Chris Harman


Gramsci gegen Reformismus

(1977)


Ursprünglich veröffentlicht in International Socialism (1. Serie), Nr.98, Mai 1977, und Nr.99, Juni 1977.
© 2002 Chris Harman. Alle Rechte liegen beim Autor.
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Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu ... wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert. Bei solch einer „Bearbeitung“ des Marxismus findet sich ... die Bourgeoisie mit den Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusammen.

V.I. Lenin, Staat und Revolution

Antonio Gramsci starb vor mehr als 40 Jahren, am 27. April 1937. Sein Tod wurde durch Jahre der Mißhandlung in Mussolinis Kerkern verursacht. Nun hat er in mancher Weise seit seinem Tod, durch die Entstellung seiner Ideen durch die, die nichts gemein haben mit seinen revolutionären sozialistischen Grundsätzen, noch mehr Unglück erlitten.

Gramsci war von 1916 an bis zu seinem Tod ein Berufsrevolutionär. Während dieser Zeit betonte er nachdrücklich die Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft durch den Sturz des kapitalistischen Staates.

Das war es, was ihn zu einem Journalisten verschiedener sozialistischer Zeitungen werden ließ, der in den Jahren 1916-18 revolutionäres Handeln von der Italienischen Kommunistischen Partei im Kampf gegen Kapitalismus und Krieg forderte. Das war es, was ihn 1919 und 1920 zum Zentrum der Bewegung der Turiner Arbeiterräte führte. Das war es, was ihn an der Spaltung der reformistischen Sozialistischen Partei teilnehmen ließ, um eine richtige revolutionäre Kommunistische Partei aufzubauen. Das war es, was ihn 1924-26 die Führung der Partei übernehmen ließ. Das war es, was ihn letzten Endes in Mussolinis Gefängnisse brachte, wo er versuchte, in Form von Notizen – den großartigen Gefängnisheften -, seine eigenen Ideen über die italienische Gesellschaft, die Strategie und Taktiken des Kampfes um die Staatsmacht, den Aufbau der revolutionären Partei und der revolutionären Presse zu entwickeln. Er hoffte, daß diese Notizen eine Hilfe für andere darstellen würden, die dieselben revolutionären Ziele hatten wie er selbst. Trotzdem wurden seine Schriften von denjenigen in Beschlag genommen, die den Marxismus zu einem akademischen und unrevolutionären Studiengebiet machen wollten.

Das wurde erst durch die systematische Entstellung Gramscis Ideen durch die Italienische Kommunistische Partei (PCI) möglich gemacht.
 

Die erste Periode der Entstellung

Die erste Periode der Entstellung begann bald, nachdem Gramsci gestorben war. Der stalinistische Führer der PCI, Palmiro Togliatti, hatte die Gefängnishefte nach einigen Wochen in seinen Händen. Zehn Jahre lang ließ er sie unveröffentlicht.

Als die Gefängnishefte ab 1947 endlich zu erscheinen begannen, taten sie dies in einer verstümmelten, zensierten Form. Salvatore Sechi zeigte auf, welche Formen die Zensur der Briefe Gramscis aus dem Gefängnis annahmen:

  1. Die Entfernung von Hinweisen auf verschiedene Marxisten – Bordiga, Trotzki und ebenso Rosa Luxemburg – die zu dieser Zeit von Togliatti als „Faschisten“ porträtiert wurden;
  2. Die Geheimhaltung der Tatsache, daß Gramsci mit der politischen Linie der Kommunistischen Partei 1931 gebrochen hatte.
  3. Die Darstellung von Gramscis Privatleben, als beruhe es auf einer idealisierten Heirat, „ein nützlicher Mythos um Menschen anhand eines konkreten Beispiels an den kommunistischen Loyalismus glauben zu machen mit Respekt gegenüber der Unversehrtheit der Kleinfamilie; ein Instrument der Kollaboration mit den Katholiken, die die Kommunistische Partei in der Nachkriegsperiode betrieben hat.
  4. Die Unterdrückung der Tatsache, daß Gramsci wiederholt versucht hatte, an Bücher heranzukommen, die ihm Zugang zu den Gedanken Trotzkis, nach seiner Ausweisung aus Rußland, 1929, ermöglicht hätten.[1]

Das Ziel solcher Entstellungen war es, Gramsci als treuen Stalinisten par excellence zu präsentieren. Als solcher konnte Gramsci eine extrem nützliche Waffe für eine Ideologie darstellen, die praktisch keine sozialen Denker von Bedeutung für sich begeistern konnte – eine Waffe, die benutzt werden konnte, um andere italienische Intellektuelle mit dem reichen theoretischen Erbe der PCI zu beeindrucken und die intellektuelle Armut des Kremls und seiner Gefolgschaft zu verbergen; eine Waffe ebenso, um sie gegen die Linke zu benutzen, um zu zeigen, daß die PCI, die Italien nach 1945 solidarisch mit den Christdemokraten regierte, dieselbe Partei war, die sich sogar von den extrem linken, reformistischen Maximalisten der Sozialistischen Partei 1921 gespalten hatte.

Die Zensur und Entstellung seiner Gedanken war notwendig, weil Gramsci in Wirklichkeit nicht mit dem stalinistischen Mythos übereinstimmte. Sein letzter Brief vor der Inhaftierung war ein Protest an Togliatti über die bürokratische Behandlung der Linken Opposition in Rußland durch Stalin. Togliatti zerriß den Brief.

1931 besuchte Gramscis Bruder ihn im Gefängnis. Gramsci erzählte ihm, daß er die Politik der ultralinken stalinistischen „Dritten Periode“, die Togliatti ausführte, ablehne. (Togliatti hatte drei Mitglieder des Zentralkomitees ausgestoßen, weil sie gegen diese Linie opponierten, und er selbst war unter dem Pseudonym Ercoli, in der Vorfront derer, die diese Linie gegen Trotzkis Kritik verteidigten.) Gramscis Bruder war zu ängstlich, Togliatti die Neuigkeiten zu überbringen – er wußte, es würde bedeuten, daß die Partei die Verteidigung seines Bruders gegen seine faschistischen Kerkermeister aufgeben würde.

Gramsci gab seine Bemühungen auf, die Diskussion mit den anderen kommunistischen Gefangenen aufrecht zu halten, weil einige von ihnen, Togliatti treu nachplappernd, Gramsci als „Sozialdemokraten“ (der Linie der „Sozialfaschisten“) denunzierten. Eine der letzten politischen Stellungnahmen, die er vor seinem Tod seinen Freunden gab, war, daß er die Zeugenaussage gegen Sinowjew in den Moskauer Prozessen nicht glaubte. Togliatti applaudierte selbstverständlich den Prozessen in Moskau.

Nach Gramscis Tod versuchte Togliatti, sich als sein lebenslanger politischer Vertrauter darzustellen. Wenn sie auch 1919-1920 und nochmals 1925-26 eng zusammengearbeitet hatten, waren sie doch in Fragen der revolutionären Strategie und Taktiken in den Zwischenjahren weit voneinander entfernt. Und es gab nach der Inhaftierung Gramscis 1926 überhaupt keinen Kontakt zwischen ihnen.
 

Die „eurokommunistische“ Periode der Entstellung

Jedoch war es am Ende Togliatti, der erlaubte, daß die Wahrheit über die erste Entstellung ans Licht kam, indem er Gramscis unzensierte Briefe und Notizen zur Veröffentlichung freigab. Zum Teil geschah dies, weil er dazu gezwungen wurde, als alte Kommunisten alles ausplauderten, was Gramsci wirklich dachte. Zum Teil geschah es, weil die Zeit Gramsci zu einer fernen und weniger gefährlichen Figur machte. Vor allem aber war das Ziel, einen neuen Abschnitt der Entstellung Gramscis Ideen einzuleiten. Die PCI machte den ersten Schritt im Bruch der westlichen kommunistischen Parteien mit Moskau. Dies sollte später als „Eurokommunismus“ bezeichnet werden.

In den frühen 60er Jahren entfernte sich die PCI von Moskau. Ihre Führer träumten davon, wieder in die bürgerliche Regierung aufgenommen zu werden, aus welcher sie 1947 rausgeworfen worden waren. Um dieses Ziel zu erreichen, versuchten sie den bürgerlichen Parteien zu zeigen, daß sie nicht länger vom Kreml abhängig wären. Togliatti, einer von Stalins Chef-Kollaborateuren in den 30er Jahren, wurde nach 1956 zu einem seiner Hauptkritiker. Der Bruch in der Linie führte international und in der PCI selbst zu bösen Auseinandersetzungen mit Stalins Verteidigern. Es war ein Kampf an zwei Fronten – ein Kampf um die Unabhängigkeit der Partei von Stalins Erben im Kreml zu betonen und um den Beweis, daß eine Regierung, die die PCI einschloß, keine drastische Änderung in der Staatsmaschinerie bedeuten würde. Gramscis zuerst zensierten Kritiken an Stalin wurden zu einer nützlichen Waffe an der ersten Front. Und eine Entstellung von Gramscis Ideen über den Staat war nützlich an der zweiten.

