908 nach, daß „die Faktoren, die eine Hebung des Reallohns in den letzten Jahrzehnten hervorriefen, alle bereits im Rückgang begriffen“ waren. Die Periode des wachsenden Reallohns wurde abgelöst durch die der sinkenden Löhne, und zwar nicht bloß für die Zeiten vorübergehender Depression, „sondern sogar für die Zeiten der Prosperität“. Die Tatsache der Verschlechterung der Lebenslage der Arbeiterklasse ist für diese Periode durch private und öffentliche Untersuchungen für eine Reihe hochkapitalistischer Länder (Amerika, Deutschland) nachgewiesen worden. Auch der staatliche Arbeiterschutz kam unter dem Druck der Unternehmerverbände überall zum Stillstand. Die alten Kampethoden der Gewerkschaften erwiesen sich demgegenüber mehr und mehr als unzureichend. Die Zeit des isolierten Streiks im einzelnen Betriebe war vorbei. Die Entwicklung trieb zu großen wirtschaftlichen Massenkämpfen in ganzen Industriezweigen eines Landes. Andererseits wurde das Bürgertum schutzzöllnerisch und reaktionär. Der politische Liberalismus begann abzusterben. Von einem weiteren Ausbau der Demokratie – früher durch ein gewisses Zusammenwirken von liberaler Bourgeoisie und Arbeiterklasse gefördert – konnte keine Rede mehr sein. Verstärkt und beschleunigt wurde diese ganze Entwicklung noch unter dem Eindruck der russischen Revolution von 1905. Die vom Reformismus vorausgesagte Entwicklung einer fortschreitenden Besserung der Lage der Arbeiterklasse und der Abschwächung der Klassenkämpfe trat also in der Wirklichkeit nicht ein. Diese brachte vielmehr eine Verschärfung der Klassenkämpfe. Hatte sich so gezeigt, daß die alten gewerkschaftlichen und parlamentarischen Methoden nicht im Stande waren, weitere Vorteile für die Arbeiterklasse zu erringen, so sah sich die Arbeiterklasse gezwungen, nach neuen Kampf methoden, die dem steigenden wirtschaftlichen und politischen Druck der Bourgeoisie entsprachen, Umschau zu halten. Dies war der Sinn der Diskussion über den politischen Massenstreik.

Unter solchen Umständen, in der Ära des kriegerischen Imperialismus und der kolonialen Expansion sowie einer reaktionären Politik im Inneren, war der Reformismus älteren Stils typisches Produkt des Epigonentums: Wiederholung von Gedankengängen älterer Zeit, die in diametralem Gegensatz zur Wirklichkeit standen. Als Beispiel dieser verflachenden Popularisierung des Sozialismus, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts überall in der Arbeiterbewegung ausbreitete und trotz marxistischer Phraseologie vom eigentlichen Gehalt des Marxschen Sozialismus nichts beibehielt, sei das Buch des jetzigen Führers der amerikanischen „Socialist Party“, Morris Hillquit (Socialism in theory and practice) erwähnt. Im Kapitel Der Sozialismus und der Staat setzt Hillquit sich mit etwa 2 Dutzend Definitionen des Staates auseinander, angefangen bei Aristoteles und Cicero über Turgot und Bentham bis zu Leroy-Beaulieu und Anton Menger, nach welchen der Staat die organisierte Menschheit eines gegebenen Territoriums darstellt. Diesen als fehlerhaft bezeichneten Definitionen stellt Hillquit sodann die „völlig korrekte“ „sozialistische Definition des Staates“ nach Marx und Engels entgegen und zeigt, daß der „Staat als Produkt von Klassenkämpfen“ gleichzeitig mit der Institution des Privateigentums entstanden und „zu allen Zeiten das Instrument der besitzenden Klassen gewesen ist“ und „als Organisation der herrschenden Klasse ... zur Erhaltung der ausgebeuteten Klassen in einem Abhängigkeitszustande“ bestimmt ist. Aber aus dieser „völlig korrekten“ Definition zieht Hillquit keine Konsequenzen für die Politik der Arbeiterklasse. Mit Bezug auf den „heutigen“ „modernen Staat“ läßt Hillquit doch die bürgerliche Definition des Staates gelten und behauptet, daß dieser „durch die aufsteigende Lohnarbeiterklasse“ „tiefe Einschnitte in seine Substanz und seine Funktionen“ erfahren habe. „Unter dem Druck der Arbeiterbewegung hat der Staat als ein Instrument sozialer und ökonomischer Reformen eine neue Bedeutung erlangt“. „Der Staat, der ausschließlich als Instrument zur Klassenunterdrückung ins Dasein trat, hat allmählich und speziell innerhalb der letzten Jahrhunderte, andere bedeutende soziale Funktionen übernommen, in denen er großenteils die Gesellschaft als ein Ganzes und nicht irgendeine besondere Klasse derselben repräsentiert“. Seine Ausbeutungsfunktionen im Interesse der herrschenden Klassen werden immer mehr „gezügelt“, dagegen beanspruchen seine „allgemein nützlichen“ Funktionen seine Auerksamkeit immer mehr, weil er „die Arbeiter gegen übermäßige Ausbeutung“ schützt und so „nun allmählich zur Anerkennung seitens der Arbeiter als ein höchst wirksames Instrument zur Modifizierung und schließlichen Abschaffung der kapitalistischen Klassenherrschaft gelangt“. Die herrschende Kapitalistenklasse wird zwar nie freiwillig auf ihren Besitz und die sich daraus ergebende Vormachtstellung verzichten. Daraus folgert Hillquit aber nicht etwa, daß man sie ökonomisch wie politisch expropriieren muß, vielmehr meint er, daß der Umgestaltungsprozeß allmählich „durch eine Reihe ökonomischer und sozialer Reformen und durch legislative Maßregeln“ zustande kommen wird, „die dahin zielen, die herrschende Klasse Schritt für Schritt ihrer Monopole, Privilegien und Vorteile zu entkleiden“. Gewalt brauche dabei nicht angewendet zu werden. Diese wäre „nur ein zufälliges Ereignis der sozialen Revolution ... Im sozialistischen Programm wird die Gewalt nicht erwähnt“. Durch diese Reformen gelangt man in die „Übergangsperiode“, in der der Staat, obwohl noch nicht sozialistisch, nicht mehr ein Organ der Kapitalistenklasse, vielmehr eben ein „Übergangsstaat“ sei. Eine „feste Demarkationslinie“, wo er beginnt und wo er endet, könne nicht angegeben werden, aber heute „gibt es bereits eine Anzahl von Munizipalitäten und einzelne Staaten, die teilweise oder ganz unter sozialistischer Kontrolle stehen.“ Viele der politischen oder sozialen „Übergangsreformen“ des Sozialismus sind bis zu einem gewissen Grade in den Ländern von Europa, Amerika und Australien bereits verwirklicht und die „zugestandene Tendenz“ aller modernen Gesetzgebung ist auf die Ausdehnung solcher Reformen gerichtet. In diesem Sinne „darf man wohl sagen, daß wir uns in der Mitte oder auf jeden Fall am Anfang des sozialistischen ›Übergangsstaates‹ befinden“. – Sinngemäß empfiehlt Hillquit der Arbeiterklasse eine Taktik, die, „ohne das Prinzip des Klassenkampfes zu verletzen“, sich lediglich auf die „Wahltaktik“ und die „positive parlamentarische Betätigung“ zu beschränken hat.

Waren in der Ära des kriegerischen Imperialismus schon in der Vorkriegszeit solche Theorien stark utopisch, so verloren sie nach Ausbruch des Weltkrieges vollends jeden Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Sollte der theoretische Reformismus an diesem Gegensatz zur Wirklichkeit nicht Schiffbruch erleiden, so war er gezwungen, seine Anpassung an diese zu vollbringen. Die Korrektur war, rein logisch betrachtet, auf zwei Wegen möglich: vom proletarischen Standpunkt gesehen durch Rückkehr zum revolutionären Marxismus. Der Reformismus wählte in konsequenter Fortentwicklung seines Wesens den anderen Weg und stellte sich restlos auf den Boden der bürgerlichen Gesellschaft und des kapitalistischen Staates. Diese Konsequenz – im Keime schon im Buche Hilferdings enthalten – zog während des Weltkrieges in aller Deutlichkeit K. Renner in seinen im Wiener Kampf und in der Arbeiterzeitung veröffentlichten Aufsätzen (in Buchform erschienen: Marxismus, Krieg und Internationale, Stuttgart 1917). Indem er auf den Ergebnissen des Hilferdingschen Buches weiterbaut, will er die Umwälzung darstellen, die seit dem Tode von Marx im sozialen Gefüge der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft, im gegenseitigen Verhältnis der Klassen, im Charakter des Eigentums und in den äußeren Beziehungen der Wirtschaftsgebiete, schließlich auch in den Aufgaben des Proletariats von heute eingetreten sind. Obwohl er auf allen diesen Gebieten andere Entwicklungstendenzen als Marx feststellt, obwohl er sämtliche grundlegenden Bestandteile des Marxschen Lehrgebäudes preisgibt, schließlich auch andere Ziele und Aufgaben der Arbeiterbewegung aufzeigt als Marx, verzichtet er nicht auf die marxistische Verhüllung seiner Theorie, beansprucht vielmehr für sich, als Verfechter des eigentlichen Marxismus zu gelten, der gegen die „reaktionäre Verbildung Marxschen Denkens“, gegen die „vulgäre Richtung des Marxismus“, gegen die „Verknöcherung und Versimpelung der (Marxschen) Klassenkampflehre“ kämpft. Nicht er, sondern die angeblichen Marxisten hätten die Lehre des Meisters entstellt. In der kurzen Zeit seit Marx’ Wirken habe sich das Klassenverhältnis oftmals, „beinahe je anderthalb Jahrzehnte“, völlig umgewälzt. Statt die alten „Katechismussätze“ des Marxschen Systems als „Altware“ mitzuschleppen, sei es notwendig, auf allen Gebieten das theoretische Gepäck zu revidieren. Sein Buch solle eben eine „marxistische Durchprüfung“ des neuen Stoffes der gesellschaftlichen Entwicklung“, ein Entwurf eines „Studienprogramms für Marxisten“ sein.

