Chris Harman

Der Markt versagt


II. Was hat die Krise verursacht?

Es gibt eine ganz simple Erklärung für die Krise: die Raffgier jener mit Geld nach noch mehr Geld. Das sagen nicht nur die, die den Kapitalismus schon immer abgelehnt haben. Das sagen einige ihrer glühendsten Vertreter. Der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain sah die Schuld bei „Spekulanten und Hedgefonds“, die „unseren Markt in ein Casino verwandelt haben“. Der Daily Express, die Tageszeitung eines millionenschweren Pornographen, verurteilte die „Exzesse der City of London“ und die „Schieber“, die „Großbritannien zugrunde richten“. Der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Raghuram Rajan, sieht die Ursache in den enormen Bonuszahlungen, die die Banker kassieren. Martin Wolf, leitender Kolumnist der City-eigenen Financial Times und Autor des erst vor drei Jahren erschienenen Buchs Why Globalisation Works (Warum die Globalisierung funktioniert), nennt die „Unverantwortlichkeit“ der Bankmanager als Ursache.

„Heimliche Verstaatlichung“

So umschrieb Robert Peston von der BBC die Tatsache, dass die direkten Kredite der britischen Staatsbank an die britischen Privatbanken innerhalb einer einzige Woche um 49 Milliarden Pfund stiegen. Innerhalb der letzten beiden Jahre betrug die gesamte finanzielle Unterstützung mehr als 200 Milliarden Pfund.

Die zerstörerische Rolle der Finanzwelt ist offensichtlich. In ihrem Streben nach Profit hat sie den gesamten Globus nach neuen Möglichkeiten, Gelder auszuleihen, durchkämmt, mit dem Ziel, üppige Zinserträge zu ernten, sie hat spekuliert und sie hat saftige Honorare für die Vermittlung von Übernahmen und Privatisierungen kassiert. In den 1970er und 80er Jahren waren die ärmeren Länder dieser Welt ihr Hauptbetätigungsfeld. Es wurde ihnen so viel und zu solch hohen Zinsen geliehen, dass diese gezwungen waren, noch mehr Geld zu noch höheren Zinsen zu borgen, um die Rückzahlungen einhalten zu können. Sobald diese Länder in Schwierigkeiten gerieten, schickten die USA, Großbritannien und die EU den IWF rein, um sie ihrem Willen zu unterjochen, ihre Märkte für die westlichen Großunternehmen zu öffnen, ihre heimischen Industrien an sie zu verkaufen, das Gesundheitswesen zu privatisieren und armen Eltern Schulgeld für ihre Kinder aufzubürden. Solche Länder konnten aber nicht unendlich ausgequetscht werden, gerade weil sie so arm waren. Die Finanzwelt interessierte sich daher zunehmend für die reichsten Länder, insbesondere für die Profite, die aus der Spekulation auf Börsen, auf dem gewerblichen Grundstücksmarkt, mit Handelswaren wie Öl, mit Rentenfonds und vor allem auf dem Wohnungsmarkt zu machen waren.

Die Summen, die mit solchen Kreditgeschäften gemacht werden konnten, waren spektakulär. So spektakulär, dass kleine Fetzen Papier, auf denen das Versprechen der Schuldner vermerkt war, ihre Schulden zurückzuzahlen, sehr wertvoll wurden. Hypothekenanstalten konnten diese an Banken weiterverkaufen, die sie zu „Finanzinstrumenten“ zusammenschnürten, bevor sie sie ihrerseits an andere Banken mit Gewinn veräußerten. Sehr reiche Individuen schmissen jeweils ein paar Milliönchen zusammen und gründeten Hedgefonds, um am lukrativen Geschäft teilzuhaben. Es entstand um solche Deals eine regelrechte Industrie mit hunderttausenden Beschäftigten auf der ganzen Welt.

Die Individuen, die im Mittelpunkt dieser Industrie agierten und deren größte Belohnungen einheimsten, wurden als „Draufgänger“, „Innovateure“ und „unternehmerische Genies“ gepriesen. Unter diesen Genies befanden sich die Chefs von Northern Rock. Die Financial Times beschrieb „eine glitzernde Dinnerparty in der City, auf der sie wegen ihres Könnens in Sachen Finanzinnovationen mit Lob überschüttet wurden“.
 