Gramsci, zuerst der Schutzheilige des italienischen Stalinismus, wurde schnell zum Schutzheiligen des Eurokommunismus. Seine Ideen wurden zu Hilfe gerufen, um den „historischen Kompromiß“ der PCI mit den Christdemokraten zu rechtfertigen. In Großbritannien wurde er vom intellektuellen rechten Flügel der Britischen Kommunistischen Partei aufgegriffen. Er wurde sogar angeführt, um die Einkommenspolitik zu rechtfertigen!

Der Stern des Eurokommunismus verblaßte bald. Aber die Gramsci-Interpretationen, die er genährt hatte, lebten fort: verbreitet von Zeitschriften wie Marxism Today, in einem anscheinend nicht enden wollenden Fluß akademischer Bücher; und immer mehr fanden sie Verbreitung unter den intellektuellen Labour-Linken.

Es gibt jedoch nur wenige marxistische Denker, deren Geist vom Reformismus entfernter war als der Gramscis. Seine Ideen beruhten auf Vorstellungen, die heutige Reformisten als „Aufrührertum“, „Arbeitertümelei“, „Spontaneismus“ und „Basistümelei“ geißeln.
 

„Aufrührertum“

Seit seiner ersten Verwicklung in die sozialistische Bewegung stand Gramsci Parlamentariern mit bitterer Verachtung gegenüber. Im Mai 1918 verglich er sie mit „einem Fliegenschwarm, der Jagd auf eine Schüssel Pudding macht, an ihr festklebt und unrühmlich verendet.“ Mit Worten, die auf das heutige Italien bezogen werden könnten, erklärte er:

Die politische Dekadenz, die die Klassenkollaboration mit sich bringt, begründet sich in der heftigen Expansion einer bürgerlichen Partei, die sich nicht damit zufrieden gibt, nur am Staat festzuhalten, sondern sich auch der Partei bemächtigt, die antagonistisch zum Staat steht [der sozialistischen Partei]."

Die Betonung Gramscis des Aufbaus der Fabrikräte 1919, kommt aus seiner Überzeugung, daß die Arbeiterklasse nur mit neuen, nicht-parlamentarischen Institutionen ihre Revolution durchführen könne:

Die Sozialisten haben ganz einfach die historische Realität akzeptiert, die kapitalistische Initiative hervorgebracht hat. Sie glauben an die Beständigkeit und Notwendigkeit der Institutionen des demokratischen Staates. In ihren Augen kann die Form dieser demokratischen Institutionen korrigiert, hier und da verbessert werden, aber im Fundament muß sie respektiert werden.

Wir allerdings glauben nach wie vor, daß der sozialistische Staat nicht auf den Institutionen des kapitalistischen Staates aufbauen kann ... Der sozialistische Staat muß eine fundamentale neue Schöpfung sein.

Gramscis Abneigung dem Reformismus gegenüber wuchs noch in den darauffolgenden Jahren. Diese Abneigung zielte nicht nur auf die rechten Sozialdemokraten um Turati, sondern auch auf die extrem linken Sozialdemokraten, die von Serrati angeführt wurden – die sogenannten Maximalisten, die ein Vokabular benützten, was die heutigen linken Sozialdemokraten erschrecken würde. Zuerst gaben diese Reformisten im großen Streik April 1919, und erlaubten, daß die Turiner Arbeiter isoliert wurden und von den Arbeitgebern besiegt wurden. Dann lehnten sie es ab, die revolutionäre Führung abzugeben, als – durch eine erhebliche Steigerung der Militanz – im September 1920 in ganz Norditalien Fabriken besetzt wurden. Dieser Verrat war der Grund für Gramsci, sich denen anzuschließen, die sich von der Sozialistischen Partei trennten und im Jahre 1921 die Kommunistische Partei Italiens gründeten.

Gramscis Abneigung gegen rechte und linke Reformer war kein Zeichen der „mangelnden politischen Reife“, die er später überwand, wie es manche seiner gegenwärtigen Anhänger gerne hätten. Diese Abneigung blieb ein wichtiger Aspekt seiner letzten Anstrengungen für die Kommunistische Partei vor seiner Verhaftung – der Thesen, die er auf dem Lyoner Kongreß der PCI 1926 vorstellte.

Die Lyoner Thesen sind die reifsten unter den veröffentlichten Werken Gramscis und sind hauptsächlich gegen die ultralinke Bordiga Gruppe gerichtet, die bis dahin die PCI dominierte.

Die Hauptunstimmigkeit war, daß Gramsci darauf beharrte, die reformistischen Führer durch Vorschläge zu Einheitsfronten zu bestimmten Themen bloßzustellen. Gleichzeitig war er unnachgiebig in seinem Standpunkt, daß die „Sozialdemokratie, obwohl sie nach wie vor ihre soziale Basis im Proletariat behält, in Bezug auf ihre Ideologie und die von ihr eingenommene politische Rolle nicht als rechter Flügel der Arbeiterklassenbewegung, sondern als linker Flügel der Bourgeoisie eingestuft werden und als solcher vor den Augen der Massen demaskiert werden muß."

Dies kommt Lenins Definition der reformistischen Parteien als „bourgeoisen Arbeiterparteien“ sehr nahe. Es ist nicht verwunderlich, daß die Lyoner Thesen, obwohl sie zu den besten Analysen Gramscis zählen, zu den letzten Schriften gehören, die einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wurden.

Gramscis Abneigung gegen den Reformismus ging einher mit einem klaren Verständnis für die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstands. Wie in den Lyoner Thesen zu lesen ist:

Die Niederlage des revolutionären Proletariates in dieser entscheidenden Periode (1919 – 20) wurde durch die politischen, organisatorischen, taktischen und strategischen Mängel der Arbeiterpartei verursacht. Die Konsequenz dieser Mängel war, daß das Proletariat nicht erfolgreich darin war, sich an die Führungsspitze des Aufstands der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit zu stellen, und ihn in Richtung einer Schaffung eines Arbeiterstaates zu lenken. Stattdessen wurde er von anderen sozialen Klassen beeinflußt, was seine Aktivitäten lähmte."

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer kommunistischen Partei, deren „grundlegende Aufgabe“ es ist, „dem Proletariat und seinen Verbündeten das Problem des Aufstands gegen den bourgeoisen Staat und den Kampf für die Diktatur des Proletariats vorzulegen.“

Natürlich wird der bewaffnete Aufstand in den „Gefängnisheften“, die unter den wachsamen Augen der faschistischen Schließer geschrieben wurden, nicht offen erwähnt. Aber Gramsci zeigte in einer seiner wenigen Gespräche, die er im Gefängnis führen konnte, daß er sein „unreifes“ Beharren auf den Aufstand nicht abgelegt hatte:

Die gewalttätige Eroberung der Macht erfordert seitens der Partei der Arbeiterklasse die Schaffung einer Organisation militärischen Typs, tief in jeden Teil des bourgeoisen Staatsapparates eingepflanzt und mit der Möglichkeit ihn zu verletzen und ihm schwere Schläge im entscheidenden Moment des Kampfes beizubringen.
 

Arbeitertümelei

Der Schlüssel für den Kampf um die Macht war für Gramsci die Arbeiterklasse – die Arbeiter aus Fleisch und Blut, die sich in den Turiner Fabriken abmühten, und nicht die mythischen, idealisierten Arbeiter des stalinistischen und maoistischen Jahrgangs. „Die Konzentration des Kapitals“ schrieb er 1919, „ergibt eine parallele Konzentration der arbeitenden Menschenmassen. Dieser Fakt ist die Grundlage für alle revolutionären Thesen des Marxismus.“

Diese Betonung auf die zentrale Rolle der Arbeiterklasse lag Gramscis Beteiligung in den Turiner Fabrikräten der Jahre 1919 und 1920 zugrunde und ist in den Lyoner Thesen wiederzufinden.

Die Organisation der Partei muß auf der Grundlage der Produktion konstruiert werden und folglich des Arbeitsplatzes (Zellen). Dieses Prinzip ist notwendig für die Schaffung einer „bolschewistischen“ Partei. Es ergibt sich aus der Tatsache, daß die Partei in der Lage sein muß, die Massenbewegung der Arbeiterklasse zu führen, welche in natürlicher Weise durch die Entwicklung des Kapitalismus in Übereinstimmung mit dem Produktionsprozeß vereint wird. Durch die Plazierung der organisatorischen Basis am Ort der Produktion, zeigt sie, auf welche Klasse sie sich stützt. Sie stellt klar, daß sie eine Klassenpartei ist und daß sie eine Partei einer bestimmten Klasse ist, die der Arbeiterklasse.

Jede Ablehnung des Prinzips, welches die Organisation der Partei auf die Produktion gründet, rührt von Konzeptionen her, die mit dem Proletariat fremden Klassen verbunden sind... und sind ein Ausdruck des anti-proletarischen Geistes der kleinbürgerlichen Intellektuellen, die glauben, sie seien das Salz der Erde und den Arbeiter als das materielle Instrument sozialer Änderung ansehen, statt als bewußten und intelligenten Protagonisten der Revolution."