Die ganze Schaffenszeit von Marx fällt, so führt Renner aus, in die liberale Gesellschaftsepoche mit ihrer individualistisch-anarchistischen Wirtschaftsweise, für die die Staatsmacht ein Schreckgespenst gewesen sei. Diese Epoche habe Marx erforscht und im Kapital beschrieben. Um ihre Gesetze in ihrer reinen logischen Form aufzudecken, mußte begrifflich jeder Staatseingriff ausgeschaltet werden. Diese „kapitalistische Gesellschaft, wie sie Marx erlebt und beschrieben hat, besteht nicht mehr so“, was die Marxisten bisher übersehen hätten. Der wesentliche Zug der grundwandelnden Änderungen in der Struktur der Gesellschaft, die sich von 1878 bis 1914 vollzogen hätten, bestehe in der „Durchstaatlichung“ der früher staatslosen Ökonomie, also gerade darin, „was Karl Marx’ System logisch und praktisch ausgeschlossen hat“, was Marx nicht erlebt und nicht beschrieben habe. Aus dieser Durchstaatlichung ergäben sich wichtige Folgerungen, denn „die Ökonomie dient immer ausschließlicher der Kapitalistenklasse, der Staat immer vorwiegender dem Proletariat“. Deshalb sei der Staat das Werkzeug, mit dessen Hilfe der geschichtliche Umschlag vom Kapitalismus zum Sozialismus sich vollziehe. Aber es sei eine „Wahnvorstellung“, daß die Eroberung der politischen Gewalt durch das Proletariat sich durch ein plötzliches Umschlagen des Systems, durch einen politischen Handstreich, vollziehen werde oder könne. Das seien Vorstellungen, die aus der politischen Geschichte des Bürgertums in die sozialistische Gedankenwelt eingeschmuggelt worden wären. Der Staat werde vielmehr im täglichen Kampfe Schritt für Schritt erobert. Seine Wandlung vollziehe sich durch die allmähliche Sozialisierung aller ökonomischen Funktionen. Marx sei weit von der Verachtung und der Negation des Staates, von dem „Staatsnihilismus“ entfernt gewesen, „mit dem heute der Vulgärmarxismus kokettiert“. Durch den Staat erführen alle ökonomischen Kategorien grundlegende Wandlungen. Der Konkurrenzpreis der Privatwirtschaft wandele sich zum Kartellpreis, schließlich in der Hochschutzperiode und unter dem Staatseinfluß entwickele sich der Tarifpreis zum nationalen Preis, dessen Art und Maß von Staat zu Staat verschieden sei. „Nur ein Schritt weiter ist es, wenn das Staatsgesetz direkt den Preis vorschreibt“: „Taxpreis“ oder „politischer Preis“. „Solche Preissätze zu erklären reicht die Ökonomie nicht aus“ – überall sei „die Abweichung von der Naturgesetzlichkeit der Ökonomie“ durch den Prozeß der Durchstaatlichung festzustellen. „Ein außerökonomisches Gesetz hat sich über das ökonomische Grundgesetz gelagert.“ Und das sei nun „das neue Problem des Marxismus“, indem ins System automatischer Warenzirkulation schon heute absichtliche Güterzuwendung sich mischt, die ja ausschließliche Zirkulationsweise einer sozialistischen Gesellschaft“ sei.

Dasselbe, was vom Warenpreise gelte, gelte von der Kategorie des Lohnes. Das Lohnsystem werde durch den Staat grundlegend umgestaltet. Heute schon zerfalle der Arbeitslohn in Individual- und Kollektivlohn. Durch die Zwangsbeiträge der Arbeiter und Unternehmer zur Kranken-, Unfall- und Altersversicherung sozialisiere der Staat das variable, d.h. das Lohnkapital, nachdem es individuell gezahlt worden sei. Im Grunde tue das der Staat schon längst bei gewissen öffentlichen Abgaben, die zur Erhaltung und Erneuerung der Arbeiterklasse beitrügen, wie z.B. für die Volksschule. „Die Klasse empfängt demnach ihren Arbeitslohn heute zum Teil schon kollektiv.“ „Die Entwicklung geht dahin, einen immer größeren Teil des Lohnes zu kollektivieren“. Der Arbeiter werde in steigendem Maße Subjekt und Objekt „öffentlicher Anstalten“. „Der Sozialisierungsprozeß fügt ihn dem Staate als Glied ein.“

Dieser „Sozialisierungsprozeß des Arbeitslohnes“ sei von den Marxisten noch nicht analysiert worden. Aber auch in dem individuellen Bestandteil des Lohnes träten große Wandlungen ein. Der Einzellohn werde durch den Gewerkschaftslohn, schließlich durch den Tariflohn, ersetzt. „Diese Einrichtungen ... verwandeln den Arbeiter aus einem Hörigen zum ökonomischen Bürger. Der Sprung vom freien Lohnvertrag zum Tarifsystem mißt gleich weit wie der von der Gutsuntertänigkeit und Patrimonialgerichtsbarkeit zum bürgerlichen Gericht.“ Aber auch der Tariflohn sei noch nicht der höchste Punkt der Entwicklung. Kapitalistische Riesenbetriebe schüfen für ihre Angestellten und einen Teil ihrer Arbeiter Dienstpragmatiken mit einer Lohnskala, die auf das ganze Leben einschließlich des Ablebens berechnet ist“ – kurz, Entlohnungsformen, die Renner „pragmatischen Lohn“ nennt. „Von ihm führt nur ein Schritt zur direkt staatlichen Lohnfestsetzung, zur Lohntaxe.“ Durch diese Durchstaatlichung „befinden sich heute die arbeitenden Klassen sozial in einer anderen Lage als zur Zeit von Marx“. Das Eigentum werde zur „öffentlichen Anstalt“, die Arbeit zur „öffentlichen Stelle“, es sei eine „Umschichtung der Klassen“ eingetreten. Die vorherrschende Bereicherungsform der heutigen Gesellschaft sei nicht mehr der Industriealismus. Nicht mehr der Fabrikant alten Stiles stehe am Gegenpol des Proletariats, sondern die herrschenden Mächte innerhalb der Kapitalistenklasse seien der Agrarismus und das Finanzkapital geworden. Es erfolge eine Umwälzung in der ökonomischen Funktion des Grundeigentums. Während in der Landwirtschaft an sich der Prozeß der Durchstaatlichung und Sozialisierung weit fortgeschritten sei, sei das Grundeigentum – ökonomisch als Grundrente erfaßt – immer parasitärer geworden. Die Grundrentenfrage würde in den nächsten Jahrfünften die soziale Hauptfrage werden.

Gewaltige Wandlungen habe auch das Leihkapital durchgemacht. Das Leihkapital älteren Stils sei Wucher gewesen, eine bloß parasitäre ökonomische Funktion. Dieser Wucher sei jedoch besiegt. Das „Kreditkapital“ neuen Stils sei nicht parasitär und werde „auch allgemein als Segen empfunden“.

Der Zweck der willkürlichen Konstruktionen Renners, die nicht sämtlich hier aufgezählt werden können, besteht in der Rechtfertigung der Schlußfolgerungen, zu denen er gelangt: die Arbeiterklasse müsse den heutigen Staat bejahen und durch die „Politik der wechselnden Allianzen“ mit einzelnen bürgerlichen Klassen sich mühsam Stufe für Stufe emporarbeiten und sich „geistig der bürgerlichen Gesellschaft bemächtigen“, sich überall auf den Boden des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft stellen. Solche Bündnispolitik sei „nicht Verwischung des Klassenprinzips, sondern dessen Erfüllung“. Indem jedoch das Proletariat den Staat bejahe, müsse es auch die staatliche Politik bejahen. Es gebe keine „amorphe Internationalität“, sondern die Internationalität werde erst das Ergebnis des Wirkens nationalstaatlicher Gruppierungen sein, die das „spezifisch Neue“ unserer Zeit seien. „Das Kapital (sei) nicht international, sondern national.“ „Das staatlich organisierte Nationalkapital ist der wirkende Agent auf der Tribüne der Welt geworden.“ Die Kategorien von Marx seien universal, die Marxisten gingen von der Vorstellung der staatslosen Weltökonomie aus, aber diese sei vorläufig noch keine staatliche Einheit, vorläufig sei die Entwicklung bei der Stufe der nationalpolitischen Staatsgebiete angelangt. Daher gebe es auch kein „Weltproletariat“, das nur eine „mystische Einheit“ sei, während in Wirklichkeit nur nationale Proletariate innerhalb der staatlichen Gebiete existierten. Die Weltwirtschaft sei erst im Entstehen, gefördert durch die Tendenz der einzelnen Staaten zur Ausbreitung ihrer Wirtschaftsgebiete. Sonderstaatlich gesehen erscheinen die Expansionstendenzen als Kolonialpolitik und koloniale Ausbeutung, Herrschaft und Knechtschaft. Aber dieser „sittenrichterliche Standpunkt liege tief unter der Marxschen Denkweise“, denn hinter diesen „kolonialpolitischen Tagesbeschwerden“ dürfe man das „säkular Große der ökonomisierung der Welt“ nicht übersehen.

„In solcher Art Gegner des Kolonialsystems sein, heiße Gegner der Weltgeschichte sein.“ Solange der Kapitalismus in der Ökonomie und das anarchische Nebeneinander der Staaten in der Politik bestünden, seien Kriege unvermeidlich, denn die Konkurrenzkämpfe der Wirtschaftsgebiete vollzögen sich auf zwei Wegen: friedlich auf dem Wege der Vereinbarung, der staatlichen Handelspolitik, und kriegerisch auf dem Wege der Eroberung. Der imperialistische Krieg sei nicht ethisch zu verurteilen, sondern als Tatsache, ebenso wie die Handelspolitik, hinzunehmen. Er sei nichts anderes als ein Umschlagen des „Wettbewerbes der Preise in den Wettbewerb der Waffen“. Höchstens sei auf die „Zivilisierung des Krieges“ und auf den völkerrechtlichen Ausbau der Organisation der Welt zu einem „Friedensbund der Völker“ hinzuwirken. Solange aber eine solche „künftige überstaatliche Organisation der Welt“ noch nicht vollendet sei, blieben „Kriege möglich und unter Umständen notwendig“, denn es gehe um die Existenz des Staates und seiner Wirtschaft. Da die gewerkschaftliche Arbeit in ihren Kampethoden „auf dem Boden dieser kapitalistischen Ordnung“ stehe, müsse sie sich zu den Kämpfen positiv verhalten. Keine Gewerkschaft wünsche die Zerstörung der Industrie. „Existenz, Bestand und Zukunft des Kapitals“ berührten auch die Arbeiterklasse positiv. „In kriegerischen Zeiten kämpft das Proletariat mit auch um dessen Bestand.“ Sei der Krieg einmal da, müsse das Proletariat auch den Weg des Krieges gehen: auch dieser Weg „ist ein Weg der Geschichte“, und „da das Proletariat sich von der Geschichte nicht absentieren kann, muß es den Weg mitgehen“. Im Augenblick des Kriegsausbruches gebe es keine andere Möglichkeit des Verhaltens als den „Anschluß an das eigene Staatswesen“. Die Haltung der proletarischen Parteien am 4.VIII.1914 sei berechtigt gewesen.

Offenbar sind die Rennerschen Theoreme mit dem proletarischen Sozialismus nicht zu vereinbaren. Sie sind als ein Versuch zu werten, das Proletariat von seinen eigenen Klassenaufgaben abzulenken und in die Gefolgschaft der imperialistischen Bourgeoisie zu bringen. Mit diesen seinen Erzeugnissen war der Reformismus vom Boden der Gesellschaftskritik zur Apologetik der bürgerlichen Gesellschaft herabgesunken. Es war deshalb unvermeidlich, daß der Reformismus, nach Beendigung des Krieges und dem Ausbruch der Revolution in den besiegten Staaten zur Macht gelangt, unfähig war, auch nur eine der vom proletarischen Sozialismus gestellten Aufgaben zu erfüllen.