Aus den Armen Profit ziehen

Die Profite aus Kreditvergaben, Verpacken der Schulden und ihrem Weiterverkauf spornten die Suche nach immer neuen Feldern der Kreditvergabe und des Profitmachens. Der etablierte Markt hierfür war bald ausgeschöpft. Das war der Zeitpunkt, als die Genies den Markt für „zweitklassige“ Hypotheken entdeckten. Damit waren Menschen gemeint, die nur ein niedriges und unstetes Einkommen hatten und in der Vergangenheit als kreditunwürdig gegolten hatten. Aber jetzt war die Versuchung groß, noch mehr Profite zu machen, indem man auch diesen Menschen Darlehen für dringend benötigte Sachen, vor allen Dingen Häuser, gewährte. Durch das Angebot von Hypotheken zu anfänglich niedrigen Zinsen konnte man sie zum Unterzeichnen von Verträgen bewegen, um nach zwei oder drei Jahren die Zinsraten in sehr profitable Höhen hochzuschrauben. Hypothekenbanken wie Northern Rock sahen darin eine unfehlbare Profitquelle. Denn es lockten hohe Gewinne, sollten die zweitklassigen Schuldner die erhöhten Zinsen tatsächlich zahlen können. Und genauso lockten hohe Gewinne, wenn sie das nicht schafften, denn dann konnte man die Häuser enteignen und auf dem boomenden Häusermarkt schnell wieder veräußern. Die Verlockung des schnellen Profits zog alle in ihren Bann. An der Wall Street und in der City of London wollten alle mitmischen und liehen sich enorme Summen aus, um die Schuldenpakete zu kaufen. Dabei versprachen sie den Banken und Hedgefonds, die ihnen das Geld borgten, dass sie das geschuldete Geld auf alle Fälle würden zurückzahlen können, weil ihnen ja selbst so viel geschuldet werde.

„Diese beispiellose Woche wird viele Menschen das Prinzip der freien Märkte in Zweifel ziehen lassen ... Der westliche Kapitalismus wird eine Menge tun müssen, um das öffentliche Vertrauen wieder herzustellen.“

Leitartikel der Times

Jeder mit nur einem Quäntchen Vernunft hätte voraussehen müssen, dass das Spiel irgendwann zu einem abrupten Ende kommen musste. Was die Häuserpreise in die Höhe trieb, war eben jene fieberhafte Konkurrenz zwischen den Hypothekenbanken, um den Ärmsten Schulden anzudrehen. Jede auch nur kleine Abnahme der Rückzahlungsfähigkeit dieser Menschen musste die Zahl der auf den Markt geworfenen enteigneten Häuser in die Höhe treiben. Dann mussten die Häuserpreise anfangen zu fallen, und somit alle Beteiligten am Markt für zweitklassige Hypotheken in die Verlustzone rutschen. Genau diese Entwicklung setzte bereits 2006 ein, als die Arbeitslosigkeit in den USA leicht zunahm und die Zinsen anstiegen. Aber die Akteure in der langen Kette des Borgens und Leihens ignorierten die Warnsignale. Solange nämlich, bis in der zweiten Augustwoche 2007 offensichtlich wurde, dass die im Besitz der Banken befindlichen Hedgefonds das ihnen geschuldete Geld nicht wieder würden hereinholen können, um die eigenen Schulden damit auszugleichen. Jede Bank wurde fortan von der Angst heimgesucht, das an andere Banken ausgeliehene Geld nicht wieder zurückzubekommen. Das fieberhafte Spiel des Borgens, um zu verleihen, kam zum plötzlichen Stillstand. Nicht einmal die „Meister der Finanzwelt“ konnten ihr Treiben, Geld, das sie selbst nicht besaßen, an Menschen auszuleihen, die es nicht zurückzahlen konnten, ewig fortsetzen.

Nicht nur der Markt für zweitklassige Hypotheken war davon betroffen. Auch das normale Hypothekengeschäft geriet in den Strudel. Sein Volumen ging enorm zurück – um die Hälfte in Großbritannien – und die wenigen noch getätigten Geschäfte wurden zu wesentlich höheren Zinsen abgeschlossen. Das bedeutete, dass Häuser allerlei Kategorien unverkäuflich blieben, die Häuserpreise begannen noch schneller zu fallen, Enteignungen nahmen zu, weil die Menschen die steigenden Zinsen nicht aufbringen konnten, und es wurde für die Banken und Hedgefonds noch schwieriger, die enormen Summen, die sie ausgeliehen hatten, wieder einzutreiben.
 