Die Partei muß Intellektuelle und Bauern haben aber, „es ist notwendig, jede Konzeption vehement als konterrevolutionär abzulehnen, die die Partei in eine „Synthese“ heterogener Elemente verwandelt – statt, ohne jeglicher Konzessionen dieser Art, daran festzuhalten, daß sie ein Teil der Arbeiterklasse ist; daß das Proletariat ihr mit seiner eigenen Organisation einen Stempel aufdrücken muß; und daß dem Proletariat innerhalb der Partei eine Führungsrolle garantiert sein muß.“

Der Grund hierfür ist einfach – es ist die Arbeiterklasse, die die entscheidende revolutionäre Kraft ist:

Die Praxis der Fabrikbewegung (1919-20) hat gezeigt, daß nur eine Organisation, die sich dem Produktionsort und dem Produktionssystem anpaßt ist, es möglich macht, einen Kontakt zwischen den höheren und niedrigeren Schichten der arbeitenden Massen herzustellen (gelernte Arbeiter, ungelernte Arbeiter und Aushilfen).

Gramsci war weit entfernt, die äußerste Wichtigkeit zu verneinen, daß auch die landlosen Landarbeiter und Bauern für die Revolution gewonnen werden müssen. Er sah auch große Vorteile für die Arbeiterklasse, Teile der Mittelklasse zu gewinnen. Dies hieß aber für ihn, daß die Arbeiterklasse eine richtungsweisende Rolle spielen mußte und nicht, daß sie ihre sozialistischen Ziele verstecke. Die Revolutionäre müßten darauf vorbereitet sein, an der Seite von Nicht-Revolutionären um Themen zu kämpfen, die noch weit vor dem Sozialismus lagen, wie der Forderung einer demokratischeren Volksvertretung. Aber es mußte deutlich sein, daß:

...es keine Möglichkeit einer nicht-sozialistischen Revolution in Italien gibt. In den kapitalistischen Ländern ist die einzige Kraft, die eine wirkliche und tiefe soziale Änderung herbeiführen kann, die Arbeiterklasse.

Sogar nach dem Bruch mit Bordigas Ultra-Radikalismus blieb Gramsci eben auf dieser Grundlage, bitterlich gegen den rechten Flügel in der Kommunistischen Partei, geführt von Tasca, (wessen Politik die Partei weit links der heutigen Eurokommunisten plazieren würde) eingestellt. Gramsci bestand darauf, daß es „Pessimismus“ und eine „Abweichung“ sei, zu glauben, daß

... da das Proletariat das Regime nicht bald umstürzen kann, die beste Taktik diejenige sei, wenn schon nicht einen tatsächlichen bürgerlich-proletarischen Block zur konstitutionellen Eliminierung des Faschismus zu bilden, zumindest eine passive Haltung der revolutionären Vorhut und eine Nicht?Intervention der Kommunistischen Partei im direkten politischen Kampf einzunehmen, was bedeuten würde, daß die Bourgeoisie das Proletariat als Stimmvieh gegen den Faschismus benutzen könne. Dieses Programme wurde durch die Formel ausgedrückt, daß die Kommunistische Partei der „linke Flügel“ der Opposition zum Sturz des Faschistischen Regimes sein müsse.

Er sagte, die Kommunistische Partei müßte einige derselben demokratischen Slogans wie die bürgerliche Opposition vorbringen – aber mit dem Ziel, daß „diese Parteien, durch die Probe ihrer Taten, sich vor den Massen demaskieren und den Einfluß auf sie verlieren werden.“

Es gibt keinen Zweifel darüber, daß wenn Gramsci noch leben würde, seine Möchtegern-Bewunderer innerhalb der PCI und der Britischen Kommunistischen Partei ihn genauso beschimpfen würden, wie sie die „Socialist Workers Party“ beschimpften, da diese nicht die Notwendigkeit einer „breiten demokratischen Allianz“ aller „anti-monopolistischen“ Kräfte sähen.
 

Spontaneismus

Die am meisten entwickelten Gedanken Gramscis betreffen den Kampf um die Entwicklung des Bewußtseins der Arbeiterklasse.

Sein Ausgangspunkt ist, daß er darauf besteht, daß die Arbeiterklasse nicht mechanisch für den Kampf trainiert werden kann, wie eine Armee. Ihre Disziplin hängt von ihrem Bewußtsein ab, welches wiederum mit den praktischen Erfahrungen des Kampfes wächst.

Gramscis Ideen in Bezug auf dieses Thema erwuchs aus einer Polemik gegen die anderen drei Hauptströmungen der italienischen Linken im ersten Jahr nach dem ersten Weltkrieg.

Die größte, von Serrati geführte Strömung sah die Sozialistische Partei als die Verkörperung des Klassenbewußtseins an. Die Diktatur des Proletariats würde die „Diktatur der Sozialistischen Partei“ sein, wie er sagte. Für ihn war das Klassenbewußtsein identisch mit der langsamen, systematischen Aufgabe, die Partei aufzubauen. Die zweite Strömung der ultra?linken Revolutionäre um Bordiga glaubte nicht, daß Serratis Partei es jemals wagen würde, die Macht zu übernehmen. Aber auch sie sahen die Verkörperung des Bewußtseins in einer Partei, in der Kommunistischen Partei, die als kleine Elitetruppe hochtrainierter und disziplinierter Kader angesehen wurde. Erst, nachdem sie die Macht für die Klasse übernommen hätte, würden Sowjets (Arbeiterräte) gebildet werden. Die dritte Strömung war der rechte Flügel der Kommunistischen Partei, der von Tasca geführt wurde. Sie betonte Bildung der Arbeiter einerseits und Vereinbarungen mit den „linken“ Gewerkschaftsführern andererseits. Trotz ihrer Differenzen teilten alle drei Gruppen die Meinung, daß Klassenbewußtsein von den Parteiführern auf die Arbeiter heruntergeworfen würde, wie Krümel zu den Spatzen.

Im Gegensatz dazu bestimmte für Gramsci der Charakter und die Führung, die man den sich spontan entwickelnden Kämpfen und Arbeiterinstitutionen zukommen ließ, das Wachstum des Bewußtseins. Wie für Lenin und Trotzki waren für ihn die Sowjets nichts abstraktes, was von der Partei im richtigen Moment installiert wurde, sondern etwas, das als Organ der Arbeitermacht in der Fabrik entsteht, möglicherweise ursprünglich anläßlich eines augenscheinlich unwichtigen Themas – die halb-aufrührerischen Besetzungen der Fabriken im September 1920 wurden durch den Abbruch der Verhandlungen über ein nationales Lohnabkommen für Ingenieure hervorgerufen. Der Sowjet muß sich aus einer Organisation heraus entwickeln, die die Arbeiter vereinigte, unabhängig von ihrem Handwerk, ihrer Gewerkschaft oder sogar unabhängig davon, warum sie eigentlich in einer Gewerkschaft waren, am Arbeitsplatz. Einer Organisation, die ihre Kämpfe mit den Kämpfen jener anderen Arbeiter vereinigt, die mit ihnen im Produktionsprozeß verbunden sind; einer Organisation, die dem wachsenden Bewußtsein ihrer Einigkeit, Stärke und Möglichkeit, die Produktion zu kontrollieren, Ausdruck geben kann.

Die Turiner Arbeiterräte entwickelten sich nicht einfach aus der Luft heraus. Sie begannen als „interne Kommissionen“ in den Fabriken, mit ähnlichen Aufgaben wie sie Kommissionen der shop stewards in Großbritannien zukommt. Gramsci sah seine eigene Rolle und die seiner Genossen des L’Ordine Nuovo, der Zeitung, die sie in Turin produzierten, darin, die spontane Entwicklung zu begünstigen, die internen Kommissionen allgemein zu verbreiten ihre Basis zu verbreitern, sie dazu zu ermuntern, vom Management mehr und mehr Macht zu übernehmen und sich zu verbinden.

Gramsci faßte es wie folgt in Worte:

Das Problem der Entwicklung der internen Kommissionen erwuchs zum zentralen Problem, der Idee von L’Ordine Nuovo. Es wurde später als das fundamentale Problem der Arbeiterrevolution angesehen; das Problem der proletarischen „Freiheit“.

Für uns und unsere Anhänger wurde L’Ordine Nuovo das „Journal der Fabrikräte“. Die Arbeiter liebten L’Ordine Nuovo und warum liebten sie sie? Weil sie in ihren Artikeln einen Teil ihrer selbst, den besten Teil, wiedererkannten. Sie spürten, daß ihre Artikel von demselben Geist der inneren Suche durchdrungen waren wie sie selbst: „Wie können wir frei werden? Wie können wir selbst werden?“ Weil ihre Artikel nicht kalt und intellektuell strukturiert waren, sondern von unseren Diskussionen mit den besten Arbeitern herrührten; sie arbeiteten sorgfältig die tatsächlichen Gefühle, Ziele und Leidenschaften der Turiner Arbeiterklasse aus, die wir selbst provoziert und getestet hatten. Weil ihre Artikel wirklich eine Mitschrift der tatsächlichen Vorgänge waren, betrachtet als Momente im Prozeß der inneren Befreiung und Selbsterkennung der Arbeiterklasse. Deshalb liebte die Arbeiterklasse L’Ordine Nuovo' und wie ihre Idee „geformt“ wurde.