Charakteristisch für den theoretischen Reformismus der Nachkriegszeit ist sein Eklektizismus mit der Tendenz zur Abkehr vom Marxismus. E. Lederer schränkt die Tragfähigkeit der Marxschen Arbeitswertlehre nach zwei Richtungen ein: in seinen Grundzügen der ökonomischen Theorie (Tübingen 1922) auf das Gebiet des Konkurrenzkapitalismus – während er sie als nicht ausreichend zur Erklärung der Monopolpreise betrachtet und daher bestrebt ist, eine Verbindung der Arbeitswertlehre mit der Grenznutzenlehre herzustellen. Zweitens hält er die Marxsche Arbeitswertlehre nur zur Erklärung eines statischen Wirtschaftsprozesses, nicht aber der dynamischen Konjunkturzyklen geeignet (Konjunktur und Krisen. Grundriß der Sozialökonomie, IV, i, 1925). Lederers Erklärung der Krisen ist – auf dem Umwege über die monetäre Krisentheorie (Ausdehnung des Produktionsprozesses „nur mit zusätzlichem Kredit“) – im wesentlichen eine Unterkonsumtionstheorie mit allen Mängeln einer solchen.

Alfred Braunthals Wirtschaft der Gegenwart und ihre Gesetze (Berlin 1930) will ein sozialistisches Lehrbuch der Nationalökonomie sein, „der Idee des Marxismus getreu“. Tatsächlich bekämpft Braunthal die Marxsche Theorie mit den der bürgerlichen Marx-Kritik entlehnten Argumenten: sie gebe „keinen Aufschluß darüber, nach welchen Gesetzen Lohn und Kapitalertrag sich faktisch in das Sozialprodukt teilen“. Die (bürgerliche) Produktivitätstheorie sei hierin „zweifellos der marxistischen Theorie überlegen“. Des weiteren spricht er von „gesicherten Ergebnissen“ der Grenznutzenschule. Seine Darstellung der Wirtschaft der Gegenwart ist im wesentlichen eine verflachende Kompilation der Hilferdingschen Gedanken von der fortschreitenden Organisierung der Wirtschaft und der Ideen Renners von ihrer Durchstaatlichung und immer stärkeren Beeinflussung durch den sich proletarisierenden Staat. Durch dessen wachsende regulierende Tätigkeit gegenüber der gesamten Wirtschaftsorganisation, schließlich durch die „kalte Sozialisierung“, d.h. durch das Vordringen der öffentlichen Wirtschaft, wird die freie Wirtschaft mit ihrem Marktmechanismus mehr und mehr aufgehoben. Damit, meint Braunthal, stünden wir in den Anfängen einer sozialen Revolution, „einer sich vom Kapitalismus zum Sozialismus wandelnden Gesellschaft“.

Mit dem Übergang der weltwirtschaftlichen Führung von Europa nach den Vereinigten Staaten von Amerika und unter dem Eindruck der amerikanischen „Prosperity“ nach dem Weltkriege entstand in dem bürgerlichen Europa ein Rausch kritikloser Bewunderung für amerikanische Organisations- und Arbeitsmethoden („Rationalisierung“). Die Nacheiferung dieser Methoden seitens der deutschen Kapitalisten fand die vollste Zustimmung der Vertreter der gewerkschaftlichen Theorie und Praxis. Ein typisches Produkt dieser Strömung ist die Arbeit des Vorsitzenden des Deutschen Holzarbeiterverbandes Fritz Tarnow, Warum arm sein? (Berlin 1928). „Die alten ökonomischen Lehren“ – meint Tarnow – „über die soziale Frage stammen vorzugsweise aus England ... Die neuen Lehren werden geformt in Amerika.“ – Amerika habe gezeigt, daß Armut kein ökonomisches Muß, sondern eine soziale Krankheit sei, „deren Heilbarkeit auch schon im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft außer Zweifel steht“. Der Lohn als Kostenfaktor habe an Bedeutung eingebüßt, aber als Kaufkraftfaktor an Wichtigkeit zugenommen. Die Verbrauchssteigerung, und vor allem die des Massenverbrauchs, sei der „Schlüssel zur Produktionsentfaltung“. Angesichts der ungeheuren Entfaltung der Produktivkräfte sei von nun an Verschwendung ein Segen und die Enthaltsamkeit ein Fluch. Nicht nur sei die Arbeit vom Kapital abhängig, sondern auch das Kapital von der Kaufkraft der Arbeiterkonsumenten. Die hohen Löhne liegen im wohlverstandenen Interesse der Unternehmer selbst. Die Länder mit hohen Löhnen hätten die stärkste Akkumulation und könnten am erfolgreichsten konkurrieren. Das amerikanische Unternehmertum sei auf der Bahn dieser Erkenntnis vorangeschritten, worauf das Geheimnis der anhaltenden Hochkonjunktur in den Vereinigten Staaten von Amerika begründet sei. Das Buch von H. Ford, Mein Leben und Werk, sei „sicher die revolutionärste Schrift der ganzen bisherigen Wirtschaftsliteratur“.

Anhangweise sollen noch die verschiedenen Abarten und Strömungen des Reformismus, wie sie zeitweise in einzelnen Ländern oder auch international auftreten, kurz erwähnt werden. Zunächst der „Munizipalsozialismus“, der die Tätigkeit des Reformismus auf dem Gebiete der Kommunalpolitik – u. a. auch das Bestreben zur Kommunalisierung der Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung der städtischen Bevölkerung im gesamtwirtschaftlichen Interesse und unter Außerachtlassung der privatwirtschaftlichen Rentabilität – zum Gegenstande hat (vgl. Hugo C. (d.i. Lindemann), Städteverwaltung und Munizipalsozialismus in England, Stuttgart 1897; derselbe, Deutsche Städteverwaltung, Stuttgart 1901).

Als „Gildensozialismus“ wird eine Strömung innerhalb der englischen Arbeiterbewegung bezeichnet, welche die Kontrolle der Produktion und die Aufhebung des Lohnsystems durch eine organisatorische Zusammenfassung aller Hand- und Kopfarbeiter nicht nach Berufs- oder Gewerkschaftsgruppen, sondern nach ganzen Industrieverbänden (Gilden) erstrebt. Dieses Ziel will er eventuell durch einen Generalstreik erzwingen. Vom Syndikalismus unterscheidet sich der Gildensozialismus dadurch, daß er den Staat nicht negiert, ihm vielmehr außerhalb der Produktionssphäre gewisse Funktionen zuweist (vgl. G.R. St. Taylor, Gildenpolitik. Praktisches Programm für die Arbeiterpartei, Tübingen 1922; G.D.H. Cole, Selbstverwaltung in der Industrie, 1921; G.D.H. Cole und W. Mellor, Gildensozialismus, 1921). Außerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung steht der sog. „liberale Sozialismus“, der weniger mit dem Sozialismus als mit dem Liberalismus, d.h. Kapitalismus, zu tun hat. Durch isolierte Bestrebungen F. Oppenheimers (Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Jena 1932) repräsentiert, will er unter Anknüpfung an die Lehren Eugen Dührings, den Tauschmedianismus beibehalten.
 

b) Der Ausbau der materialistischen Geschichtsauffassung Diese, von Marx unter Mitarbeit von Engels in einer Reihe von Schriften aus der Jugendzeit (1842-59) in genialen Umrissen entworfen, war von ihnen nie systematisch entwickelt worden. Erst die Marx-Schüler unternahmen es, sie philosophisch und erkenntnistheoretisch auszubauen, vor allem aber durch fruchtbare Spezialforschung auf verschiedenen Gebieten der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu vertiefen. Philosophisch behandelt sie K. Kautsky vor allem in Ethik und materialistische Geschichtsauffassung (Stuttgart 1906), historisch in Die Klassengegensätze im Zeitalter der französischen Revolution (Stuttgart 1889), Thomas More und seine Utopie (Stuttgart 1888) und Der Ursprung des Christentums (Stuttgart 1908). In seinem letzten großen Werke Materialistische Geschichtsauffassung hat Kautsky seine frühere Auffassung über die Triebkräfte der geschichtlichen Entwicklung ebenso revidiert, wie er dies in bezug auf seine ökonomischen und politischen Auffassungen getan hat (vgl. K. Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung. Auseinandersetzung mit K. Kautsky, Leipzig 1929). Franz Mehring (1846-1919) wählte in seiner Lessing-Legende (Berlin 1893) die Literatur und Geschichte von Lessings und Friedrichs II. Zeit zu seinem Anwendungsgebiete. In glänzenden Aufsätzen in Neue Zeit behandelt er die mannigfachsten Gebiete der Geschichte und Literaturgeschichte. Durch seine großartige breit angelegte Geschichte der deutschen Sozialdemokratie (2 Bde., Stuttgart 1897), die freilich nur bis zu den Anfängen des Revisionismus reicht, klärt er die ökonomischen und sozialen Zusammenhänge des Wachstums der sozialistischen Arbeiterbewegung auf und verbindet sie gleichzeitig mit einer Darstellung ihrer theoretischen Entwicklung. Als einer der glänzendsten Streiter für den dialektischen Materialismus trat im Kampfe gegen den Revisionismus G. Plechanow, der Schöpfer der materialistischen Kultur- und Kunstsoziologie, auf (vgl. vor allem: Die Grundprobleme des Marxismus, Stuttgart 1920, Henrik Ibsen, Stuttgart 1908, und Beiträge zur Geschichte des Materialismus, Stuttgart 1896). Aus der Nachkriegszeit sei vor allem erwähnt das schöne und wertvolle Buch von Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, und K. Korsch, Kernpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung, Berlin 1922, und Marxismus und Philosophie, Leipzig 1923, endlich nebst den bereits erwähnten Arbeiten Max Adlers noch H. Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie, Berlin 1920.

Bedeutendere Schriften über den historischen Materialismus in den einzelnen Ländern: in Frankreich: G. Sorel, La ruine du monde antique. Conception materialiste de l’histoire, Paris 1901. Charles Rappaport, La philosophie de l’histoire, Paris 1925. In Italien: Benedetto Croce, Matérialisme historique et économie marxiste, Paris 1901, und Philosophie de la pratique. Économie et étique, Paris 1911. Rodolfo Mondolfo, Il materialismo storico in Federico Engels, Genua 1912 (französisch Paris 1917), und II concetto marxistico della „umwälzende Praxis“ e suoi germi in Bruno e Spinoza, 1932. Antonio Labriola, Essais sur la conception materialiste de l’histoire, Paris 1896, und Socialisme et philosophie, Paris 1899. In Polen: S. Brzozowski, Ideen. Einleitung zur Philosophie der geschichtlichen Reife, Lemberg 1910 (polnisch). In Rußland: N. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922. A. Deborin, Einführung in die Philosophie des dialektischen Materialismus, mit Vorw. v. G. Plechanow, Moskau 1930 (russisch). In Holland: Hermann Gorter, Der historische Materialismus, mit Vorw. v. K. Kautsky, Stuttgart 1919. Schriften über einzelne Anwendungsgebiete des historischen Materialismus. Rechtslehre: E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Berlin 1929. P. Stutschka, Das Problem des Klassenrechts und der Klassenjustiz, Berlin 1922 (vgl. dazu H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, in: Arch. f. Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 66. Bd., 1931). Paul Szende, Nationales Recht und Klassenrecht, Beiträge aus der ungarischen Rechtsund Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1932. Wirtschaftsgeschichte: H. Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte. Von der primitiven Sammelwirtschaft bis zum Hochkapitalismus, 4 Bde., Berlin 1926/1931. Den Wandlungsprozeß vom Feudalstaat des 18. Jahrhunderts zum modernen kapitalistischen Staat behandelt am Beispiel Oesterreichs und Polens Henryk Grossmann, Oesterreichs Handelspolitik 1772-1790, Wien 1914; Die Anfänge und die geschichtliche Entwicklung der amtlichen Statistik in Österreich, Wien 1916; La structure sociale et économique du Duche de Varsovie 1808-1810, 1925. Ludo M. Hartmann, Römische Geschichte, Gotha 1921 und Der Untergang der antiken Welt, Wien 1910. K.A. Wittfogel, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas, Bd.I, Leipzig 1931. Wissenssoziologie: Max Horkheimer, Ein neuer Ideologiebegriff? (in Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. XV, 1930). P. Szende, Verhüllung und Enthüllung. Der Kampf der Ideologien in der Geschichte (ebda., Jahrg. X, 1922).
 

