Karl Kautsky

Karl Marx’
Oekonomische Lehren


Vorwort zur ersten Auflage


Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.
Wir wollen weniger erhoben,
und fleißiger gelesen sein.

Auf keinen der modernen Schriftsteller dürften diese Zeilen Lessing’s mit mehr Fug und Recht anzuwenden sein, als auf Marx. Schreiber Dieses ist durch seinen Beruf gezwungen, die neuere deutsche ökonomische Literatur zu verfolgen, und er hat gefunden, daß kein Name in ihr so häufig erwähnt wird, als der von Marx, dessen Lehren der Angelpunkt sind, um den sich die meisten ökonomischen Diskussionen der Neuzeit bewegen.Diese Thatsache erfüllt den Verfasser vorliegender Schrift jedoch keineswegs mit der Genugthuung, die man bei einem Angehörigen der Marx’schen „Schule“ erwarten sollte, wenn man von einer solchen sprechen darf, denn er hatte leider nur zu oft Gelegenheit, zu konstatiren, daß Diejenigen, die über Marx schrieben, seine Werke entweder gar nicht oder nur sehr flüchtig gelesen hatten. Rechnet man dazu, daß die meisten der Literaten und Gelehrten, die sich mit Marx beschäftigten, dies nicht zum Zweck objektiver, wissenschaftlicher Erkenntniß, sondern zur Erörterung bestimmter Augenblicks-Interessen thaten, dann wird man nicht überrascht sein, zu sehen, daß im Allgemeinen die ungereimtesten Ansichten in Betreff der Marx’schen Lehren im Umlauf sind.

Es konnte nicht die Aufgabe von Marx sein, sich im Einzelnen mit der Widerlegung dieser irrthümlichen Auffassungen zu befassen. Seine einzelnen Lehren sind Theile eines festgefügten Systems und können nur verstanden werden in ihrem Zusammenhange; wer diesen nicht erkannt hat, wird bei der Auffassung der einzelnen Sätze stets an der Oberfläche haften bleiben. Irrthümliche Anschauungen konnten daher nicht mit einigen Worten beseitigt werden, sondern nur durch den Hinweis auf die Nothwendigkeit eines eingehenden Studiums der Marx’schen Schriften, oder durch eine umfassende Darlegung des Marx und Engels eigenthümlichen wissenschaftlichen Standpunkts. Eine solche besitzen wir in der That in der klassischen Polemik von Engels gegen Dühring, einem Buch, welches das Verständniß der Marx’schen Lehren mehr gefördert hat, als alle kurzen apodiktischen Aussprache von Marx darüber, wie er in Bezug auf diesen oder jenen Punkt verstanden sein wolle, vermocht hätten.

In der deutschen Literatur fehlt jedoch noch eine Schrift, welche die ökonomischen Lehren von Marx kurz zusammenfaßt, allgemein verständlich darstellt und erläutert. Ansätze zu einer solchen Arbeit sind von verschiedenen Seiten gemacht worden, aber sie sind Fragmente geblieben.

Vorliegende Schrift macht den Versuch, die bestehende Lücke auszufüllen, oder wenigstens einen Beitrag zu ihrer Ausfüllung zu liefern.

Sie lehnt sich naturgemäß an das Hauptwerk von Marx, das Kapital an und folgt ihm in der Anordnung des Stoffes. Die anderen ökonomischen Schriften von Marx konnten nur hie und da herangezogen werden, zur Aufklärung schwieriger Stellen oder zu weiterer Ausführung des im Kapital Gegebenen.

Der Zweck der Darstellung geht in erster Linie dahin, solche, welche entweder nicht Zeit oder Mittel zum Studium des Kapital haben, mit dessen Gedankengang bekannt zu machen; der Verfasser hofft aber, daß seine Darstellung auch Manchen, die das Kapital besitzen, dessen Studium erleichtern, und daß sie endlich Viele veranlassen wird, das Originalwerk zu lesen, von dem sie sich entweder eine falsche Vorstellung gemacht, oder von dessen Studium sie die Schwierigkeiten des ersten Abschnittes abschreckten.

Nichts falscher, als die Ansicht von der trockenen und schwerverständlichen Schreibweise des Kapital. Der Verfasser kennt kein ökonomisches Werk, welches sich an Klarheit und Lebendigkeit der Darstellung, an mitunter wahrhaft klassischer Schönheit des Stils mit dem Kapital messen könnte.

Und doch ist es so schwer verständlich!

An gewissen Stellen allerdings. Aber das ist nicht Schuld der Darstellung.