Als er diese Zeilen im Jahre 1920 schrieb, war Gramsci noch ein Mitglied der Sozialistischen Partei. Erst später im gleichen Jahre, nach der Niederlage der Besetzungen, erkannte er die Notwendigkeit mit dem linken Reformismus zu brechen und eine homogene revolutionäre Partei zu bilden. Aus diesem Grunde fehlt in seinen Schriften über die Fabrikräte jede ausdrückliche Diskussion darüber, wie eine revolutionäre Partei in diesen arbeiten solle. Aber diese Schriften betonen, wie einzelne Revolutionäre und die revolutionäre Zeitung arbeiten sollten, um die entstehenden Elemente kommunistischer Organisation und kommunistischen Bewußtseins, wie sie spontan entstehen, zu ergreifen, um sie zu allgemein zu verbreiten und miteinander abzustimmen, um sie den Arbeitern bekannt zu machen.

Gramsci kam auf dieselben Fragen im Jahre 1923 zurück, als er seine eigene Bereitschaft kritisierte, seine eigenen Ansichten drei Jahre lang unter Bordigas Dogmatismus zu begraben.

Wir betrachteten die Partei nicht als Ergebnis eines dialektischen Prozesses in welchem die spontane Bewegung der revolutionären Massen und der organisatorische und richtungsweisende Wille der Mitte zusammenlaufen, sondern nur als etwas, was in der Luft schwebt, was sich in und für sich selbst entwickelt, und was die Massen erreichen werden, wenn ihre Situation günstig ist und wenn die revolutionäre Welle ihren Höhepunkt erreicht hat.

Beim Aufbau der revolutionären Partei geht es nicht darum, den Arbeitern Ideen durch abstrakte Propaganda einzubleuen. Auch ist es falsch zu warten, bis die Arbeiter durch die Auswirkungen der ökonomischen Krise anfangen zu handeln. Es kommt darauf an, eine Verbindung zu jedem spontanen und begrenzten Kampf herzustellen und von dort aus zu verallgemeinern. In der eher abstrakten Terminologie der Gefängnishefte nahm Gramsci genau dieses Thema wieder auf, wo er schreibt, daß es Aufgabe der Partei sei, die Theorie, die unausgesprochen in den kollektiven Kämpfen der Arbeiter enthalten ist, herauszuarbeiten und diese all den anderen rückständigen, alten „Theorien“, in den Köpfen der Arbeiter entgegenzustellen.

Man kann in einer bestimmten Praxis eine Theorie konstruieren, die indem sie übereinstimmt und sich identifiziert mit den entscheidenden Elementen der Praxis selbst, den bestehenden historischen Prozeß beschleunigen, die Praxis homogener, zusammenhängender, schlüssiger und in allen ihren Elementen effizienter machen, und dadurch – mit anderen Worten – kann man ihr Potential zum Maximum entwickeln.

Dies ist sehr weit entfernt von der reformistischen Vision der Eurokommunisten und einiger der sozialdemokratischen Linken, die im Kampf um den Sozialismus einen langsamen, ausschließlich ideologischen Prozeß der Erziehung sehen, der dazu führen soll, daß eine immer größere Anzahl der Arbeiter die richtige Mischung von Abgeordneten und Gewerkschaftsfunktionären wählt.

„Basistümelei“

Gramsci empfand nur Verachtung für reformistische Politiker, die versuchten, die Entwicklung des Klassenkampfes in enge, vorgezeichnete Kanäle zu lenken, und die „versuchten, seinen klaren Weg willkürlich, durch vorgefertigte Synthesen zu behindern.“ 1919 begann er die Quelle dieses Hindernisses zu analysieren, und fand sie in der Sozialistischen Partei und der Gewerkschaftsbürokratie. Er wies besonders auf die Entfremdung hin, die viele Arbeiter gegenüber ihren eigenen Gewerkschaften empfanden und analysierte die Ursprünge dieses Phänomens in der Tatsache, daß Gewerkschaften Reformen innerhalb des Kapitalismus erreichen wollen, und auch dementsprechend strukturiert und mit Mitarbeitern ausgestattet sind.

Gewerkschaften, erklärte Gramsci, „sind alle möglichen Formen der proletarischen Organisation, in der besonderen Periode der Geschichte, die vom Kapital dominiert wird ... In dieser Periode, in der einzelne nur danach bewertet werden, wieviel Waren sie haben und mit ihrem Besitz handeln, werden auch die Arbeiter Händler, die mit dem einzigen Besitz handeln, den sie haben, ihrer Arbeitskraft ... Sie haben diese riesigen Apparate zur Konzentration der lebendigen Arbeit hervorgebracht, und bestimmen Preise und Stunden und haben den Markt diszipliniert. Die Gewerkschaft hat im wesentlichen einen Wettbewerbscharakter, nicht einen kommunistischen. Sie kann nicht das Instrument zur radikalen Erneuerung der Gesellschaft sein.“

So entstand eine reine Kaste von Gewerkschaftsfunktionären und – Journalisten, mit einer eigenen Gruppenpsychologie, die völlig im Widerspruch zu der der Arbeiter steht.

Diese Analyse und die Erfahrung der Turiner Fabrikräte führte Gramsci zunehmend dazu, die Gewerkschaftsbürokratie als aktiven Saboteur des Klassenkampfes zu betrachten: „Der Gewerkschaftsfunktionär sieht die industrielle Legalität als einen permanenten Fakt an. Nur allzu oft verteidigt er dieselbe Perspektive, wie die Eigentümer.“ Nach dem Verrat von 1920 wurde Gramsci die konterrevolutionäre Rolle der Gewerkschaftsführung klar.

Der Turiner und Piemonter Generalstreik schlug frontal gegen die Sabotage und Gegenwehr der Gewerkschaftsorganisationen ... Er betonte die dringende Notwendigkeit, den gesamten bürokratischen Mechanismus der Gewerkschaftsorgane zu bekämpfen, die das stärkste Bollwerk für die opportunistischen Aktivitäten der Parlamentaristen und Reformisten darstellen, die versuchen, jede revolutionäre Initiative der arbeitenden Massen zu ersticken.

Er schrieb in den Lyoner Thesen, daß

Die Gruppe, die die Konföderation der Arbeit [der wichtigsten italienischen Gewerkschaftsföderation der frühen 20er Jahre] anführt, sollte von diesem Blickwinkel aus, als, mit anderen Worten, Vehikel des zerbröckelnden Einflusses der anderen Klassen auf die Arbeiter angesehen werden.

Auch in seinen Gefängnisheften hielt Gramsci diese „unreifen“, „arbeitertümelnden“ und „basistümelnden“ Ansichten aufrecht. 1930 schieb er:

Sogenannte „spontane“ Bewegungen zu vernachlässigen, oder sogar zu verachten, sie also nicht mit einer bewußten Führung auszustatten oder sie nicht in eine höhere Sphäre zu bringen, indem man sie in die Politik einbringt, kann oft zu extrem ernsten Konsequenzen führen.

Er führte die Niederlage von 1920, die den Weg für Mussolinis Coup im Jahre 1922 ebnete, auf das Versagen von Serrati, Bordiga, Tasca und gleichermaßen zurück, den spontanen Bewegungen der Arbeiter und Bauern eine solche Führung anzubieten:

Fast immer wird eine „spontane“ Bewegung der subalternen Klassen [arbeitende Menschen] von einer reaktionären Bewegung des rechten Flügels der herrschenden Klasse begleitet. Auf der einen Seite erzeugt beispielsweise eine wirtschaftliche Krise Unmut und spontane Bewegungen auf Seiten der subalternen Klasse, andererseits auch konspirative Tätigkeit seitens der reaktionären Gruppen, die die objektive Schwächung der Regierung für den Versuch eines Staatsstreichs ausnutzen wollen. Unter den wichtigsten Gründen für diese Coups muß das Versagen der verantwortlichen Gruppen [der Sozialistischen Partei] genannt werden, den spontanen Revolten eine bewußte Führung zu geben und sie dadurch zu einem positiven politischen Faktor zu machen.“ [Hervorhebungen des Autors.]

Natürlich war Gramsci kein „Arbeitertümler“, kein „Spontaneist“ und „Basistümler“ im wirklichen Sinne des Wortes, nämlich im Sinne von die interventionistische Rolle der Marxisten im Klassenkampf abzuwerten. Ganz im Gegenteil. Seine eigene Aktivität in den Jahren 1919-20 und 1924-26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht ein perfektes) Beispiel solcher Intervention.
 

Das zentrale Argument

Die reformistischen Entstellungen von Gramscis Denken berufen sich auf das folgende Argument: Gramsci wird nachgesagt, er zeige auf, daß die westlichen Gesellschaften sich sehr vom zaristischen Rußland unterscheiden. Die Macht der herrschenden Klasse im Westen beruht nicht hauptsächlich auf der physischen Kontrolle durch den Militär- und Polizeiapparat, sondern auf der ideologischen Beherrschung, die durch ein Netzwerk unabhängiger Institutionen ausgeübt werde, die das alltägliche Leben durchdringt (die „Zivilgesellschaft“) – die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen, die Massenmedien. Der repressive Staatsapparat ist nur eine unter vielen Verteidigungskräften der kapitalistischen Gesellschaft.