Das Gift breitet sich aus

Das Gift breitete sich von einem Teil des Finanzsystems auf die anderen Teile aus. Es gab nicht nur diejenigen, die geborgt hatten, um das geborgte Geld weiter zu verleihen. Es gab auch diejenigen, deren Gier sie dazu verleitet hatte, auf Profite zu setzen, die sich aus der Absicherung der Kredite der Banken und Hedgefonds machen ließen. Die Beträge, die von all diesen verschiedenen Formen des Zockens bewegt wurden, waren immens. Geschäfte mit „Kreditderivaten“ sollen sich im September 2008 auf die unglaubliche Summe von 62 Billionen US-Dollar summiert haben, wozu mindestens eine Billion Dollar an barem Geld erforderlich war, um den Geldfluss aufrechtzuerhalten.

Toller Job
(wenn du ihn kriegst)

HBOS zahlte an ihren Bankdirektor Peter Cummings letztes Jahr 2,61 Millionen Pfund. HBOS ist von Lloyds übernommen worden.

Bradford & Bingley zahlte ihrem Vorstandsvorsitzenden Steven Crawshau 2,02 Millionen an Bezügen und Boni letztes Jahr, das sind 45 Prozent mehr als 2006. B&B wurde verstaatlicht.

Diese Bezüge sind bescheiden verglichen mit denen, die den Chefs von Freddie Mac (ihr Vorsitzender Richard Syron „verdiente“ 14,5 Millionen Pfund im Jahr 2007) und Fannie Mae (deren geschäftsführender Direktor Daniel Mudd mit 14,2 Millionen Pfund nur wenig hinterher hinkte). Beide Unternehmen sind mittlerweile verstaatlicht worden.

Solange der Schuldenberg Profite abwarf, gab es seitens der Zeitungskolumnisten, Regierungen und New Labour-Politiker der Sorte Blair bis Brown nur Lob für die Wächter des Finanzsystems. Wegen seines „Beitrags zur globalen Wirtschaftsstabilität“ nannte die New Labour-Regierung im Jahre 2002 Alan Greenspan, den damaligen Chef der amerikanischen Notenbank und derjenige, der mehr als alle anderen das Saufgelage gepusht hatte, zum Ehrenritter. Nun fügt diese Gier dem übrigen Kapitalismus Schaden zu.

Jedes Geschäft in einer kapitalistischen Wirtschaft beruht auf Kredit: Produzierende Firmen räumen Großhändlern Kredite ein, die Großhändler räumen ihrerseits dem Einzelhandel Kredite ein und der Einzelhandel dem Endkäufer von allerlei Konsumgütern ebenfalls. Die plötzliche Zurückhaltung der Banken, aneinander Gelder auszuleihen – „Kreditklemme“ war die bald gefundene Bezeichnung, – drohte, das Ganze zum Stillstand zu bringen. Es war der Herzinfarkt des kapitalistischen Systems, darin war man sich einig. Das ist der Grund, warum Regierungen und Zentralbanken all ihre Predigten über die Tugenden des ungehemmten freien Wettbewerbs vergaßen und einschritten, um das Finanzsystem intakt zu halten.

Die Beträge, um die es ging, waren bereits zu dem Zeitpunkt immens. Allein in den Monaten März und April 2008 pumpte der US-amerikanische Staat 400 Milliarden Dollar in das System, als die erste große US-Bank, Bear Stearns, vor dem Bankrott stand. Für einige Wochen beruhigte sich die Lage. Einige glaubten sogar, die Krise sei überstanden. John McCain behauptete Anfang September gar, dass die Basisdaten der US-Wirtschaft gesund seien. Solche Menschen ließen sich von ihrem unbeirrbaren Glauben an das System täuschen. Schließlich beschloss die rechteste US-Regierung seit Generationen, dass nur massive Staatsintervention das gesamte kapitalistische System vor sich selbst retten könne, und übernahm zwei Hypothekengiganten, Fannie Mae und Freddie Mac. Ein letzter Versuch, die Dinge dem Markt zu überlassen, als man eine der vier angesehensten Investmentbanken, Lehman Brothers, an die Wand fahren ließ, verursachte solche Turbulenzen, dass ein finanzieller Kollaps drohte und allerlei Kommentatoren von der schlimmsten Krise seit 1929 sprachen. Der Staat war dann gezwungen, eine weitere massive Verstaatlichung durchzuführen, die des Versicherungsgiganten AIG, und George Bush, dem aus den Reihen der eigenen Partei „Sozialismus“ vorgeworfen wurde, sah sich zu der Warnung veranlasst, das ganze System würde kollabieren, sollte der Staat nicht alle zweifelhaften Schulden im Gesamtwert von schätzungsweise 700 Milliarden US-Dollar aufkaufen.