c) Probleme des Imperialismus und des Krieges Wir hatten früher darauf hingewiesen, daß zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Entwicklung der kapitalistischen Staaten immer mehr imperialistische Züge annahm und sich durch Militärrüstungen und koloniale Expansionsbestrebungen auszeichnete. Die in der marxistisch-historischen Betrachtungsweise geschulten Sozialisten erkannten schon früh die Bedeutung dieser Vorgänge. Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts sieht K. Kautsky in einer Reihe von Schriften (Die soziale Revolution, Berlin 1902; Der Weg zur Macht, Berlin 1909; Handelspolitik und Sozialdemokratie, Berlin 1901), das Herannahen eines neuen Zeitalters der Revolution als Ergebnis der Kolonialpolitik und des Imperialismus voraus. Besonders für den Osten: für Ostasien und die ganze mohammedanische Welt, so führt er aus, beginne ein Zeitalter der Verschwörungen, Staatsstreiche und steten Umwälzungen, in die schließlich auch der Westen mit hineingezogen werden würde. „Der Weltkrieg wird nun in bedrohliche Nähe gerückt.“ In allen diesen Schriften beschreibt Kautsky die in seiner imperialistischen Periode veränderten Züge des Kapitalismus, seine Neigung zu Kriegsrüstungen, Gewalttätigkeiten und Eroberungen im Kampfe um den Weltmarkt. Dabei erscheint ihm diese Entwicklung nicht als Folge der Launen einzelner Machthaber, sondern als mit dem inneren Wesen des Kapitalismus verknüpft. „Die eherne Notwendigkeit der ökonomischen Bedürfnisse treibt die modernen Industrienationen dem Verderben entgegen.“

Diese Auffassung der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus, bis dahin in der sozialistischen Arbeiterbewegung allgemein verbreitet, war mit den früher erwähnten Lehren Tugan-Baranowskys und Hilferdings von der schrankenlosen Entfaltungsmöglichkeit des Kapitalismus nicht zu vereinbaren. Die harmonistische Auffassung der kapitalistischen Entwicklung stand offenbar im Widerspruch zur Wirklichkeit, ihrer stets wachsenden Konkurrenz und der Verschärfung der Kämpfe der hochkapitalistischen Länder um Absatzgebiete und Anlagesphären, im Widerspruch auch mit dem Grundgedanken des historischen Materialismus, der die Politik aus der Ökonomie erklärt. Diesen Widerspruch aufzulösen, stellte sich Rosa Luxemburg in ihrem Buche Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (Berlin 1913) zur Aufgabe. Wäre die Auffassung der Neo-Harmoniker von der schrankenlosen Entfaltungsmöglichkeit des Kapitalismus richtig, dann wären die mit solcher Intensität auftretenden imperialistischen Züge nicht aus dem Wesen des Kapitalismus zu erklären, vielmehr als bloße Zufallserscheinungen zu bewerten. Andererseits ist, wie R. Luxemburg richtig hervorhebt, „der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus“. Und hierin liegt die große historische Bedeutung des Buches R. Luxemburgs: daß sie im bewußten Gegensatz zu den Entstellungsversuchen der Neo-Harmoniker an dem Grundgedanken des Kapital von einer absoluten ökonomischen Grenze für die Fortentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise festhielt, wenn auch die konkrete Begründung, die sie der Zusammenbruchslehre gegeben hat, heute als verfehlt bezeichnet werden muß. In ihrer Kritik der Marxschen Analyse des Akkumulationsprozesses, die eine Gesellschaft voraussetzt, die lediglich aus Kapitalisten und Arbeitern besteht und keinen Außenhandel treibt, gelangt sie zu dem Ergebnis, „daß das Marxsche Schema auf die Frage: für wen die erweiterte Reproduktion eigentlich stattfindet, keine Antwort“ gebe. Rein abstrakt könne man sich die Abhängigkeitsverhältnisse und Proportionen des Marxschen Schemas vorstellen, und die Marxsche Analyse erwecke den Anschein, als ob die kapitalistische Produktion ausschließlich selbst ihren gesamten Mehrwert realisierte und den kapitalisierten Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse verwendete, d.h. daß die „kapitalistische Produktion selbst ausschließlich Abnehmerin ihres Mehrprodukts“ sei. Die Kohlenindustrie werde z.B. erweitert, um die Erweiterung in der Eisenindustrie zu ermöglichen, diese um die Maschinenindustrie zu erweitern, die letztere werde vergrößert, um die erweiterte Produktion von Konsumtionsmitteln zu ermöglichen. Diese Erweiterung der Konsumtionsmittelindustrie schaffe aber Absatz für die erweiterte Produktion der Kohlen-, Eisen- und Maschinenindustrie. Die einzelnen Industriezweige würden so für sich gegenseitig einen Absatzmarkt bilden. Bei solcher Auslegung der Marxschen Analyse, die R. Luxemburg als fehlerhaft betrachtet, könne die Produktion „ad infinitum im Kreise“ erweitert werden, ohne daß ersichtlich wäre, „für wen, für welche neuen Konsumenten schließlich die Produktion immer mehr erweitert“ werde. Eine solche Akkumulation diene nicht der Konsumtion, sondern sei „Produktion um der Produktion willen“. Tatsächlich könnten nämlich von dem vergrößerten Produkt die Arbeiter nur einen Teil konsumieren, denjenigen Teil, der der Wertgröße ihres Lohnes entspreche. Ein Teil des Produkts diene zum Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, der übrig bleibende Rest – der Mehrwert – wachse im Verlaufe der Akkumulation beständig. Wer realisiert also den beständig wachsenden Mehrwert? Die Kapitalisten selbst konsumieren nur einen Teil desselben, während sie einen immer größer werdenden Teil für die weitere Akkumulation verwenden. Aber was fangen sie mit dem dann noch mehr gewachsenen Jahresprodukt, mit ihrem Mehrwert an? R. Luxemburg gelangt zu dem Schluß, daß „die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe“ sei, d.h., daß ein solcher Kapitalismus nicht existieren könne. Die kapitalistische Produktionsweise erfordere für ihre Existenz „als erste Bedingung einen Kreis von Abnehmern außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft“, also Gesellschaftsschichten, „die selbst nicht kapitalistisch produzieren“ und den kapitalistischen Mehrwert realisieren. Aber nicht nur für die Realisierung des Mehrwerts bedürfe der Kapitalismus des nichtkapitalistischen „Milieus“, vielmehr auch für die Beschaffung eines großen Teils der Produktionsmittel, insbesondere der Rohstoffe (konstantes Kapital); schließlich könne die „zuschüssigen Arbeitskräfte... die kapitalistische Produktion nur aus nichtkapitalistischen Schichten und Ländern ständig beziehen“. Es zeige sich also, daß „der Akkumulationsprozeß des Kapitals durch alle seine Wert- und Sachbeziehungen: konstantes Kapital; variables Kapital und Mehrwert an die nichtkapitalistische Produktionsform gebunden“ sei. Die kapitalistische Akkumulation „als geschichtlicher Prozeß“ sei faktisch auf „das gegebene historische Milieu“ der nichtkapitalistischen Länder und Schichten, Handwerker, Bauern, angewiesen, sei ohne dieses Milieu „in jeder Hinsicht undenkbar“. Daraus ergebe sich der ungestüme Drang des Kapitals, nichtkapitalistische Gebiete unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Auf diese Weise glaubt R. Luxemburg nicht nur die Akkumulation und ihre Bedingungen, sondern auch die treibenden Kräfte des Imperialismus und seiner kolonialen Expansionstendenzen geklärt zu haben. Aus dem Drange zur Realisierung des Mehrwerts ergäben sich die militärische Besetzung von Kolonien, der gewaltsame Raub ihrer Produktionsmittel und ihrer Arbeitskräfte, „systematische planmäßige Zerstörung und Vernichtung der nichtkapitalistischen sozialen Verbände“, der Kampf des Kapitalismus gegen die Naturwirtschaft und der Ruin des selbständigen Handwerks und der Bauernwirtschaft. Im Gegensatz zu dem „rohen Optimismus“ Ricardos, Says, Tugan-Baranowskys, für die der Kapitalismus sich schrankenlos entwickeln könne, „ergo von ewiger Dauer ist“, scheint ihr ihre eigene Lösung im Sinne der Marxschen Lehre vom schließlichen Zusammenbruch des kapitalistischen Produktionssystems zu liegen, der begründet sei „in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer Formationen als ihrer Umgebung bedarf ... und nur solange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet“. Indem nämlich die Naturalwirtschaften durchkapitalisiert würden, rücke der Zustand näher, den Marx in seiner Analyse voraussetzt, nämlich: die kapitalistische Produktion „als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Produktionszweigen“. „Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht, wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit.“ Hier zeige sich die historische Schranke der Akkumulationsbewegung, die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte. Es folge das Ende des Kapitalismus. Seine imperialistische Phase sei somit die Schlußperiode seiner geschichtlichen Laufbahn. Die ökonomische Anal yse der nichtkapitalistischen Absatzmärkte stehe so im engsten inneren Zusammenhang mit dem Werden des Sozialismus. Der Sozialismus sei nicht lediglich von subjektiv-voluntaristischen Momenten abhängig, sondern ergebe sich aus dem Entwicklungsgang der Wirtschaft im Zusammenhang mit den im Kapitalismus objektiv zu seinem notwendigen Zusammenbruch hinwirkenden Kräften.

Diese Theorie, die das Schwergewicht auf das Absatzproblem, auf die Frage der Realisierung des Mehrwerts legt, vermag nicht das charakteristische Merkmal der imperialistischen Periode des Kapitalismus, den Kapitalexport, befriedigend zu erklären (vgl. Lenins Imperialismustheorie; weiter unten). Im übrigen waren diese Gedanken nicht neu; sie haben eine mehr als hundertjährige Geschichte. Sie wurden im Kerne bereits von Simonde de Sismondi in seinen Nouveaux Principes 1819 und von R. Malthus im Kapitel über die Akkumulation seiner Principles of Political Economy 1820 entwickelt. Diese Gedanken wurden später von den sozialistischen Theoretikern H. Cunow (Art. Zusammenbruchstheorie, Neue Zeit, 1898), L.B. Boudin (Das theoretische System von Karl Marx mit Vorwort von Karl Kautsky, Stuttgart 1901) und Kautsky selbst (oben zitiert) zur Erklärung des Imperialismus ausgebaut. Das Neue an R. Luxemburgs Leistung besteht darin, daß sie zur Begründung der Notwendigkeit des nichtkapitalistischen Raumes die Analyse der Marxschen Reproduktionsschemata verwandte.