Daraus folgt, daß der Hauptkampf für Revolutionäre nicht der direkte Angriff auf die Staatsmacht ist, sondern der Kampf um die ideologische Vorherrschaft, um das, was Gramsci „Hegemonie“ nennt. Die Hegemonie wird in einem sich lang hinziehenden Prozeß gewonnen, der viele Jahre dauert und unendliche Geduld und Opfer seitens der Arbeiterklasse verlangt. Insbesondere kann die Arbeiterklasse nur die „Gegenhegemonie“ werden, indem sie die wichtigsten Teile der Intellektuellen und der Klassen, die sie vertreten, gewinnt, weil sie eine bedeutende Rolle in der Besetzung des Apparates mit der ideologischen Dominanz spielen. Die Arbeiterklasse muß bereit sein, ihre eigenen kurzfristigen ökonomischen Interessen zu opfern, um dies zu erreichen. Und bis sie diese Aufgabe erreicht hat, bis sie also die hegemonische Klasse geworden ist, können Versuche die Staatsmacht zu erringen nur in Niederlagen enden.

Gramsci rechtfertigt diese Position mit der Unterscheidung von zwei Arten des Krieges, die er in den Gefängnisheften macht:

  1. Bewegungskrieg, der schnelle Bewegung von den rivalisierenden Armeen verlangt, und der vorwärts und rückwärts stößt, da jeder versucht, den anderen und seine Städte zu umzingeln;
  2. Stellungskrieg, der ein langgezogener Kampf ist, in dem die zwei Armeen im Kampf festgefahren sind, und in dem keine der beiden vorwärtsmarschieren kann, wie der Grabenkrieg der Jahre 1914-18.

Militärexperten sind der Meinung, daß in Kriegen zwischen industrialisierten und sozial fortgeschrittenen Staaten Bewegungskriege auf eine mehr taktische als eine strategische Funktion eingeschränkt werden müssen ...

Dieselbe Einschränkung muß auch in der Kunst und der Wissenschaft der Politik gemacht werden, jedenfalls im Falle der fortgeschrittensten Staaten, in denen die „zivile Gesellschaft“ sich unmittelbar zu einer komplexen Struktur entwickelt hat und die katastrophalen „Einbrüchen“ der wirtschaftlichen Elemente (Krisen, Depressionen etc.) gegenüber resistent ist.

Das letzte erfolgreiche Beispiel eines erfolgreich angewandten Bewegungskrieges, mit anderen Worten Frontalangriff auf den Staat, war die Oktoberrevolution 1917:

Es scheint mir, daß Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit verstand, von einem Bewegungskrieg, der im Osten 1917 erfolgreich war, zu einem Stellungskrieg zu wechseln, der im Westen die einzig mögliche Art war.

Die Basis für diese strategische Änderung lag in den unterschiedlichen sozialen Strukturen des zaristischen Rußlands und Westeuropas:

In Rußland war der Staat alles, die zivile Gesellschaft befand sich noch in ihren Ursprüngen und war gallertartig; wenn der Staat ... im Westen ... ins Wanken geriet, wurde umgehend eine unerschütterliche Struktur der zivilen Gesellschaft offen gelegt. Der Staat war nur ein äußerer Graben, hinter dem ein mächtiges System von Festungen und Schutzschanzen stand.

Die Formel der permanenten Revolution „gehört in eine historische Periode, in der die großen politischen Massenparteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten, und in denen die Gesellschaft sich in vielen Punkten noch sozusagen in einem flüssigen Zustand befand ... In der Periode nach 1870 ... wurden die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates komplexer und massiver, und die Achtundvierziger Formel der „permanenten Revolution“ [Marx entwickelte diese Bezeichnung nach der Revolution von 1848] wird erweitert und entwickelt sich in der politischen Wissenschaft zur Formel der „zivilen Hegemonie“ weiter.

Gramscis Formulierungen sollten nicht unkritisch akzeptiert werden, wie ich weiter unten aufzeigen werde, aber es muß zuerst deutlich gemacht werden, daß sie keinerlei reformistische Schlüsse zulassen.

Erstens ist ein Stellungskrieg ein Krieg und nicht Klassenkollaboration, wie sie derzeit von der PCI verfolgt wird. Gramscis Abscheu für die Reformisten, die Klassenkollaboration predigten, veränderte sich im Gefängnis nicht im geringsten. Er verglich ihre Passivität angesichts des Faschismus mit einem „Biber [der], verfolgt von Trappern, die seine Hoden für medizinische Präparate wollen, sich seine eigenen Hoden abreißt, um sein Leben zu schützen.“ (Einige der heutigen „linken“ Gewerkschaftsführer sollten dies zur Kenntnis nehmen!)

Zweitens ist es keine erstaunliche Feststellung, daß revolutionäre Politik „Stellungskriegen“ viel Zeit widmet. Schließlich argumentierten Lenin und Trotzki auf dem dritten Kongreß der Kommunistischen Internationale im Jahre 1921 auf der Grundlage der Erfahrungen der russischen Bolschewiki für Einheitsfronten mit den reformistischen Parteien, um die Mehrheit der Arbeiterklasse für den Kommunismus zu gewinnen. Sie kämpften erbittert gegen die linksradikale (ultralinke) „Theorie der Offensive“, die zu der Zeit – besonders in der deutschen kommunistischen Partei – sehr populär war. Diese Theorie besagte, daß die kommunistischen Parteien einfach durch wiederholte Aufstandsabenteuer zur Ergreifung der Macht ohne die Unterstützung der Mehrheit der Klasse vorwärts stürmen könnten. Gramsci erkannte Trotzkis Rolle an, die Komintern zu einer Taktik der Einheitsfront zu führen. Auch identifizierte er den „Stellungskrieg“ ausdrücklich mit der Taktik der Einheitsfront.

In seinen Lyoner Thesen versuchte er die Einheitsfronttaktik auf Italien anzuwenden. Die Übernahme dieser Taktik (die er zuerst mit Bordiga zusammen ablehnte) war kein Zeichen dafür, daß er den Reformisten weniger Ablehnung entgegenbrachte. Er schrieb, daß „die Taktik der Einheitsfront als politische Aktivität (Manöver) dazu geschaffen ist, sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen mit Massenbasis zu entlarven.“

Drittens ist die Schlacht um die Hegemonie nicht einfach nur eine ideologische Schlacht. Es ist wahr, daß Gramsci ununterbrochen den Glauben ablehnt, daß die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen der Arbeiter automatisch zu revolutionärem Bewußtsein führt. Er betont diesen Punkt, da er in den Gefängnisheften der damaligen stalinistischen Theorie der „dritten Periode“ widerspricht, daß die weltweite Krise selbst zur Weltrevolution führen wird. Er überspannt den Bogen, um mechanischen Abweichungen vom Marxismus begegnen zu können.

Gramsci stellt aber nie die entscheidende Rolle der Wirtschaft im politischen Leben in Frage. So kann einerseits „ausgeschlossen werden, daß unmittelbare wirtschaftliche Krisen selbst fundamentale geschichtliche Ereignisse hervorbringen“, sie können andererseits aber „einfach ein Terrain schaffen, das besser für die Verbreitung von bestimmten Gedanken ist, und besser für bestimmte Fragestellungen und Antworten, die die gesamte nachfolgende Entwicklung des nationalen Lebens betreffen.“ Er formulierte die Beziehung zwischen Wirtschaft und Ideologie folgendermaßen: „Massenideologische Faktoren hinken den Massenphänomenen der Wirtschaft immer hinterher“, und dadurch „wird in bestimmten Momenten die automatisch durch den wirtschaftlichen Faktor hervorgebrachte Stoßkraft durch traditionelle ideologische Elemente verlangsamt, behindert oder sogar gebrochen.“ Aus genau diesem Grunde, daß nämlich die Ideologie hinter der Wirtschaft zurückbleibt, ist die Intervention der revolutionären Partei in die wirtschaftlichen Kämpfe der Arbeiter notwendig, um sie den Reformisten abzugewinnen.

Daher ... ist ein bewußter und geplanter Kampf notwendig, um sicherzustellen, daß die Erfordernisse aus der wirtschaftlichen Lage der Massen, die mit der Politik der traditionellen Führung eventuell im Konflikt stehen, verstanden werden. Eine angemessene politische Initiative ist immer notwendig, um die wirtschaftliche Stoßkraft vom toten Gewicht der traditionellen Politik zu befreien.