Ist die „Realwirtschaft“ gesund?

Reicher werden

Die Superreichen von heute sind wesentlich wohlhabender als ihre Vorgänger.

Das größte Vermögen bis zur Wende zum 21. Jahrhundert waren die 36,5 Millionen Pfund, die Sir John Ellerman 1933 hinterließ – in heutiger Währung wären das etwa 12 Milliarden Pfund. Das zweitgrößte Vermögen waren die 14 Millionen Pfund des Duke of Westminster, das Äquivalent von 10,6 Milliarden heute.

Aber der reichste Mensch im heutigen Großbritannien, der Stahlmagnat Lashimi Mittal, ist atemberaubende 27,7 Milliarden Pfund wert.

Siehe die Untersuchung des britischen Gewerkschaftbundes Do the Super Rich Matter?

Jetzt wollen sie den Eindruck erwecken, lediglich die Finanzleute seien schuld, nicht aber der Rest des Systems. „Macht euch keine Sorgen“, sagen manche Kommentatoren, „nur die Finanzen stecken in der Krise“. Die „Realwirtschaft“, das sei was ganz Anderes. Typisch für diese Sichtweise ist die ganz reale Botschaft, die Gordon Brown in seiner hoch gelobten Rede auf der Labour Party-Konferenz verkündete. Die City of London müsse gesäubert werden. Er beeilte sich allerdings hinzuzufügen, dass London „seinen wohlverdienten Platz als das Finanzzentrum der Welt“ behalten müsse, und teilte einem TV-Reporter am nächsten Tag mit, dass Labour eine „unternehmerfreundliche Regierung“ bleibe.

Aber Finanzen sind nichts vom Rest des Kapitalismus Getrenntes. Beide werden von der gleichen blinden Konkurrenz um Profite getrieben. Auch die größten Industrieunternehmen haben sich in den letzten Jahren Finanzgeschäften gewidmet, um ihre Profite zu steigern. General Electric, das größte Produktionsunternehmen der USA, hat es getan, und auch Ford und General Motors. In den Vorständen der großen Finanzkonzerne sitzen reiche Industrielle. Zu den Direktoren von Lehman Brothers zählten der ehemalige Leiter von IBM, der ehemalige Chef von Halliburton, der ehemalige Leiter des Medienmultis Telemundo (und heute noch Direktor von Sony und MGM), und der gegenwärtige Leiter von GlaxoSmithKline (ehemaliger Chef von Vodaphone), nebst einem pensionierten Admiral der US-Navy (der zugleich Anführer der amerikanischen Pfadfinderinnen ist), dem ehemaligen Chef des Auktionshauses Sotheby und dem ehemaligen Chef von Solomon Brothers. Das Direktorium der größten Investmentbank, Goldman Sachs, zählt zu seinen Mitgliedern Direktoren von General Motors, Mobil Oil, Novartis, Kraft Foods, Colgate Palmolive, Du Pont, Boeing, Texas Instruments und ArcelorMittal.

Die Gier kennt keine Grenzziehung zwischen der Finanzwelt, der Industrie und dem Handel, und nebenbei auch nicht dem Kulturbetrieb und der Gehirnwäsche, mit der der Jugend die Tugenden des Militarismus untergejubelt werden. Es sind nicht nur Finanzjongleure gewesen, die in den letzten Jahrzehnten enorme Profite und gigantische Bezüge einzustreichen hofften. Es waren auch all jene, die die Industrie auf beiden Seiten des Atlantiks in ihrem Besitz und unter ihrer Kontrolle haben. Nach Angaben von CNN-Money stiegen in den USA „die Bezüge der leitenden Direktoren im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen vom 301-fachen im Jahr 2003 auf das 431-fache ein Jahr später. Hatte 1990 die Differenz zum Durchschnittseinkommen noch das 107-Fache betragen, ist die Schere inzwischen noch weiter aufgegangen. 1982 bekam der Durchschnittsdirektor nur 42 so viel wie der Durchschnittsarbeiter.“ John Hutton vom britischen New Labour\t findet solche Ungerechtigkeit höchst erfreulich. „Anstatt solche hohen Bezüge anzuprangern“, schrieb er im April, acht Monate nach Beginn der Finanzkrise, „sollten wir die Tatsache feiern, dass Menschen in diesem Land enorm erfolgreich sein können.“


Zuletzt aktualisiert am 1. Oktober 2016