Man glaubt gewöhnlich, daß die Nationalökonomie ein Wissensgebiet sei, das Jeder mir nichts, dir nichts, ohne die geringsten Vorkenntnisse verstehen könne. Sie ist aber eine Wissenschaft, und zwar eine der schwierigsten, denn es giebt kaum ein anderes Gebilde, das so komplizirt ist, wie die Gesellschaft. Allerdings, zum Verständniß jener Sammlung von Gemeinplätzen, die Marx Vulgärökonomie nennt, ist nicht mehr Wissen nothwendig, als jeder Mensch bei den geschäftlichen Vorgängen des täglichen Lebens von selbst erwirbt. Das Verständniß des Kapital von Marx, welches in der Form einer Kritik der politischen Oekonomie ein neues historisches und ökonomisches System begründet, setzt dagegen nicht nur ein gewisses historisches Wissen, sondern auch die Erkenntniß der Thatsachen voraus, welche die Entwicklung der Großindustrie bietet.

Wer nicht die Thatsachen mindestens theilweise kennt, aus denen Marx seine ökonomischen Gesetze abgeleitet, dem wird der Sinn dieser Gesetze allerdings dunkel bleiben, der mag über Mystizismus und Hegelianismus klagen. Die klarste Darstellung wird ihm nichts nützen.

Dies ist unseres Erachtens eine gefährliche Klippe für jeden Versuch, das Kapital zu popularisiren. Marx hat so populär geschrieben, als nur möglich. Wo er schwerverständlich war, lag die Schuld nicht an der Sprache, sondern am Gegenstand und am Leser. Uebersetzte man diese so schwerverständlich klingende Sprache ohne weiteres in eine leichtverständlich klingende, so konnte dies nur auf Kosten der Genauigkeit geschehen; die Popularisirung mußte zur Verflachung werden.

Mit dieser Erkenntniß war für den Verfasser die Aufgabe gegeben. Sie lag nicht in einer bloßen Aenderung der Sprache. Marx hat, wie schon erwähnt, so populär und dabei so kurz und präzis geschrieben, daß ein Abweichen von seinen Worten oft sogar nur auf Kosten der Richtigkeit möglich gewesen wäre. Der Verfasser hat daher eine Reihe von Stellen aus den Marxschen Schriften wörtlich wiedergegeben. Sie sind durch Anführungszeichen kenntlich gemacht und stammen, wenn nicht eine andere Stelle angegeben, aus dem Kapital.

Die Aufgabe lag einestheils darin, den Leser auf die Thatsachen aufmerksam zu machen, die den theoretischen Ausführungen zu Grunde liegen. Dies war namentlich nothwendig im ersten Abschnitt. Marx hat auf diese Thatsachen meist selbst hingewiesen, aber oft nur mit Andeutungen, die in der Regel übersehen wurden. An anderen Stellen mußte sich der Verfasser erlauben, auf die Thatsachen auf eigene Verantwortung aufmerksam zu machen. Dies gilt namentlich im ersten Paragraphen des ersten Kapitels. Es konnte sich in vorliegender Arbeit nur um Hinweise handeln. Eine ausführliche Darstellung der dem Kapital zu Grunde liegenden Thatsachen würde nicht nur den zugemessenen Raum, sondern auch die Kräfte des Verfassers weit übersteigen; eine solche hieße nichts geringeres, als eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit von der Urzeit an verfassen. Das Kapital ist ein wesentlich historisches Werk.

In den Abschnitten, die von der modernen Industrie handeln, tritt dieser Charakter für Jedermann deutlich hervor. Sie enthalten nicht nur theoretische Ausführungen, sondern auch ausgedehnte historische Exkurse über Gegenstände, die bis dahin nur unvollständig oder gar nicht behandelt worden waren. In diesen Abschnitten sind die den theoretischen Ausführungen zu Grunde liegenden Thatsachen in solcher Fülle gegeben, daß deren Verständniß für jeden Denkenden ohne weitere Vorkenntnisse möglich war. Hier war die Aufgabe eine andere. Die Rücksichten auf den Raum erlaubten nur, das Wichtigste wiederzugeben. Es handelte sich nun darum, trotzdem den historischen Charakter der theoretischen Ausführungen zu wahren, die, wenn mit Weglassung der Mittelglieder gegeben, mitunter einen anderen Charakter erhielten und eine Behauptung als unbedingt erscheinen ließen, die nur unter gewissen historischen Voraussetzungen giltig ist.

Vorliegende Arbeit soll nicht nur eine Darstellung der Marx’schen Lehren, sondern auch ein Leitfaden zu dem Studium der Marx’schen Werke im Original sein. Der Verfasser hielt sich daher für berechtigt, Stellen, die bisher seines Erachtens zu wenig beachtet worden, oder bei denen leicht Mißverständnisse eintraten, eingehender zu behandeln, als ihrer Bedeutung für die theoretische Entwicklung entspricht; er glaubte dagegen bei anderen Stellen kürzer verweilen zu dürfen, wenn sie bereits allgemein bekannt und anerkannt sind und ein Mißverständniß nicht befürchtet zu werden braucht. Um den praktischen Werth des Büchleins zu erhöhen, wurde die Darstellung der thatsächlichen Verhältnisse z. B. bei der Fabrikgesetzgebung, mehrfach über den von Marx behandelten Zeitpunkt hinaus bis zur neuesten Zeit fortgeführt.