In einer zentralen Passage der Gefängnishefte kam Gramsci zurück auf die Erfahrungen der Turiner Fabrikrätebewegung von 1919 bis 1920, um den Schnittpunkt der marxistischen Theorie und der spontanen Arbeiterkämpfe, die dort stattfanden, den sowohl beschränkten, auf einzelne Firmen bezogenen, wirtschaftlichen Kämpfen, als auch den ausschließlich intellektualistischen und „voluntaristischen“ Ansätzen, die den Arbeitern die Politik von außen her predigten; gegenüberzustellen:

Der Turiner Bewegung wurde gleichzeitig „Spontaneismus“ und „Voluntarismus“ vorgeworfen ... Dieser widersprüchliche Vorwurf beweist nur die Tatsache, daß die Führung nicht „abstrakt“ war; weder bestand sie darin, daß sie mechanisch wissenschaftliche oder theoretische Formeln wiederholte, noch verwechselte sie Politik, tatsächliche Aktion mit theoretischen Abhandlungen. Sie bezog sich auf wirkliche Menschen, die in besonderen geschichtlichen Beziehungen geformt worden waren, die spezifische Gefühle, Zukunftsaussichten und Konzeptansätze etc. hatten. Diese waren das Resultat von „spontanen“ Kombinationen einer gegebenen Situation der materiellen Produktion mit der darin „zufälligen“ Anhäufung von ungleichen sozialen Elementen. Dieses Element der „Spontaneität“ wurde nicht vernachlässigt und noch weniger verachtet. Sie war gebildet, geleitet, gereinigt von externen Zielsetzungen; das Ziel war, es in Übereinstimmung mit moderner Theorie [dem Marxismus] zu bringen – dies aber in einer lebendigen und geschichtlich wirkungsvollen Weise. Die Führer selbst sprachen von einer „Spontaneität“ der Bewegung, und das mit Recht. Diese Aussage wirkte stimulierend , gab Kraft und war ein Element der tiefen Einheit; mehr noch, verneinte sie, daß die Bewegung willkürlich und eine erlogene Vorstellung war, sondern betonte ihre geschichtliche Notwendigkeit. Sie gab den Massen ein „theoretisches“ Bewußtsein, daß sie Schöpfer von historischen und institutionellen Werten waren, und daß sie die Gründer eines Staates waren. Diese Einheit zwischen „Spontaneität“, „bewußter Führung und „Disziplin“ ist genau die tatsächliche politische Aktion der unteren Klassen.

Drittens bedeutet der Kampf zur Gewinnung von anderen unterdrückten Klassen (oder rückständigeren Schichten der Arbeiterklasse) nicht, daß die Arbeiterklasse aufhört, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Als Gramsci den „betrieblichen“ in den Gegensatz zum „hegemonialen“ Ansatz stellte, stellte er denjenigen, die nur ihre eigenen Interessen innerhalb des kapitalistischen Systems verteidigen, wie reformistische Gewerkschaften es tun, diejenigen gegenüber, die ihren Kampf als Schlüssel zur Befreiung aller unterdrückten Gruppen planen.

Im Italien der 1920er und 1930er Jahre beinhaltete der hegemoniale Ansatz einen Bruch mit der alten reformistischen Strategie, für die Arbeiter des Nordens Zugeständnisse zu bekommen, indem sie der Verarmung im grundbesitzer- und priestergebeutelten Süden stillschweigend zustimmten. Stattdessen kämpfte die Arbeiterklasse nicht nur für die Verbesserung ihrer eigenen Situation, sondern auch hatte sie den Bauern Land zu bieten und der Intelligenzia die Perspektive eines vernünftigeren Staates.

Genau wie im Kampf um das Bewußtsein der Arbeiterklasse war der Schlüssel, um die Bauern zu gewinnen, daß politische Fragen mit praktischen Forderungen verknüpft wurden. Immer wieder kritisierte Gramsci die extremen Radikalen (die Aktionspartei) dafür, daß sie im Kampf um die Einheit Italiens im neunzehnten Jahrhundert (und durch Andeutungen auch die reformistischen Sozialisten des zwanzigsten Jahrhunderts) nicht die einzige Maßnahme ergriffen, welche den Griff der Reaktion und des Katholizismus auf den Süden hätte brechen können: für die Aufteilung der großen Ländereien unter den Bauern zu kämpfen. Weil die Aktionspartei den Kampf um die Hegemonie als einen ausschließlich intellektuellen Kampf ansah, blieb sie auf der Strecke. „Dadurch, daß man die agrarische Frage nicht lösen konnte, konnte man auch die klerikale Frage so gut wie nicht lösen."

Die Arbeiterklasse müßte möglicherweise „bestimmte Zugeständnisse der ökonomisch-kooperativen Art machen“ damit sie die Unterstützung der anderen Klassen erlangen könnte. „Es gibt aber keinerlei Zweifel darüber, daß ein solches Zugeständnis und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche berühren; zwar ist Hegemonie etwas ethisch-politisches, sie muß aber auch wirtschaftlich sein, und muß notwendigerweise auf der entscheidenden Rolle der führenden Gruppe [der Arbeiterklasse] im entscheidenden Kern der wirtschaftlichen Aktivität gegründet sein.“

Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Gramsci in seinen Gefängnisheften seine in den Lyoner Thesen entwickelte Position aufgab. Diese besagte, daß die Arbeiter sich Mühe geben müßten, um die Bauernschaft zu gewinnen, dies könnte aber nur durch den Aufbau von Arbeiterkomitees auf der Grundlage der wirtschaftlichen Position der Arbeiter in den Fabriken geschehen. Diese Komitees könnten wiederum den Aufbau von Bauernkomitees fördern. Interessant ist, daß Gramsci, obwohl er von „herrschenden Blöcken“ sprach, und obwohl er die Notwendigkeit der Gewinnung der Bauern durch die Arbeiterklasse betonte, er nicht den damals populären stalinistischen Ausdruck der „Arbeiter- und Bauernblocks“ verwendete. Er betrachtete noch weniger die Intellektuellen der Mittelklasse als einen Verbündeten der Arbeiter mit diesen auf gleicher Stufe stehend, sondern diese könnten nur unter der Führung der Arbeiterklasse im Verlauf des Kampfes gewonnen werden.

Fünftens und letztens sagt Gramsci nirgendwo in den Gefängnisheften, daß der Kampf um die Hegemonie an und für sich die Frage der Staatsmacht lösen kann. Auch in einer Periode, in der der „Stellungskrieg“ die wichtigste Rolle spielt, ? Gramsci spricht von einem „"partiellen“ Element der Bewegung“ – hat der Bewegungskrieg mehr eine taktische, als eine strategische Funktion. Anders ausgedrückt: Die meiste Zeit verbringen Revolutionäre mit dem ideologischen Kampf, in dem sie die Einheitsfronttaktik in Teilkämpfen benutzen, um den Reformisten die Führungsrolle abzunehmen. Dennoch gibt es periodische Momente der gewaltsamen Konfrontation, in der die eine oder andere Seite versucht, die Stellungen des anderen frontal zu durchbrechen. Der bewaffnete Aufstand blieb für Gramsci der „entscheidende Moment des Kampfes“, wie er in Gesprächen im Gefängnis deutlich gemacht hatte.

Die Betonung in den Gefängnisheften auf den „Stellungskrieg“ muß im geschichtlichen Kontext gesehen werden. Es ist ein Bild, um einen bestimmten politischen Standpunkt deutlich zu machen: der revolutionäre Wille einiger weniger tausend Revolutionäre in einer Krisensituation erzeugt nicht die Vorbedingungen für einen erfolgreichen Aufstand. Diese Vorbedingungen müssen durch einen langen Prozeß der politischen Intervention und des ideologischen Kampfes vorbereitet werden. Etwas anderes zu denken, wie Togliatti und andere Stalinisten der „dritten Periode“ der frühen 1930er Jahre, war verrückt. Unter diesen Umständen war Gramsci weniger damit beschäftigt, für die Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstandes zu kämpfen – schließlich waren die Stalinisten zu dieser Zeit versessen darauf, bewaffnete Aufstände zu organisieren, egal wie aussichtslos sie waren – sondern zu betonen, wie Lenin es im Juli 1917 tat, und ein weiteres Mal im Fall Deutschlands 1921, daß ein Aufstand nur dann erfolgreich sein kann, wenn er die aktive Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterklasse für sich hat.

Aus diesem Grund ist es mißverständlich dieses Bild so anzuwenden, als wäre es universell gültig, unabhängig vom historischen Zusammenhang. Denn sogar in ausschließlich militärischer Sprache wird ein statischer „Stellungskrieg“ nicht immer der Situation gerecht – wie die französische Generalität 1940 feststellen mußte, als deutsche Panzer die Maginot-Linie umgingen.
 

Zweideutigkeiten in Gramscis Formulierungen

Jedes Gleichnis läuft Gefahr, mißverstanden zu werden und Gramscis Unterscheidung zwischen „Stellungskrieg“ und „Bewegungskrieg“ muß selbst kritisch begutachtet werden. Perry Anderson hat in einem interessanten Artikel darauf hingewiesen, daß Gramscis Gleichnisse eine Reihe von Unklarheiten und Widersprüchen beinhalten, ein konzeptionelles Schlupfloch, das von Reformisten dazu benutzt werden kann, das revolutionäre Wesen von Gramscis Arbeit zu verzerren.

Sicher, Gramscis Unterscheidung zwischen „Bewegungskrieg“ und „Stellungskrieg“ ist sehr vage. An einem Punkt findet der Übergang vom politischen „Stellungskrieg“ nach 1871 statt; an einem anderen findet er in der Ära der nach der Stabilisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft in den frühen 20er Jahren statt. Diese scheinbar verwirrende Frage um den Zeitpunkt ist wichtig, da Gramsci die Frage offen läßt, ob der „Stellungskrieg“ grundsätzliche Strategie ist, oder ob er nur für bestimmte Perioden Geltung hat. Einige Formulierungen Gramscis deuten auf den ersteren Schluß. Aber durch sein wiederholtes Beharren auf das Zusammenwirken der revolutionären Partei und den „spontanen Kämpfen“ und durch seinen Glauben an die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes kann dies ausgeschlossen werden.