Nicht an dieser Stelle ist eine ausführliche Kritik der Theorie in methodologischer und materieller Hinsicht zu geben. Diesbezüglich wird auf die weiter unten angeführten Arbeiten von H. Grossmann verwiesen. Im direkten Gegensatz zu R. Luxemburg steht Wladimir Iljitsch Lenin, der bereits in seiner Arbeit Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. Sismondi und unsere vaterländischen Sismondisten (1897) sich gegen die russischen „Narodniki“ wendet, welche die Theorie Sismondis von den Außenmärkten als Existenzbedingung des Kapitalismus restlos übernommen hatten. Nochmals kritisiert Lenin die Theorie von der Unmöglichkeit der Realisierung des Mehrwerts im „reinen“, d.h. dem nur aus Arbeitern und Unternehmern bestehenden Kapitalismus, in seinem Hauptwerke gegen die Narodniki: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1899). Der Widerspruch zwischen der Beschränktheit der Konsumtion und der schrankenlosen Erweiterung der „Produktion um der Produktion willen“ besteht zwar. Aber dies sei nicht der Widerspruch einer Doktrin, sondern ein realer Widerspruch des kapitalistischen Systems. Nichts wäre jedoch abgeschmackter, als aus den Widersprüchen des Kapitalismus, d.h. aus seiner Irrationalität, auf seine Unmöglichkeit zu schließen. Dieser Widerspruch sei nicht der einzige des Kapitalismus, der überhaupt ohne Widersprüche weder existieren noch sich entwickeln könne. „Nichts wäre sinnloser als ... abzuleiten, daß Marx die Möglichkeit, den Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft zu realisieren, bestritten, die Krisen durch ungenügenden Konsum erklärt hätte.“ Vielmehr bilden die verschiedenen Zweige der Industrie für einander einen Markt. Da sie sich jedoch ungleichmäßig entwickeln und einander überholen, weil keine Regelung besteht, welche die Übereinstimmung der einzelnen Zweige durchsetzen würde, so müsse „die entwickeltere Industrie sich einen äußeren Markt suchen“. Diese Ungleichmäßigkeit der Entwicklung einzelner Industriezweige sei somit die letzte Ursache der Krisen und der kapitalistischen Expansionstendenzen. Nach Ausbruch des Weltkrieges, als man dem Problem des Imperialismus naturgemäß größere Auerksamkeit zuwandte, unternahm es Lenin, in seinem Buche Der Imperialismus als letzte Phase in der Entwicklung des Kapitalismus (1915) das Wesen des Imperialismus, seine ökonomischen und sozialen Wurzeln, aufzudecken. Er findet diese in dem Strukturwandel des Weltkapitalismus, in der Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol, womit die Niedergangsphase des Kapitalismus begonnen habe. Ihr charakteristisches Merkmal sei nicht mehr der Waren-, sondern der Kapitalexport. Aus diesem Monopolcharakter des Kapitalismus erkläre sich die ständige koloniale Expansion und die Aufteilung der Welt unter die internationalen durch die Finanzoligarchie beherrschten Monopolverbände der Kapitalisten. Durch Kapitalexport, durch Beherrschung riesiger Rohstoffgebiete Asiens und Afrikas sichert die Bourgeoisie der herrschenden Kapitalistenländer sich kolossale Überprofite. Das Wesen der imperialistischen Expansion liege somit nicht in der Zirkulationssphäre (Realisierung des Mehrwertes), sondern in der Produktionssphäre (Steigerung der Profite).

Mit dem Entstehen des Imperialismus sei man daher in eine Periode ständiger Kriege und Kriegsbedrohung eingetreten. Die Kriege seien ein Produkt des Imperialismus, ein unvermeidliches Ergebnis der Gegensätze der Niedergangsepoche. Damit habe sich aber der Charakter der Kriege verändert, die formale Unterscheidung in Verteidigungsund Angriffskriege habe jeden Sinn verloren. Denn im Gegensatz zu den nationalen Befreiungskriegen in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus sind die Kriege in der Niedergangsperiode Raubkriege der imperialistischen Länder gegeneinander und gegen wirtschaftlich unentwickeltere Nationen und Staaten. Hieraus ergäben sich besondere Aufgaben der Arbeiterklasse in den Fragen der Stellungnahme zum Kriege, zum Burgfrieden, zur Vaterlandsverteidigung und zur Bewilligung von Kriegskrediten. In der Niedergangsphase des Kapitalismus sei die Aufgabe des Proletariats die Überleitung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg behufs Eroberung der Macht und damit die strategische und organisatorische Vorbereitung der Revolution. Eine ähnliche Haltung zu dem Problem des Imperialismus und des Krieges nehmen ein G. Sinowjew (Der Krieg und die Krise des Sozialismus, 1917, deutsch: Wien 1924; Lenin und G. Sinowjew, Gegen den Strom. Aufsätze aus den Jahren 1914-16, Hamburg 1921), L. Trotzki (Der Krieg und die Internationale, München 1914), N. Bucharin (Imperialismus und Weltwirtschaft, mit einem Vorw. v. Lenin, 1917, deutsch: Wien 1929 und H. Gorter (Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie, Amsterdam 1915).
 

d) Das Problem der proletarischen Machtergreifung. Der theoretische Marxismus und die Sowjetunion Mit der Errichtung der Sowjetunion ist nicht bloß in der politischen und wirtschaftlichen Geschichte des Kapitalismus, sondern auch auf dem Gebiete des theoretischen Marxismus eine Wendung von größter prinzipieller Tragweite eingetreten. Der Ausbruch der russischen Revolution bestätigte die Richtigkeit der Prognose der Marxisten, die ihr Eintreffen seit Jahrzehnten vorausgesehen und darauf ihre Strategie und Taktik eingerichtet hatten. Sie gab fernerhin denjenigen recht, die, wie Lenin, auf Grund der Marxschen Theorie bereits 1905 in der kommenden Revolution eine Umwälzung neuen Typus – proletarische Revolution – vorausgesehen hatten, die sich durch ihr Ziel, ihre Organe und ihre Taktik jenseits der bürgerlichen Welt bewegen werde. Darüber hinaus besteht die internationale Bedeutung der Oktoberrevolution und ihr geschichtlicher Sinn vom Gesichtspunkt des theoretischen Marxismus darin, daß die Alleinherrschaft des kapitalistischen Systems damit ihr Ende erreicht hat. Die bürgerliche Produktionsweise, bis zu diesem Wendepunkt die herrschende und die fortschrittlichste, verlor mit der Oktoberrevolution den Nimbus der Ewigkeit und der Unerschütterlichkeit, erwies sich als eine historische, d.h. transitorische Kategorie. Bestanden neben ihr bis dahin nur Überreste zugrunde gehender und im Vergleich mit ihr rückständiger gesellschaftlicher Formationen (Handwerker, Bauern, primitive Wirtschaften asiatischer und afrikanischer Kolonialvölker), trat der Sozialismus ihr bis dahin nur als eine Forderung der Zukunftsgestaltung gegenüber, so steht dem durch die Weltwirtschaftskrise erschütterten Kapitalismus in der Sowjetunion – wie es die Erfahrung zu bestätigen scheint – ein überlegenes Wirtschaftssystem gegenüber. Dieses ist auf dem besten Wege, nach der Überwindung der anfänglichen Ubergangsschwierigkeiten durch Aufstellung des ersten Fünf jahresplanes 1928-32, zum erstenmal in der Geschichte den Gedanken der sozialistischen Planwirtschaft zu verwirklichen. Auf einem Sechstel der Erde und speziell auch in den bis dahin rückständigsten Gebieten des asiatischen Rußland verstand es die Sowjetunion, in einem gigantischen Aufbautempo auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, für das keine historischen Analogien bestehen, und ganze historische Entwicklungsstufen kühn überspringend, eine sozialistische Wirtschaft auf Grund der fortschrittlichsten Technik aufzubauen. Die große Popularität der planwirtschaftlichen Gestaltungen in fast allen hochentwickelten Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten von Amerika ist der Ausdruck des erschütterten Glaubens an die Berechtigung und die Zweckmäßigkeit der kapitalistischen Marktwirtschaft. Allein schon durch die Tatsache der Existenz der Sowjetunion, durch die Rückwirkungen ihres erfolgreichen sozialistischen Aufbaus, erscheinen die Schwierigkeiten im Kapitalismus noch potenziert, wobei die sozialen Widersprüche und Klassengegensätze nicht wie früher als Widersprüche zwischen der Wirklichkeit und einer erhofften sozialistischen Zukunft, sondern immer ausgesprochener als Widersprüche zwischen zwei nebeneinander bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Systemen auftreten. Von größter Bedeutung für die wissenschaftliche Vertiefung und Entwicklung des theoretischen Marxismus ist die Gründung des Marx-Engels-Instituts in Moskau unter Leitung des bekannten Marx-Forschers D. Rjasanow. Es hat die monumentale Aufgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe (in über 40 Bänden) in Angriff genommen, womit grundsätzlich wichtige Teile der Gedankenwelt von Marx und Engels, die bisher unbekannt waren, zur Veröffentlichung gelangen. Als Organ des Instituts dient das auch in deutscher Sprache erscheinende Marx-Engels-Archiv, Berlin, Bd.I 1921, Bd.II 1927.

In der sozialistischen Literatur der Sowjetunion spielt eine spezifische Rolle die Erforschung der besonderen Bedingungen der Existenz und der Entwicklung der Bauernwirtschaft. Aus der umfangreichen Literatur seien nur erwähnt: A.W. Tschajanow, Das Optimum des Umfangs der Landwirtschaftlichen Unternehmungen, Moskau 1921; Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft, Berlin 1923; Die Grundlagen und die Grundformen des bäuerlichen Genossenschaftswesens, Moskau 1919; und N.P. Makaroff, Die bäuerliche Wirtschaft und ihre Entwicklung, Moskau 1920. Im übrigen beschäftigte sich mit diesen Problemen das Internationale Agrarinstitut in Moskau und die von ihm herausgegebenen Agrarprobleme, Bd.I, 1928ff.