Die Marx eigenthümlichen Benennungen der einzelnen Kategorien sind beibehalten, Fremdworte jedoch so wenig als möglich gebraucht worden. Völlig ließen sie sich freilich nicht vermeiden. Das deutsche Volk hat seine Kultur und Wissenschaft nicht aus sich allein entwickelt, es hat viele Begriffe, ja ganze Wissenszweige und damit auch eine Reihe von Benennungen von anderen Nationen übernommen. So kommt es, daß wir eine Menge von Fremdworten gebrauchen, die entweder nur auf Kosten der Schärfe und Gedrungenheit des Ausdrucks oder gar nicht ersetzbar sind. Die Uebersetzung in Klammern dem Fremdwort beizufügen, ist eine Praxis, für die der Verfasser sich nicht erwärmen kann. Giebt es ein ganz entsprechendes deutsches Wort für das fremde, dann gebrauche man jenes von vorneherein. Giebt es ein solches nicht, dann kann auch die Uebersetzung nicht viel nützen. Es ist in solchen Fällen Aufgabe der Darstellung, das Fremdwort in einem solchen Zusammenhange zu bringen, daß es einem denkenden Leser nicht schwer fällt, seinen Sinn zu entnehmen. Nur wo seltenere Fremdworte im Text zum erstenmale gebraucht werden, hat der Verfasser die wirkliche Uebersetzung oder das nächstkommende deutsche Wort in Klammern beigefügt, um das Verständniß des fremden Wortes zu erleichtern, ohne daß er glaubt, mit dem deutschen Wort den Begriff des fremden völlig zu umfassen.

An Vorarbeiten konnte der Verfasser nur wenig benutzen. Hervorzuheben ist jedoch der französische Kapitalauszug von Deville [1], der dem Verfasser sehr zu statten kam. An dieser Stelle fühlt er sich auch verpflichtet, seinen Dank abzustatten für die liebenswürdige Bereitwilligkeit, mit der Deville zu Gunsten der vorliegenden Arbeit auf die Herausgabe einer deutschen Uebersetzung seiner Schrift verzichtete.

Besondere Förderung erfuhr vorliegende Arbeit durch die freundschaftliche Theilnahme und Mitarbeiterschaft Eduard Bernstein’s, der sich nicht auf Anregungen und Hinweise, sowie eine kritische Durchsicht des Manuskripts beschränkte, sondern verschiedene Kapitel selbständig bearbeitete. So rührt z. B. das große und wichtige Kapitel über die Großindustrie (im 2. Abschnitt) fast völlig von ihm her.

Diese Förderung und Unterstützung erkennt der Verfasser um so dankbarer an, je mehr er sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe bewußt ist. Für die volksthümlichen Darstellungen großer origineller Geisteswerke gilt dasselbe, was Lessing den Prinzen Conti von der Malerei sagen läßt.

„Ha! Daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen können! Auf dem langen Wege aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren!“

Wenn zwei Maler genau den gleichen Gegenstand malen, so wird er auf jedem der beiden Bilder anders aussehen. Was der eine sieht, wird der andere übersehen; was dein einen bedeutsam erscheint, wird der andere nebensächlich behandeln: und was sie verschiedenartig gesehen, wird wieder verschiedenartig wiedergegeben. Das getreue Erfasseu des Origiuals ist schwer; es getreu wiederzugeben, ist noch schwerer.

Was der Verfasser hier giebt, ist nicht eine Photographie des Kapital, die das Original in verkleinertem Maßstab, Linie um Linie völlig getreu, aber farblos wiedergiebt, sondern ein Bild mit subjektivem Kolorit und subjektiver Zeichnung.

Ist auch, um Schwerfälligkeiten zu vermeiden, die Darstellung oft eine apodiktische, so bitten wir den Leser, doch stets im Auge zu behalten, daß es nicht Marx, sondern der Verfasser ist, der zu ihm spricht, der ihm über die ökonomischen Lehren von Marx berichtet. Man mag dies für eine bescheidene Aufgabe halten. Der Schreiber dieser Zeilen wird sich jedoch hochbefriedigt fühlen, wenn sie ihm gelungen, wenn er sein Scherflein beigetragen zur Verbreitung der Wahrheiten, die ein rastloser Forscher, ein gründlicher Gelehrter, ein großer Denker als Frucht der Arbeit seines ganzen Lebens zu Tage gefördert.

 

London, im Oktober 1886
K. Kautsky



Fußnote

1. Gabriel Deville, Le Capital par Carl Marx, résumé et accompagné d’un Aperçu sur le Socialisme scientifique, Paris, Henry Oriol, 824 S. Frs. 8.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2011