Karl Kautsky

Karl Marx’
Oekonomische Lehren


II. Abschnitt
Der Mehrwerth

Siebtes Kapitel
Der relative Mehrwerth


Ist die nothwendige Arbeitszeit, das heißt der Theil des Arbeitstages, während dessen nur so viel Werth produzirt wird, als das Kapital für die Waare Arbeitskraft zu erlegen hat, eine bestimmte Größe, dann kann die Rate des Mehrwerthes nur vergrößert werden durch Verlängerung des Arbeitstages. Beträgt z. B. die nothwendige Arbeitszeit 6 Stunden täglich, und ist sie unveränderlich, was unter gegebenen Produktionsbedingungen der Fall, dann kann die Rate des Mehrwerthes nur vermehrt werden durch Verlängerung des Arbeitstages.

Die Wirkungen dieses Umstandes haben wir im 4. Kapitel betrachtet.

Aber der Arbeitstag kann nicht in’s Unendliche ausgedehnt werden. Das Bestreben des Kapitalisten, ihn zu verlängern, findet natürliche Schranken in der Erschöpfung des Arbeiters, moralische Schranken in dessen Ansprechen auf freie Bethätigung als Mensch, politische Schranken in der durch verschiedene Verhältnisse erzwungenen Beschränkung des Arbeitstages durch den Staat. Nehmen wir an, der Arbeitstag habe eine Grenze erlangt, über die er unter den gegebenen Umständen nicht verlängert werden könne; diese Grenze sei mit der zwölften Arbeitsstunde gegeben. Die nothwendige Arbeitszeit betrage sechs Stunden, die Rate des Mehrwerthes also 100 Prozent.

Wie nun diese Rate vergrößern? Sehr einfach. Drücke ich die nothwendige Arbeitszeit von 6 auf 4 Stunden herab, so steigt die Zeit der Mehrarbeit von 6 auf 8 Stunden; die Länge des Arbeitstages ist die gleiche geblieben, aber das Verhältniß seiner beiden Bestandtheile, der nothwendigen und der überschüssigen Arbeitszeit, ist ein anderes geworden. Damit auch die Rate des Mehrwerthes. Durch die Herabdrückung der nothwendigen Arbeitszeit von 6 auf 4 Stunden bei 12stündigem Arbeitstag ist die Rate des Mehrwerthes von 100 auf 200 Prozent gestiegen, sie hat sich verdoppelt. Der Vorgang wird am leichtesten begriffen, wenn man die Länge des Arbeitstages und seiner Theile in Linien von gewisser Länge veranschaulicht. Nehmen wir au, die Linie A—B stelle einen zwölf stündigen Arbeitstag vor, der Linientheil A—C die nothwendige, der Theil C—B die überschüssige Arbeitszeit:

Bild 1

Wie kann ich C—B um zwei Längseinheiten, die Arbeitsstunden darstellen, verlängern, ohne A—B auszudehnen? Durch Verkürzung von A—C:

Bild 2

C—B auf der ersten Linie ist ebenso groß wie A—C. Auf der zweiten ist C—B noch einmal so groß als A—C.

Es ist also möglich, Mehrwerth zu erzielen nicht nur durch absolute Verlängerung des Arbeitstages, sondern auch durch Verkürzung der nothwendigen Arbeitszeit.

Durch Verlängerung des Arbeitstages produzirten Mehrwerth nennt Marx absoluten Mehrwerth; den Mehrwerth dagegen, der aus Verkürzung der nothwendigen Arbeitszeit und entsprechender Veränderung im Größenverhältniß der beiden Bestandtheile des Arbeitstages entspringt, relativen Mehrwerth.

In unverhüllter Form zeigt sich das Bestreben des Kapitalisten, den Mehrwerth in letzterer Weise zu vergrößern, in seinen Versuchen, den Lohn zu drücken. Da aber der Werth der Arbeitskraft unter gegebenen Verhältnissen eine bestimmte Größe ist, kann dies Bestreben nur dahin gehen, den Preis der Arbeitskraft unter ihren Werth herabzudrücken. So wichtig dieser Umstand in der Praxis ist, so können wir ihn doch hier noch nicht näher berücksichtigen, wo es sich um die Grundlagen der ökonomischen Bewegung, nicht um ihre äußerlichen Erscheinungsformen handelt.

Wir müssen daher vorläufig von der Annahme ausgehen, daß Alles normal vor sich geht, der Preis dem Werth entspricht, also der Lohn der Arbeitskraft ihrem Werth. Wir haben hier also noch nicht zu untersuchen, wie der Arbeitslohn unter den Werth der Arbeitskraft gedrückt werden kann und welche Folgen dies mit sich führt, sondern zu untersuchen, wie der Werth der Arbeitskraft verringert wird.