Vor allem aber beschäftigt die russische sozialistische Literatur die Lehre von der sozialistischen Umwälzung und der Übergangsperiode zum Sozialismus. In seiner Rede zum Programm der III. Internationale, 1922, wandte sich Bucharin gegen diejenigen, welche die sozialistische Revolution verschieben wollen, bis der Sozialismus bereits im Kapitalismus ausgereift ist. Gegenüber der klassischen Stelle des Marxschen Kapital von der „Ausreifung des Kapitalismus innerhalb der Feudalherrschaft“, bis dann – durch die Eroberung der politischen Macht – die neue Ordnung zur vollen Entfaltung gelangt, betonen die russischen Kommunisten, vor allem Bucharin (vgl. Protokoll des 4. Kongresses der III. Internationale, Hamburg 1922, S.414, und: Die bürgerliche und die proletarische Revolution, Sammelwerk: Die Attacke, Moskau 1924), daß diese Lehre auf den Sozialismus nicht zutreffe. Die Bourgeoisie konnte schon innerhalb des Feudalismus das Monopol auf industrielle Produktionsmittel besitzen, leitende Funktionen in der industriellen Produktion behaupten und, auf ihre ökonomische Macht gestützt, auch kulturell die feudale Klasse überragen. Die Arbeiterklasse dagegen kann innerhalb des Kapitalismus nicht zum Besitzer der Produktionsmittel werden und die Produktion beherrschen. Sie kann auch nicht, im Rahmen des Kapitalismus, eine höhere Kulturstufe als das Bürgertum erklimmen. „Der Sozialismus kann im Kapitalismus niemals ausreifen, auch unter den günstigsten Verhältnissen nicht. Es ist unmöglich, daß schon im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiterklasse die Produktion beherrscht ... Das Proletariat kann das alles erst erlernen, wenn es die Möglichkeit dazu hat, d.h., nachdem es schon die Diktatur des Proletariats verwirklicht hat.“

„Der Sozialismus entsteht nicht, sondern er wird bewußt aufgebaut.“ Dementsprechend ist nach den Anschauungen der russischen Kommunisten die Möglichkeit einer proletarischen Revolution an keine bestimmte Entwicklungsreife der kapitalistischen Gesellschaft geknüpft. Nur eine genügende Konzentration der Produktion ist erforderlich, um eine planmäßige Organisation der Wirtschaft zu ermöglichen, und ein entsprechend weit gediehener Zusammenschluß der proletarischen Atome in eine revolutionäre Klasse als Garantie für die Niederwerfung der Bourgeoisie in der Revolution und für den Aufbau des Apparates der proletarischen Diktatur. Es treten zu diesen beiden objektiven Momenten noch zwei subjektive hinzu: die revolutionäre Begeisterung des Proletariats und sein Wille, der kapitalistischen Ordnung ein Ende zu setzen, und die Unfähigkeit der Bourgeoisie, dem Proletariat wirksamen Widerstand zu leisten. Alle diese Momente aber sind mit den mannigfaltigsten ökonomischen Bedingungen vereinbar. Der Zusammenbruch des Kapitalismus kann nach diesen Auffassungen sowohl auf einer hohen wie auf einer relativ niederen Stufe der inneren Reife des Kapitalismus vor sich gehen. Es ist danach nicht notwendig, daß das Land in bezug auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung zu den kapitalistisch führenden gehört. Im Gegenteil, da die Widerstandskraft der Bourgeoisie ceteris paribus der wirtschaftlichen Reife des Kapitalismus direkt proportional ist, ist eine Situation, in der „der Zusammenbruch des ganzen Systems mit den organisatorisch schwächsten Stellen dieses Systems beginnt“, wahrscheinlich (Bucharin, Die Ökonomik der Transformationsperiode, Hamburg 1922, S.4). Wir werden weiter sehen, daß diese Zusammenbruchstheorie, die nichts anderes als eine Formulierung der spezifischen russischen Kriegssituation darstellt, sich weder mit der Leninschen Auffassung vom Verfall des Kapitalismus deckt noch überhaupt auf die hochkapitalistischen Länder Westeuropas paßt.

Von aktuellster unmittelbarer Bedeutung, und zugleich die größten theoretischen Schwierigkeiten bereitend, sind die Probleme des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus in der Industrie und in der Landwirtschaft. Wohl gehört die Expropriation der Produktionsmittel seit jeher zu den festen Bestandteilen aller sozialistischen Programme, aber die Frage nach dem Umfang der Expropriation des Industrie- und Handelskapitals, nach Art und Umfang der Verbindung der sozialistischen Elemente der marktlosen Wirtschaft mit den Resten der kapitalistischen Wirtschaft, d.h. die Frage, in welchem Umfange die Marktwirtschaft beizubehalten und die markt- und geldlose Wirtschaft einzuführen sei, mußten jetzt beantwortet werden. Gelöst werden mußten die Probleme der sozialistischen Umgestaltung des Dorfes: ob Staatsmonopol für landwirtschaftliche Produkte eingeführt oder ob die private bäuerliche Produktion und der private Absatz – nur mit Naturalsteuern belastet – belassen werden sollten. Ebenso mußte die Frage beantwortet werden, ob kollektive Agrarproduktion eingeführt werden solle und schließlich, in welchem Grade. Überall müßten die ersten tastenden Versuche der proletarischen Wirtschaftspolitik gemacht werden, die endlich mit der Aufstellung des ersten Fünfjahresplanes und von Regeln für die Planwirtschaft zu einem vorläufigen Abschluß gelangten, womit zugleich die Grundlagen zu einer neuen Wissenschaft gelegt wurden.

Während bis zur Oktoberrevolution die Probleme der proletarischen Machtergreifung konkret fast nur innerhalb der russischen Arbeiterbewegung diskutiert worden waren, sind sie mit diesem Ereignis, am stärksten angeregt durch Lenins Staat und Revolution (1917), in den Mittelpunkt der Diskussion innerhalb der Arbeiterbewegung der ganzen Welt, insbesondere Westeuropas, gerückt: die Frage, ob Eroberung der Macht durch das Proletariat auf parlamentarischem oder auf außerparlamentarischem Wege, d.h. auf dem der revolutionären Aktion der Arbeiterklasse; die Frage, ob Diktatur des Proletariats – Rätesystem – als der Verwirklichung der proletarischen Demokratie oder parlamentarische Demokratie als Erscheinungsform der bürgerlichen Diktatur; die Frage: Spontaneität der proletarischen Revolution oder bewußte Organisierung durch die Partei und damit die des grundsätzlichen Verhältnisses von Partei und Klasse; die Probleme der Organisierung der neuen proletarischen Internationale: ob nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus organisierte einheitliche Weltpartei mit der Aufgabe der praktischen Vorbereitung der Weltrevolution; die Aufgabe der Eroberung der Mittelschichten in Stadt und Land als Verbündete des Proletariats; die Fragen des Befreiungskampfs der Kolonialvölker und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, also die Probleme der Mobilisierung der unterdrückten Massen der ganzen Welt gegen den Imperialismus.

Von entscheidender Wichtigkeit für die Beantwortung dieser Fragen ist natürlich die Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen des Weltkapitalismus: ob man der Ansicht ist, wie jetzt Katusky und die Referenten auf dem Brüsseler Kongreß der II. Internationale, 1928, daß der Kapitalismus vor einer weiteren Aufschwungsära steht, oder aber ob man annimmt, daß er sich in einer Niedergangsperiode befindet, die zwar durch kurze Perioden vorübergehender Stabilisierung unterbrochen wird, im ganzen aber eine dauernde Zuspitzung der Klassengegensätze zeigt, die schließlich zum entscheidenden Machtkampf führen muß.

Ist der westeuropäische Kapitalismus im Niedergang begriffen, steht auf der Tagesordnung der nächsten Periode die Frage der westeuropäischen Revolution, dann sind die Erfahrungen und Lehren der russischen Revolution auch für ihn ein aktuelles Problem. Diesen Sinn haben die Debatten über die Eroberung der Staatsmacht innerhalb des linken Flügels der II. (sozialistischen) Internationale, wie z.B. die Debatten des Linzer Parteitags der österreichischen Sozialdemokratie (30.X.-3.XI.1926), auf dem das neue Parteiprogramm angenommen wurde: Das Kernproblem bildete die Frage, ob der Bürgerkrieg und die Gewaltanwendung für die Arbeiterklasse in ihrem Kampf um die Staatsmacht und den Sozialismus zu vermeiden seien. Das Ergebnis der Diskussion läßt sich dahin zusammenfassen, daß die Arbeiterklasse sich für ihren Kampf zwar prinzipiell der legalen Mittel der Demokratie bedienen solle. Sie dürfe jedoch nicht außer acht lassen, daß es wahrscheinlich sei, daß die Bourgeoisie – da keine herrschende Klasse auf ihre Macht kampflos verzichtet – in dem Augenblick zur Gewalt gegen die Arbeiterklasse und ihren Staat Zuflucht nehmen werde, wo das Proletariat die politische Macht mit den Mitteln der Demokratie erobert habe, wo also die Demokratie sich gegen die Bourgeoisie selber entscheidend wenden werde. Unter solchen Umständen könne das Proletariat auch seinerseits auf die Anwendung von Gewalt nicht verzichten.

e) Das Ende des Kapitalismus Wenn auch durch den Sieg der Oktoberrevolution in Rußland die Alleinherrschaft des kapitalistischen Systems erschüttert worden ist, so ist doch in Anbetracht der konkreten Umstände, unter welchen dieser Sieg möglich war, dadurch die Frage nach dem Ende des Kapitalismus für die Theorie des Sozialismus nicht entschieden worden. Denn der Durchbruch im System des Kapitalismus erfolgte mit der Oktoberrevolution an seiner schwächsten Stelle, nämlich wo die revolutionierende Wirkung des Kapitalismus im Augenblick der sozialen Explosion kaum erst begonnen hatte. War doch für das alte noch mehr feudale als kapitalistische Rußland die technische Rückständigkeit das Charakteristische. Deshalb ist das russische Beispiel nicht als typisch zu betrachten für den Zusammenbruch des Kapitalismus in den industriell hochentwickelten Ländern, deren Widerstandskraft, wie Bucharin sagt, ihrer wirtschaftlichen Reife direkt proportional sei also bedeutend größer als dies in dem in den Anfängen der kapitalistischen Entwicklung stehenden Rußland der Fall war. Wenn die Oktoberrevolution auch ein Symptom und zugleich der Anfang des Zusammenbruchs des Weltsystems des Kapitalismus ist, so sind doch die unmittelbaren konkreten Ursachen dieses Ereignisses in anderen Faktoren zu suchen als die voraussichtlichen Ursachen für einen Zusammenbruch des Kapitalismus in den Ländern des vollendeten kapitalistischen Systems, wie England, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb bleibt der Zusammenbruch des Kapitalismus vom Standpunkt der Marxschen Theorie und der Arbeiterbewegung aus nach wie vor als Problem bestehen.

In der Nachkriegszeit hat es Henryk Grossmann unternommen, diesem so sehr umstrittenen Grundgedanken des Marxschen Systems von neuem Geltung zu verschaffen. Die Zusammenbruchstheorie war bis dahin durch zwei Varianten vertreten: die eine (z.B. Bucharin, Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1926) spricht nur allgemein von einem bestimmten „Grad der Spannung kapitalistischer Widersprüche“, die „unvermeidlich den Zusammenbruch der kapitalistischer Herrschaft“ herbeiführen würden, ohne diese „Unvermeidlichkeit“ zu beweisen, d.h. ohne die theoretische Begründung dafür zu geben, daß diese Widersprüche sich bis zur schließlichen Unmöglichkeit des Ausgleichs zuspitzen müssen. Ebensowenig gibt diese Lesart die konkreten Merkmale an, an denen man wissenschaftlich, im voraus, den Grad der kritischen Spannung der Widersprüche erkennen könne, bei welchem der Zusammenbruch „unvermeidlich“ werde. Diese Feststellung könne also immer erst ex post, nach Eintritt des Zusammenbruchs erfolgen. Dann aber ist die Zusammenbruchstheorie als ein wissenschaftliches Werkzeug der Erkenntnis überflüssig. Eine solche „generelle“ Erklärung des Zusammenbruches muß wegen ihrer wissenschaftlichen Unbestimmtheit unbefriedigend wirken, erfüllt sie doch nicht die „marxistische Forderung, konkret zu sein“ (Lenin).