Ein zweites Mißverständnis liegt in der Unterscheidung von Rußland und dem Westen. Diese Unterscheidung beinhaltet eine Fehlinterpretation der russischen revolutionären Bewegung. Tatsächlich scheiterten die ersten Versuche eines „Bewegungskrieges“ – die bewaffneten Angriffe auf das zaristische Regime durch die Dezembristen der 1820er und durch die Populisten, die allerdings den Zar 1881 ermordeten. Nachfolgende revolutionäre Generationen mußten eine andere Strategie übernehmen. Der Sturz der Autokratie verlangte einen langgezogenen „Stellungskrieg“ – er verlangte zehn Jahre lang marxistische Studienzirkel und weitere zehn Jahre „ökonomischer“ Agitation, bevor eine Massenpartei 1905 entstehen konnte, dann weitere zwölf Jahre, zur Erholung der Kräfte. Dieser Stellungskrieg war notwendig für den „Bewegungskrieg“ der Jahre 1905?06 und 1917.

Um Gramscis Gleichnis auszudehnen: Der militärische Bewegungskrieg war veraltet und gefährlich geworden, durch die Erfindung einer neuen Waffe, die durch die Verteidigungslinien des Gegners durchbrechen konnte, wie der Panzer am Ende des ersten Weltkrieges (obwohl er dort nicht zum vollkommenen Vorteil eingesetzt wurde) und am Anfang des zweiten Weltkrieges. Das politische Äquivalent zum Panzer ist der plötzliche spontane, revolutionäre „Schlag von Unten“ (in Gramscis Worten) der Massen, und dieser überraschte selbst Lenin im Februar 1917. Revolutionäre können sich diesen plötzlichen Veränderungen nicht anpassen, ohne plötzlich von einer Defensivhaltung auf eine Haltung überzugehen, die Verbindungen zu diesem neuen „Bewegungskrieg“ knüpft. Sie müssen dadurch versuchen, Lenkung und Einfluß über dieses plötzliche Vorpreschen zu erlangen. Lenins Größe lag darin, zu erkennen, wann der strategische Schritt vom „Stellungskrieg“ zum „Bewegungskrieg“ zu machen ist.

Was Lenin (und Trotzki und Rosa Luxemburg) begriffen, war, daß der langgezogene Kampf um die Hegemonie zur Organisation und Konsolidierung der eigenen Kräfte in manchen Etappen in der Geschichte der revolutionären Bewegung notwendig ist. Der Erfolg einer Organisation in einer Etappe des Kampfes führt zu Konservativismus, wenn sich das Bewußtsein der Massen verändert.

Schließlich ist das Paradebeispiel einer Partei, die den Bewegungskrieg in Europa vor dem ersten Weltkrieg propagierte, die deutsche Sozialdemokratische Partei (SPD). Sie baute eine riesige Anzahl von „Stellungen“ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auf. Sie hatte hunderte von Zeitungen, hunderttausende Parteimitglieder, regionale Kooperativen und Klubs, eine Frauenbewegung, eine kraftvolle Gewerkschaftsmaschinerie und sogar ein theoretisches Magazin, durch das sich einige Teile der etablierten Intellektuellen angezogen fühlten. Der Versuch, diese „Stellungen“ zu halten als der erste Weltkrieg ausbrach, führte von der Opposition zur Klassenzusammenarbeit. (Interessant ist es, daß genau dieses Bild der „Stellungs- und Bewegungskriege“ in Gramsci sehr ähnlicher Weise von Kautsky gegen Angriffe von Rosa Luxemburg auf die reformistische SPD-Führung im Jahr 1912 verwendet wurde.)
 

Rußland, Italien und der Westen

Italien wurde von Gramsci als der Prototyp einer Gesellschaft angesehen, in der ein „Stellungskrieg“ notwendig ist. Italien war aber in den 1920er und 30er Jahren weit davon entfernt, ein fortschrittliches kapitalistisches Land zu sein. Die Dinge, die Gramsci als bezeichnend für eine „zivile Gesellschaft“ betrachtete – die Kirche, städtische politische und kulturelle Verbände, verschiedenste bürgerliche und kleinbürgerliche Parteien, der Einfluß der „funktionalen Intellektuellen“ wie Lehrern, Anwälten und Priester – erscheinen uns heute als ein vorübergehendes historisches Phänomen, eher typisch für die Rückständigkeit Italiens in den 20er und 30er Jahren, die durch das zahlenmäßige Übergewicht der Bauernschaft, des Lumpenproletariats und der Kleinbürgerklasse deutlich wird. Sogar städtische, politische und kulturelle Verbände verlieren in den wirklich entwickelten kapitalistischen Ländern an Einfluß.

In England und anderen entwickelten kapitalistischen Ländern kann die Nachkriegsperiode durch das Phänomen der Apathie gekennzeichnet werden – ein starker Rückgang der Teilnahme der Massen an politischen und kulturellen Verbänden, wie der Labour Partei und der WEA, der Rückgang des Einflusses der Orange Logen in Liverpool und Glasgow und eine Halbierung der aktiven Kirchenmitglieder in nur zehn Jahren. Die „funktionalen Intellektuellen“ – die Anwälte, Lehrer, Priester und Ärzte – spielen nicht mehr eine Schlüsselrolle in der öffentlichen Meinungsbildung.

Der fortgeschrittene Kapitalismus führt zu einer Zentralisation ideologischer Macht, zur Atomisierung der Massen – mit der entscheidenden, wesentlichen Ausnahme der Gewerkschaftsorganisationen am Arbeitsplatz – und zu einer Schwächung der alten politischen und kulturellen Organisationen.

Einerseits spielte hierbei die Intensivierung des Arbeitsprozesses eine Rolle – Schichtarbeit erschwert die Organisierung von lokalen politischen und kulturellen Vereinen; andererseits haben die Kommerzialisierung des sozialen Lebens, die Entdeckung von Radio und Fernsehen, aber auch die vertiefte Kontrolle über die Massenmedien, die Attraktivität anderer Freizeitaktivitäten geschwächt. Die Anzahl der wirkungsvollen Strukturen, die die „zivile Gesellschaft“ zwischen dem Individuum und dem Staat knüpft, ist gesunken. Eine ständig wachsende Anzahl der Möglichkeiten von Massenkommunikation schafft eine direkte Verbindung. Gleichzeitig ist die Wichtigkeit der Gewerkschaftsorganisation am Arbeitsplatz dramatisch gestiegen; sie ist die Institution der „Zivilgesellschaft“ geworden, die nicht von der Atomisierung betroffen ist.

Unter diesen Umständen wird das „Verteidigungsnetz der Abwehrstellungen“, welches der herrschenden Klasse in Krisenzeiten zur Verfügung steht, sehr schwach, wenn erst einmal die Arbeiter ernsthaft in Aktion treten. Tatsächlich wird die Bourgeoisie in ganz kritischer Weise von der Gewerkschaftsbürokratie und zu einem geringeren Grade von den reformistischen politischen Organisationen abhängig, damit diese die Arbeiterklasse zurückhalten. Dies führt aber nach einer gewissen Zeitspanne zu einer Abnahme des Vertrauens in die reformistischen Führer und zu spontanen Ausbrüchen von Arbeitern, die nicht einmal sie mehr kontrollieren können. Unter diesen Umständen kann sich ein wirklicher „Bewegungskrieg“ entwickeln, in welchem sich Arbeiter – trotz des Mangels an revolutionärem Bewußtsein ? in direktem Konflikt zum kapitalistischen Staat wiederfinden.

Tony Cliff wies in einem sehr wichtigen Artikel im Jahr 1968 darauf hin, daß der fortgeschrittene Kapitalismus „Privatisierung“ und „Apathie“ hervorruft. Aber „das Konzept der Apathie ist nicht statisch. Wenn nämlich die Aussicht auf individuelle Reformen verschlossen ist, kann sich diese Apathie in ihr Gegenteil entwickeln, direkte Massenaktion. Arbeiter, die ihre Loyalität gegenüber den traditionellen Organisationen verloren haben, werden in extreme, explosive eigenständige Kämpfe gedrängt.“

Gramscis Vergleiche sind vor 45 Jahren dazu benutzt worden, konkrete strategische Probleme anzugehen. Diejenigen, die nun seine Nachfolge beanspruchen, versuchen nun sie in grober Weise anzuwenden, um heutige Diskussionen abzublocken, ohne zu bemerken, daß sich die Gesellschaft seitdem in gewissen wesentlichen Aspekten verändert hat. Dies ist kein anderer Dogmatismus als der, unter dem schon Marx, Lenin oder Trotzki so oft zu leiden hatten.
 

Gramscis Schwächen

Die Bedingungen unter denen Gramsci lebte und schrieb zwängten seinem Denken einige eingebaute Grenzen auf. Im Fall der Gefängnishefte liefern diese Grenzen die Basis für die Verzerrungen, die seine Ideen erfahren haben.