Der Arbeiter hat unter gegebenen Umständen bestimmte Bedürfnisse; er bedarf zu seiner und seiner Familie Erhaltung einer bestimmten Menge von Gebrauchswerthen. Diese Gebrauchsgegenstände sind Waaren, ihr Werth wird bedingt durch die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit. Das ist uns Alles bereits bekannt, es bedarf nicht weiterer Ausführung. Sinkt die zur Herstellung der erwähnten Gebrauchsgegenstände durchschnittlich nothwendige Arbeitszeit, so sinkt auch der Werth dieser Produkte und damit der Werth der Arbeitskraft des Arbeiters und der zur Wiederherstellung dieses Werthes nothwendige Theil des Arbeitstages, ohne Einschränkung der gewohnheitsgemäßen Bedürfnisse des Arbeiters. Mit anderen Worten: steigt die Produktivkraft der Arbeit, so sinkt unter gewissen Umständen der Werth der Arbeitskraft. Nur unter gewissen Umständen, nämlich nur dann oder nur insoweit, als die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit die Arbeitszeit verkürzt, die nothwendig ist zur Herstellung der Lebensmittel, deren der Arbeiter gewohnheitsmäßig bedarf. Wenn der Arbeiter gewohnt ist, Stiefel zu tragen, anstatt barfuß zu gehen, so wird es den Werth der Arbeitskraft verringern, wenn zur Herstellung eines Paars Stiefel 6 statt 12 Arbeitsstunden nothwendig sind. Wenn aber die Produktivkraft der Arbeit der Diamantenschleifer oder der Spitzenklöppler sich verdoppelt, so bleibt dies auf den Werth der Arbeitskraft ohne Einfluß.

Eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit ist aber nur möglich durch eine Aenderung des Produktionsverfahrens, durch eine Verbesserung der Arbeitsmittel oder der Arbeitsmethoden. Die Produktion von relativem Mehrwerth wird also bedingt durch eine Umwälzung des Arbeitsverfahrens.

Diese Umwälzung und stete Vervollkommnung der Produktionsweise ist eine Naturnothwendigkeit für das kapitalistische Produktionssystem. Der einzelne Kapitalist wird sich dessen freilich nicht nothwendig bewußt, daß, je wohlfeiler er produzirt, desto niedriger der Werth der Arbeitskraft und desto höher, unter sonst gleichen Umständen, der Mehrwerth. Die Konkurrenz zwingt ihn aber stets zu neuen Verbesserungen im Produktionsprozeß. Das Bestreben, seinen Konkurrenten zuvor zu kommen, bewegt ihn, Methoden einzuführen, die ihm erlauben, in geringerer, als der durchschnittlich nothwendigen Arbeitszeit ebensoviel Waaren zu erzeugen, wie bisher. Die Konkurrenz zwingt seine Konkurrenten, das verbesserte Verfahren ebenfalls einzuführen. Die Ausnahmsgewinne, die gemacht worden, so lange es vereinzelt gewesen, schwinden, sobald es allgemein geworden, aber, je nach dem dies Verfahren auf die Produktion der nothwendigen Lebens mittel mehr oder weniger einwirkt, bleibt als dauerndes Ergebniß eine mehr oder weniger große Senkung des Werthes der Arbeitskraft und eine entsprechende Steigerung des relativen Mehrwerthes.

Dies nur eine der Ursachen, welche bewirken, daß der Kapitalismus die Produktionsweise beständig umwälzt und so den relativen Mehrwerth immer mehr erhöht. Steigt die Produktivkraft der Arbeit, so steigt auch die Rate des relativen Mehrwerthes, während der Werth der produzirten Waaren entsprechend sinkt. So sehen wir den anscheinenden Widerspruch sich entwickeln, daß die Kapitalisten unablässig bemüht sind, immer billiger zu produziren, ihren Waaren immer geringeren Werth zu geben, um immer mehr Werth einsacken zu können. Wir sehen aber noch eine andere anscheinende Ungereimtheit auftauchen: je größer die Produktivität der Arbeit, desto größer unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise die Mehrarbeit, die überschüssige Arbeitszeit des Arbeiters. Die kapitalistische Produktionsweise strebt darnach, die Produktivkraft der Arbeit riesenhaft zu steigern, die nothwendige Arbeitszeit auf ein Minimum zu verringern, gleichzeitig aber den Arbeitstag so viel als möglich zu verlängern.

Wie sie den Arbeitstag verlängerte, haben wir bereits im vierten Kapitel gesehen. Betrachten wir jetzt, wie sie die nothwendige Arbeitszeit verkürzte.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2011