Die andere Variante der Zusammenbruchstheorie, von Cunow, Kautsky (in den genannten Schriften aus der Periode 1901-11), Boudin und R. Luxemburg vertreten, suchte die Notwendigkeit des Unterganges des kapitalistischen Systems aus der Begrenztheit des Absatzmarktes, also aus den Vorgängen in der Zirkulationssphäre („Realisierungsproblem“) abzuleiten.

In dem erwähnten Aufsatz von 1898 untersucht H. Cunow das Kernproblem, „ob unsere wirtschaftliche Entwicklung auf eine allgemeine Katastrophe hintreibt“. Bisher habe stete Erweiterung des Kolonialbesitzes auf die aus dem ungenügenden Absatz sich ergebende Zusammenbruchstendenz abschwächend gewirkt. Da jedoch eine solche Ausdehnung der Absatzmärkte ihre Grenzen habe, so sei damit auch die „Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs“ gegeben. Ohne Gewinnung äußerer Absatzmärkte würde England längst vor einem Konflikt zwischen Konsumtionsfähigkeit seines inneren und äußeren Marktes und der riesigen Steigerung seiner kapitalistischen Akkumulation stehen“. Für Cunow ist der Zusammenbruch nicht fraglich, sondern bloß „wie lange sich noch die kapitalistische Produktionsweise erhalten und unter welchen Umständen sich der Zusammenbruch vollziehen“ werde.

Auch L.B. Boudin, dessen Buch nach einer zustimmenden Vorrede Kautskys „die springenden Punkte“ des Marxschen Systems behandelt, sieht in dem Absatz des Mehrwerts „das große Problem“, von dem die Existenz der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung abhänge. „Die Unfähigkeit, dieses Produkt abzusetzen, ist die Hauptursache der zeitweisen Störungen in seinem Innersten und wird endlich zu seinem Zusammenbruch führen.“ Zwar seien die Krisen bisher stets behoben und die weitere Akkumulation immer wieder möglich gemacht worden, jedoch nur dadurch, daß „die kapitalistischen Länder eine Außenwelt hatten, nach der sie die Produkte abstießen, die sie selbst nicht absorbieren konnten“. Aber dieser Ausweg sei nur temporär. Die Durchkapitalisierung der agrarischen Absatzgebiete bezeichne „den Anfang vom Ende des Kapitalismus“ und werde den „unvermeidlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise“ herbeiführen. Im Gegensatz zu allen bisherigen Zusammenbruchstheoretikern beschritt Henryk Grossmann in seinem Hauptwerk Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (Leipzig 1929) und in zahlreichen Abhandlungen methodologischer und kritischer Natur (Eine neue Theorie über den Imperialismus und die soziale Revolution, 1928; Die Änderung des ursprünglichen Aufbauplans des Marxschen Kapital und ihre Ursachen, 1929; Die Goldproduktion im Reproduktionsschema von Marx und Rosa Luxemburg, 1932; Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem, 1932) einen neuen Weg, indem er als die entscheidende Ursache des unvermeidlichen Unterganges des kapitalistischen Systems die Überakkumulation des Kapitals in den hochentwickelten Ländern und die sich daraus ergebende ungenügende Verwertung des Kapitals, also mit Vorgängen der Produktion selber „Verwertungsproblem“) erklärt. Die von Marx entwickelte, aber im Keime bereits bei J.S. Mill (Principles of Political Economy, B.IV, Ch.4 u. 6) und A. Smith (Wealth of Nations, I, Ch.9) vorhandene, heute fast vergessene Lehre, wonach das Kapital eines Volkes bei Überschreitung eines bestimmten Umfanges seiner Akkumulation keine gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten mehr findet und daher entweder brachliegt oder exportiert werden muß, sucht Grossmann mit neuen, den modernen Wirtschaftsverhältnissen entnommenen Beweisgründen zu stützen. Während in der marxistischen Literatur der letzten 30 Jahre, seit Tugan-Baranowskys Krisen-Buch, das Krisen- und Zusammenbruchsproblem lediglich unter dem Gesichtspunkt der Disproportionalität der einzelnen Produktionssphären behandelt wurde, weist Grossmann nach, daß für Marx nicht die primär partiellen, aus der Disproportionalität sich ergebenden Krisen, sondern die primär allgemeine Krise, „allgemeine Überfüllung“ („general glut“), die durch „eine gleichzeitig auf der ganzen Oberfläche vorgehende, parallele Produktion“ (Marx) hervorgerufen werden, das entscheidende Problem sei. „Gerade die Möglichkeit solcher primär allgemeinen und nicht primär partiellen aus der Disproportionalität entstandenen allgemeinen Krisen bildet den Gegenstand der Marxschen Auseinandersetzung mit der Say-Ricardoschen Auffassung.“

Für die kapitalistische Produktionsweise, als einer sich stets erweiternden Reproduktion, ist das empirische Gesetz charakteristisch, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln (Pm = Maschinen, Gebäude, Roh- und Hilfsstoffe) mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Arbeit (A) in Bewegung gesetzt werden kann. Auf kapitalistischer Grundlage drückt sich das darin aus, daß, wie auch die amerikanischen Censuszahlen bestätigen, das auf den Kopf des Arbeiters angewandte konstante Kapital im Verhältnis zum variablen (Lohn-)Kapital (c : v; wie die Marxisten sagen: die organische Zusammensetzung des Kapitals) stets wächst. Infolge der fortschreitend höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals wird zwar, wegen der damit verbundenen Steigerung der Produktivität der Arbeit, der Lohn einen stets kleineren Anteil am Gesamtprodukt ausmachen, und insofern der aus einer gegebenen Arbeiterbevölkerung erzielte Mehrwert absolut wachsen (Wachsen der Mehrwertrate), im Verhältnis zu dem dauernd vergrößerten Gesamtkapital (c + v) aber fallen. Dies die dem Gesetz vom tendentiellen Fall der Profitrate zugrunde liegende Tatsache. Die Tendenz zum Fall der Profitrate haben als Phänomen bereits die Klassiker richtig gesehen (Ricardo), sie jedoch irrtümlicherweise naturgesetzlich – mit der abnehmenden Produktivität des Bodens – zu erklären versucht. Ricardo deduzierte aus dieser Erscheinung pessimistische Folgerungen für die Zukunft des Kapitalismus, da es ohne Profit „keine Kapitalakkumulation geben könne“. Er tröstet sich indes damit, daß „zum Glück“ von Zeit zu Zeit die Erfindungen in der Industrie (Maschinenwesen) und in der Landwirtschaft (Agronomie) diese verderbliche Tendenz durchbrechen, so daß sie sich erst in einer sehr fernen Zukunft auswirken werde.

Daß der Zusammenbruch des Kapitalismus auch bei Marx mit dem Fall der Profitrate zusammenhängt, haben bereits früher manche Theoretiker, wie Boudin, vor allem aber G. Charasoff (Das System des Marxismus, Berlin 1910) gefühlt. Worin aber dieser Zusammenhang und „die große Wichtigkeit, die das Gesetz für die kapitalistische Produktion hat“ (Marx), besteht, konnten sie nicht zeigen. Das ist leicht erklärlich, da sie immer nur auf den Fall der Profitrate allein hinweisen. Die Profitrate aber drückt doch nur ein prozentuales Verhältnis aus, nichts als einen Zahlenbegriff. Es ist offenbar, daß ein solcher nicht den Zusammenbruch eines realen Systems herbeiführen kann. Dazu bedarf es einer realen Ursache.

Im übrigen ist das tendenzielle Sinken der Profitrate eine den Kapitalismus seit seinen Anfängen bis heute, also während des ganzen Prozesses seiner Entfaltung, stetig begleitende Erscheinung. Er besteht trotz dieser Tendenz. Woher kommt also plötzlich die Wendung zum Zusammenbruch? Warum soll der Kapitalismus nicht ebenso wie bei einer Profitrate von 13-15% sich bei einer solchen von 4% behaupten können, da die sinkende Rate doch durch die wachsende Profitmasse wettgemacht würde? Zwar würde die wachsende Masse des Profits infolge des noch rascheren Wachstums des Gesamtkapitals sich in immer kleineren Prozentzahlen ausdrüdken. Die Profitrate würde dem Nullpunkt, also dem Grenzpunkt im mathematischen Sinne, zustreben, ohne ihn erreichen zu können, und doch könnte die Kapitalistenklasse sich infolge des Wachstums der Profitmasse wohlfühlen.

Grossmann hat zuerst darauf hingewiesen, daß der Zusammenbruch nicht aus der Profirate, also aus der Indexzahl des Profits, sondern aus der sich hinter ihr verbergenden realen Profitmasse in ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Kapitalmasse abzuleiten und zu erklären sei. Denn nach Marx hänge die Akkumulation „nicht allein von der Höhe der Profitrate, sondern auch von der Masse des Profits ab“. Soll die Akkumulation als dauernder Vorgang vor sich gehen, so müsse der Mehrwert der Kapitalisten notwendig für drei Zwecke verwendet, in drei Teile aufgespalten werden; es müsse aus ihm bestritten werden erstens ein Teil als zusätzliches konstantes Kapital (ac), ein zweiter als zusätzliches variables Kapital (av) – zur Anwendung zusätzlicher Arbeitskräfte –, der zurückbleibende dritte Teil könne als Konsumfonds von den Kapitalisten verbraucht werden. Nun wachse zwar mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise die Masse des Mehrwerts absolut. Soll jedoch – wie dies für die kapitalistische Produktion notwendig ist und auch in der theoretischen Analyse vorausgesetzt wird – die organische Zusammensetzung des Kapitals wachsen, dann muß aus dem Mehrwert ein relativ immer größerer Teil desselben für die Zwecke der zusätzlichen Akkumulation (ac) entnommen werden. Solange die absolute Masse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals – bei niedriger organischer Zusammensetzung – klein ist, ist der Mehrwert relativ groß und führt es zu rascher Steigerung der Akkumulation. Zum Beispiel bei einer Zusammensetzung von 200 c + 100 v + 100 m kann das konstante Kapital c (die Verwendung des ganzen Mehrwertes zu Akkumulationszwecken vorausgesetzt) um 331/3% seiner Anfangsgröße vermehrt werden. Bei einer höheren Stufe der Kapitalakkumulation, bei einer bedeutend höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals, z.B. von 14.900 c + 100 v + 150 m, reichte die gewachsene Mehrwertmasse, wenn sie als zusätzliches Kapital ac verwendet würde, nur zur Vergrößerung um 1% aus. Es sei leicht auszurechnen, daß bei fortgesetzter Akkumulation auf Basis einer stets höheren organischen Zusammensetzung ein Zeitpunkt kommen müsse, wo jede Akkumulation aufhöre, dies um so mehr, als zur Erweiterung der Produktion nicht jeder beliebige Bruchteil des Kapitals verwendet werden könne, sondern eine bestimmte Minimalgröße erforderlich sei, deren Umfang mit fortschreitender Kapitalakkumulation beständig wachse. Da also im Fortgang der Kapitalakkumulation aus der Mehrwertmasse ein nicht nur absolut, sondern auch relativ stets größerer Teil für Akkumulationszwecke entnommen wird, müßte auf den hohen Stufen der Akkumulation, wo das gesellschaftliche Gesamtkapital großen Umfang hat, dieser für die zusätzliche Akkumulation erforderliche Mehrwertteil ac so groß sein, daß er schließlich den Mehrwert fast ganz absorbieren würde. Es müßte ein Punkt eintreten, an dem die für die Konsumtion der Arbeiter und der Kapitalisten bestimmten Mehrwertteile (ay + K) absolut abnehmen. Dies wäre der Wendepunkt, an dem die bisher latente Zusammenbruchstendenz wirksam zu sein beginnt. Nun müßte sich zeigen, daß die für den Fortgang der Akkumulation erforderlichen Bedingungen nicht mehr voll erfüllt werden könnten, daß die Mehrwertmasse, obwohl absolut gewachsen, nicht ausreiche, um die drei Funktionen zu bestreiten. Wird, wie bisher angenommen, das zusätzliche konstante Kapital (ac) dem Mehrwert in erforderlicher Höhe entnommen, dann reiche der vorhandene Revenueteil nicht aus, um die Konsumtion der Arbeiter und der Unternehmer im bisherigen Umfang zu bestreiten. Ein verschärfter Kampf zwischen der Arbeiterklasse und den Unternehmern um die Verteilung der Revenue, steigender Druck der Unternehmer auf die Lohnhöhe würde unvermeidlich. Würden andererseits die Kapitalisten unter dem Druck der Arbeiterklasse gezwungen sein, die bisherige Lohnhöhe beizubehalten und würde dadurch der für die zusätzliche Akkumulation bestimmte ac-Teil vermindert, das Tempo der Akkumulation verlangsamt, so würde dies bedeuten, daß der Produktionsapparat nicht in dem durch den Fortschritt der Technik erforderlichen Maß erneuert und vergrößert werden könnte, es würde eine relative technische Rückständigkeit des Produktionsapparates Platz greifen. Jede weitere Akkumulation müßte in solcher Lage die Schwierigkeiten vermehren, da bei gegebener Bevölkerung die Mehrwertmasse nur unwesentlich gesteigert werden könne. Der aus den bisherigen Kapitalanlagen fließende Mehrwert müßte also brach liegen bleiben, es müßte ein Überfluß von müßigem, vergeblich nach Anlagemöglichkeiten suchendem Kapital eintreten. So erklärt Grossmann die tatsächliche technische Rückständigkeit alter kapitalistischer Länder mit hoher Stufe der Kapitalakkumulation wie England und die sich dort zeigende Tendenz zum Stillstand oder gar Rückgang der Lohnhöhe.