Die erste und offensichtlichste Grenze war, daß der faschistische Staat über Gramscis Schulter blickte und jedes geschriebene Wort mitlas. Um die Zensur im Gefängnis zu umgehen, mußte er sich sehr vage in Bezug auf die schärfsten Konzepte des Marxismus ausdrücken. Er mußte eine mehrdeutige äsopische Sprache benutzen, die seine wirklichen Gedanken nicht nur vor seinen Wärtern, sondern oft genug auch vor seinen marxistischen Lesern und letztlich, so mag man vermuten, vor ihm selbst verbarg.

Als Beispiel: Gramsci benutzt oft den Kampf der Bourgeoisie um die Macht gegen den Feudalismus als ein Gleichnis für den Kampf der Arbeiter gegen den Kapitalismus. Aber dieser Vergleich führt auf gefährliche Weise zu falschen Schlüssen. Weil die kapitalistische Produktionsweise ihren Anfang in der Warenproduktion hat, der Produktion von Waren für einen Markt, der auch in der Feudalgesellschaft entstehen kann, kann die Bourgeoisie ihre wachsende wirtschaftliche Dominanz nutzen, ihre ideologische Position innerhalb des Feudalismus aufzubauen, bevor sie die Macht übernimmt. Die Arbeiterklasse aber kann nur wirtschaftlich dominant werden, indem sie kollektiv die Kontrolle über die Produktionsmittel übernimmt, was die bewaffnete Übernahme der politischen Macht erfordert. Nur dann kann sie die Kontrolle über die Presse, Universitäten und so weiter erlangen, wohingegen die Kapitalisten diese schon lange vor ihrer politischen Dominanz kauften. In diesem Punkt muß Gramsci notwendigerweise mehrdeutig erscheinen. Heute gibt diese Mehrdeutigkeit aber Möchtegern?Intellektuellen eine Ausrede dafür, daß sie den Klassenkampf über „eine theoretische Praxis“, „den Kampf um die intellektuelle Hegemonie“ führen, wobei sie in Wirklichkeit lediglich ihre eigenen akademischen Karrieren voranbringen.

Auch konnte Gramsci nicht offen über den bewaffneten Aufstand schreiben. Diese Lücke in den Gefängnisheften ermöglichte es seinen selbst ernannten Anhängern, die Realität der Staatsmacht zu ignorieren, die Gramsci in ihrer harten Hand gefangenhielt.

Es gab aber auch andere, geistige Grenzen bei Gramsci. Er mußte ins Gefängnis, gerade als Stalin seine Macht in Russland verstärkte. Sein Scheitern mit diesem Prozeß klarzukommen, beeinflußte sein Denken tiefer als es zuerst erscheinen mag.

Gramsci erklärte seine Unterstützung für den Stalin-Bucharin Block, der sich 1925 formierte. Als Teil eines internationalen „Stellungskrieges“ scheint er den Versuch akzeptiert zu haben, den „Sozialismus in einem Land“ durch Zugeständnisse an die Bauernschaft aufzubauen. So setzte er dann auch Trotzkis Opposition gegen den Sozialismus in einem Land mit einer ultralinken Ablehnung der Einheitsfront gleich – obwohl er genau wußte, daß Trotzki einer der Hauptautoren der Einheitsfronttaktik gewesen war.

Wie wir gesehen haben war Gramsci sich der erstickenden Auswirkungen der stalinistischen Bürokratie sehr bewußt und stand ihr sehr kritisch gegenüber. Aber seine Akzeptanz der Bucharin-Stalin Version (1925-28) des „Sozialismus in einem Land“ verhinderte, daß er analysieren konnte, was in Russland falsch gelaufen war. In den Gefängnisheften schreibt er:

Der Stellungskrieg fordert immense Opfer von einer unendlich großen Masse ein. Also ist eine noch nie dagewesene Konzentration der Hegemonie notwendig, und dadurch eine stärker „intervenierende“ Regierung, die die Offensive gegen Oppositionelle ergreifen wird...

Diese halbe Entschuldigung für einen totalitären Trend wird gefolgt von einem warnenden Marx-Zitat: „Ein zu lange geführter Widerstand in einem belagerten Lager ist selbst demoralisierend. Sie bedeutet Leiden, Müdigkeit, Unruhe, Krankheit und ständigen Druck, nicht der akuten Gefahr, die abhärtet, sondern der chronischen Gefahr, die zerstört.“

Gramsci will scheinbar diese Lage kritisieren, zugleich aber ausdrücken, daß sie auf einer richtigen Strategie fußt. Es bleibt nicht aus, daß dieser Widerspruch schwächende Auswirkungen auf andere Aspekte seiner Theorien hat.

Wie kein anderer in Westeuropa begriff er in den Jahren 1919-20 die Beziehung zwischen dem Kampf in der Fabrik und der Schaffung von Elementen eines Arbeiterstaates. Er erkannte auch das dialektische Zusammenspiel zwischen der Entwicklung von Arbeiterdemokratie und ihres Antriebs, der revolutionären Partei. Dieses Verständnis zeigt sich im größten Teil der Gefängnishefte – aber es ist manchmal zersetzt von der Tendenz, den stalinistischen „Sozialismus in einem Lande“ als eine Methode für den „Stellungskrieg“ auf andere Länder zu übertragen.

Gramsci steht in seinem Unvermögen den Stalinismus richtig zu erkennen, nicht allein. Als er inhaftiert wurde und den Kontakt zur internationalen Bewegung verlor, stand das volle Ausmaß des stalinistischen Horrors noch bevor. Zukünftige bekannte Trotzkisten, wie Andres Nin und James P. Cannon unterstützten Stalin noch gegen Trotzki zu der Zeit. Im Fall von Gramsci aber hinterläßt dieser Mangel Ungereimtheiten in seiner Theorie, die diejenigen, die heutzutage reformistische Politik rechtfertigen, ausnutzen.

Es gibt noch eine letzte, eher grundsätzliche Schwäche bei Gramsci. Obwohl er eine richtige abstrakte Analyse der Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik liefert, ist er der einzige unter den großen Marxisten, der keine konkrete wirtschaftliche Dimension in seine politischen Schriften integriert. Dies gibt seinen Arbeiten etwas Willkürliches, das man weder bei Marx, Engels, Lenin, Luxemburg oder Trotzki findet. Beispielsweise dachte er 1925, daß der Faschismus kurz vor dem Zusammenbruch stände. Aber einige Jahre später schrieb er in seinen „Gefängnisheften“, als ob er noch ein langes Leben vor sich hätte. Außerdem spricht er von den Gefahren einer korporativen Integration der Arbeiterklasse in das System, ohne die wirtschaftlichen Bedingungen zu diskutieren, die dies möglich machen könnten.

Generell wird die Beziehung zwischen einer bestimmten wirtschaftlichen Situation und den politischen und ideologischen Kämpfen der dadurch betroffenen Individuen nicht aufgezeigt. In den Jahren 1918-26 konnte er diese Lücke bis zu einem gewissen Grade durch seine direkten Erfahrungen im Klassenkampf füllen. Seine besten Schriften sind die, wo er in engem Kontakt zu den Arbeitern steht und versucht, sie zu führen, sich mit zentralen Problemen der gegenwärtigen Kämpfe befaßt.

Aber 1926 entzogen die Faschisten ihm jeden Kontakt mit den Massen. Gramsci wußte nur zu gut, was das für ihn bedeutete:

Bücher und Magazine beinhalten verallgemeinerte Vorstellungen und skizzieren das Weltgeschehen nur so gut sie können: sie lassen nie eine direkte, bewegte Empfindung des Lebens der Durchschnittsmenschen zu. Wenn man die wirklichen Individuen nicht verstehen kann, kann man das Generelle und Universelle nicht verstehen.

Dies galt für Gramsci, dem es ohne direkte persönliche Erfahrungen unmöglich war, die konkrete Beziehung zwischen der wirtschaftlichen Situation und der politischen Reaktion der Individuen zu verstehen. Für einen Marx, der aus dem Exil den 18ten Brumaire, oder einen Trotzki, der aus der türkischen Haft tiefgründig über die Geschehnisse in Berlin berichten konnte, galt dies nicht.

Die Gefängnishefte leiden vor allem daran, daß sie nicht von abstrakten Konzepten zur konkreten Analyse von konkreten Situationen schwenken. Genau dies zieht natürlich die Bürokraten und Akademiker an, die einen reformistischen „Marxismus“ ohne den Massenkampf der Arbeiter wollen.

Wenn auch ein solches Vorhaben von der wesentlichen Stoßrichtung von Gramscis Leben abweicht, dürfen wir die Schwäche der Gefängnishefte, die aus ihrem Mangel an Konkretheit herrührt, nicht ignorieren. Wie tief auch der Einblick sein mag, den sie geben, sie haben nicht die Größe der besten Arbeiten von Marx, Lenin oder Trotzki.

Der faschistische Ankläger bei Gramscis Verhandlung verlangte seine Inhaftierung, um „dieses Gehirn für 20 Jahre am Arbeiten zu hindern“. Hierbei waren die Faschisten zwar nicht erfolgreich. Aber, indem sie Gramsci von der direkten Beteiligung am Klassenkampf abschnitten, verhinderten sie erfolgreich, daß sein Marxismus das volle Potential ausschöpfen konnte, das in L’Ordine Nuovo und den Lyoner Thesen dargelegt ist.


Zuletzt aktualisiert am 21 November 2009