In einem „reinen“, d.h. isolierten Kapitalismus müßten sich diese Tendenzen bald durchsetzen, d.h. unter dem Druck der sich verschärfenden Klassengegensätze zum Zusammenbruch des Systems führen. In einem in die Weltwirtschaft verflochtenen Kapitalismus seien jedoch zahlreiche Gegentendenzen wirksam in Richtung einer Abschwächung der Zusammenbruchstendenz, die sich daher nur in vorübergehenden Krisen äußere.

Durch Verminderung der Produktionskosten des konstanten Kapitals und Verminderung des variablen Kapitals (Lohnhöhe), durch Abkürzung der Umschlagszeit, Verbesserung der Verkehrsorganisation, Verminderung der Vorräte und Handelsunkosten, durch die periodischen Entwertungen des vorhandenen Kapitals werde die Verwertung (Profitrate) immer wieder verbessert und die Profitmasse vergrößert. In derselben Richtung wirkten die Vorteile, die sich aus der Beherrschung des Weltmarktes ergeben, da im Außenhandel ein ungleicher Austausch stattfinde, die technisch fortgeschrittenen Länder für den Wert ihrer Waren einen höheren Gegenwert erhielten und auch so der Profit vergrößert werde. Dasselbe gelte vom Kapitalexport. Der Kapitalexport finde statt, weil in den hochkapitalistischen Ländern eine Überakkumulation von Kapital herrsche und daher ein Mangel an Anlagemöglichkeiten bestehe. Es werde durch ihn dem Kapitalexportland ein zusätzlicher Mehrwert injiziert, dadurch die ungenügende Kapitalverwertung verbessert und die Zusammenbruchstendenz abgeschwächt bzw. zeitweise aufgehoben. Hieraus erkläre sich die Heftigkeit der imperialistischen Expansion in der Spätphase der Kapitalakkumulation. Der Imperialismus sei ein Versuch, durch die Übertragung von Surplusprofiten aus den beherrschten Gebieten die in den hochkapitalistischen Ländern bestehende ungenügende Verwertung zu verbessern und somit die Lebensdauer des kapitalistischen Systems durch die Abschwächung der Zusammenbruchstendenzen zu verlängern. Auf diese Weise verbindet Grossmann die Zusammenbruchs- mit der Krisenlehre. Die Krise sei eine durch Gegentendenzen abgeschwächte, nicht zur vollen Entfaltung gelangte Zusammenbruchserscheinung. Aber schon aus der Natur der genannten Gegentendenzen ergebe sich, daß sie nur von temporärer Dauer seien und nur bis zu einem gewissen Grade imstande, die Zusammenbruchstendenz zu kompensieren: Die Vorräte könnten nur bis zu einer bestimmten unteren Grenze verringert werden, deren Unterschreitung die Kontinuität des Produktionsprozesses unterbrechen würde, der Lohn könne nur bis zu einer bestimmten Grenze herabgedrückt werden, bei deren Unterschreitung die Arbeitskraft der Arbeiterklasse nicht voll reproduziert werden, vielmehr eine Abnahme der Intensität und Qualität der Arbeitsleistung eintreten würde. Auch die Ausschaltung der Handelsprofite könne nur in einem begrenzten Ausmaß die Rentabilität der Industrie verbessern. Je mehr der Handel ausgeschaltet sei, um so geringer müßten auch die abschwächenden Wirkungen einer weiteren Ausschaltung sein. Auch die Gegenwirkung des Kapitalexportes könne nur temporärer Natur sein: In dem Maße, in dem durch die fortgesetzte Akkumulation die Zahl der kapitalübersättigten und deshalb kapitalexportierenden Länder und die Masse ihrer Kapitalien größer werde, um so größer werde die Konkurrenz auf dem Weltmarkt, der Kampf um die gewinnbringenden Anlagesphären. Auch von hier aus müßte also von einem bestimmten Punkt an eine Verschärfung der Zusammenbruchstendenz eintreten. Nicht anders wirke die Zunahme des fixen Kapitals. Auf den höheren Stufen der Kapitalakkumulation, auf denen das fixe Kapital einen großen Bestandteil des konstanten Kapitals ausmache, sei die Einschränkung der Produktion während der Krise für die Verbesserung der Rentabilität von immer geringerer Bedeutung, da durch die Produktionseinschränkung die Belastung des Betriebes durch Amortisation und Verzinsung des fixen Kapitals nicht geringer werde.

So zeige sich, daß durch die immanenten Gesetze der Kapitalakkumulation selbst die Gegentendenzen sich fortschreitend abschwächten: die Überwindung der Krisen werde immer schwieriger, die Zusammenbruchstendenz setze sich immer mehr durch. Die Aufschwungsperioden werden immer kürzer, die Dauer und Intensität der Krisenperioden nehmen zu. Grossmann versucht, die Phasenlänge des Konjunkturzyklus auf mathematischem Wege theoretisch zu bestimmen und durch seine Krisenformel die Faktoren aufzuzeigen, von welchen die Ausdehnung oder Abkürzung des Konjunkturzyklus abhängig sei. Ist für ihn die Krise eine nicht zur vollen Entfaltung gelangte Zusammenbruchstendenz, so ist der Zusammenbruch des Kapitalismus nichts anderes als eine durch keine Gegentendenzen gehemmte Krise. So gehe der Kapitalismus durch seine innere ökonomische Gesetzmäßigkeit seinem Ende entgegen.

Vom Standpunkt einer marxistischen Krisen- und Zusammenbruchstheorie ist für Grossmann von vornherein selbstverständlich, daß für das Proletariat nicht etwa ein fatalistisches Abwarten des „automatischen“ Zusammenbruches, also ohne daß es aktiv eingreife, in Frage kommen kann. Die alten Regierungen „stürzen“ niemals, auch in der Krisenzeit nicht, von selbst, wenn sie eben nicht „geworfen“ werden (Lenin). Der Sinn einer marxistischen Zusammenbruchstheorie besteht nach Grossmann nur in der Abgrenzung vom Voluntarismus und Putschismus, der die Revolution jederzeit, ohne Rücksicht auf die objektiv revolutionäre Situation, für möglich und nur von dem subjektiven Wollen der Revolutionäre abhängig hält. Der Sinn einer Zusammenbruchslehre liegt darin, daß die revolutionäre Aktion des Proletariats ihre stärksten Antriebe erst aus der objektiven Erschütterung des bestehenden Systems erhält und zugleich erst durch diese die Bedingungen für eine erfolgreiche Niederringung des Widerstands der herrschenden Klassen geschaffen werden.

Grossmann konnte zu diesen Ergebnissen, die er als eine Rekonstruktion der Marxschen Krisen- und Zusammenbruchslehre betrachtet, gelangen, weil er vorher den dem Kapital zugrunde liegenden Aufbauplan und die Marxsche Methode erforscht und wiederhergestellt hatte.

Rosa Luxemburg ging von der Annahme aus, daß im Kapital eine Lücke bestehe: daß Marx den Außenhandel nicht berücksichtigt habe, eine Annahme, die nur damit erklärt werden kann, daß bis dahin die dem Aufbau des Kapitals zugrunde liegende Methode als besonderes theoretisches Problem noch nicht erkannt war. Damit aber war R. Luxemburg die Möglichkeit zur vollen Erkenntnis der Marxschen Lösung versperrt.

Bedienten die Klassiker sich des Isolierverfahrens, so geht Marx – nach Grossmann – im Kapital nach dem sog. Annäherungsverfahren vor. Um die komplizierte Welt der Erscheinungen kausal zu erforschen, mache Marx ebenso wie die Klassiker zahlreiche vereinfachende Voraussetzungen, wodurch er sich von der konkreten Totalität der Erscheinungen zunächst entferne, obwohl doch gerade diese zu erklären sei. Die gewonnene Erkenntnis könne deshalb nur vorläufigen Charakter haben, nur die erste Erkenntnisstufe im Annäherungsverfahren darstellen, der eine weitere definitive Erkenntnisstufe folgen müsse. Zu jeder vereinfachenden Voraussetzung gehöre eine nachträgliche Korrektur, welche die zunächst vernachlässigten Elemente der realen Wirklichkeit im Schlußergebnis doch berücksichtigt. Sämtliche Erscheinungen und Probleme würden bei diesem Verfahren also zumindest zweistufig behandelt: zunächst unter vereinfachenden Annahmen, sodann in ihrer endgültigen Gestalt. Diese Methode liegt der Marxschen Analyse in allen drei Bänden des Kapital zugrunde. Wem das verborgen bleibe, der müsse fortwährend auf „Widersprüche“ zwischen den einzelnen Bestandteilen der Marxschen Lehre stoßen.




Schrifttum

Das ältere Schrifttum ist in der vorigen Auflage dieses Wörterbuchs genannt (Bd.II, S.876-79); es wird hierauf ausdrücklich verwiesen. An neuerem Schrifttum vgl:

Vgl. ferner das bei den Artt. „Bolschewismus“, „Internationale“, „Sozialdemokratische und kommunistische Parteien“, sowie bei den Biographien der Sozialisten genannte Schrifttum.


Zuletzt aktualisiert am 20.11.2008