Karl Kautsky


Die Agrarfrage




Zweiter Abschnitt
Sozialdemokratische Agrarpolitik


I. Braucht die Sozialdemokratie ein Agrarprogramm?


a) Hinaus aufs Land!

Wenn etwas aus der im ersten Abschnitt auseinandergesetzten Entwicklung klar hervorgeht, so ist es die Thatsache, daß die Industrie bestimmend wird für die gesammte Gesellschaft, daß die Landwirthschaft relativ immer mehr an Bedeutung verliert, immer mehr ihrer Gebiete an die Industrie abgiebt und auf den Gebieten, die ihr verbleiben, immer abhängiger von dieser wird. Und die Sozialdemokratie darf ihre Siegeszuversicht schöpfen nicht nur aus der wachsenden Macht des Proletariats, sondern auch aus der wachsenden Macht der Industrie in der Gesellschaft.

Aber es hieße das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man daraus schließen, daß nun die Sozialdemokratie oder wenn man lieber will, das um seine Emanzipation kämpfende Proletariat, sich um die Landwirthschaft gar nicht zu kümmern brauche. Das Proletariat ist der Erbe der heutigen Gesellschaft, es hat alles Interesse daran, daß seine Erbschaft so reich als möglich auffalle; wie immer aber auch das Verhältniß zwischen Industrie und Landwirthschaft sein mag, der Grund und Boden bleibt stets die Grundlage alles menschlichen Seins; seine Produktivkraft wird stets ein entscheidender Faktor sein für die Bestimmung des Aufwandes von Arbeit, der in der Gesellschaft zu ihrer Erhaltung nothwendig ist; sein Charakter wird stets ein entscheidender Faktor sein bei der Bestimmung des körperlichen und geistigen Charakters seiner Bevölkerung.

Aber nicht nur der Hinblick auf die zukünftige Gesellschaft macht es für das Proletariat nothwendig, den Verhältnissen der Landwirthschaft sein Interesse zuzuwenden. Noch viel dringender wird dies erheischt durch die Bedürfnisse der Gegenwart. Es ist für das Proletariat keineswegs gleichgiltig, ob die Lebensmittelpreise steigen oder sinken, denn der Arbeitslohn folgt nicht so genau diesen Schwankungen, wie man nach der Lehre vom ehernen Lohngesetz annahm. Es ist aber auch für das Tempo des proletarischen Klassenkampfes keineswegs gleichgiltig, ob die Lebenshaltung der Landbevölkerung eine tiefe, ob diese Bevölkerung eine unwissende, stupide Masse oder nicht.

Und selbst wenn die Sozialdemokratie sich einseitig blos um die industriellen Angelegenheiten bekümmern wollte, so wird ihr das Interesse für die Landwirthschaft aufgezwungen durch die wachsende Bedeutung, welche die agrarischen Fragen für das gesammte staatliche Leben in allen modernen Ländern erhalten. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß die Landwirthschaft in demselben Maße, in dem sie an ökonomischer Bedeutung gegenüber der Industrie verliert, an politischer Bedeutung gewinnt, nicht nur in den Gebieten des Junkerthums, sondern auch in denen der Bauernschaft; nicht nur in Ostelbien, sondern auch in Bayern; nicht nur in den Gebieten des Absolutismus, sondern auch in denen der Demokratie; nicht nur in Rußland, Oesterreich und Deutschland, sondern auch in Frankreich und der Schweiz. Dieser anscheinende Widerspruch zwischen ökonomischer und politischer Bedeutung wird erklärlich, wenn wir uns erinnern, daß allenthalben das Privateigenthum an Grund und Boden viel früher in unlösbaren Widerspruch mit der bestehenden Produktionsweise geräth, als das Privateigenthum an den anderen Produktionsmitteln und viel früher unhaltbare und unerträgliche Zustände erzeugt. Die davon betroffenen Klassen sind aber gerade diejenigen, welche bisher die festesten Stützen der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bildeten, und theils gehören sie selbst zu den herrschenden Klassen, theils werden sie von diesen in ihrem eigensten Interesse konservirt. Kein Wunder, daß die agrarischen Fragen gerade die politisch maßgebendsten Theile der Kulturstaaten am lebhaftesten beschäftige. Es handelt sich ihnen dabei nicht um die Rettung der Landwirthschaft, sondern um die der „staatserhaltenden Klassen“, deren Existenzbedingungen unvereinbar geworden sind mit den modernen Produktionsbedingungen. Diese Rettung heißt allerdings die Vereinbarung von unvereinbarem, und sie erhält keinen rationelleren Charakter dadurch, daß gerade in der Landwirthschaft die intellektuellen und ökonomischen Bedingungen einer höheren Produktionsweise viel weniger entwickelt sind, als in der Industrie.

Angesichts alles dessen ist es kein Wunder, daß die agrarische Bewegung in demselben Maße, als sie wächst, auch immer tollere Quacksalbereien gebiert, die von den herrschenden zulassen immer ernsthafter genommen werden. Es ist nicht leicht, wenn man der Landbevölkerung praktische Hilfe bringen will, diesem agrarischen Hexentanz gegenüber fest zu bleiben, es gehört große Klarheit und Kraft der Ueberzeugung dazu. Schon dies macht es für die Sozialdemokratie nothwendig, entschieden Stellung zu den agrarische Fragen zu nehmen. Ihnen gegenüber gleichgiltig bleiben, hieße, die Massen der proletarischen Schichten auf dem Lande den agrarischen Taschenspielern und Gauklern preisgeben.

So erklärt es sich, daß die sozialdemokratischen Parteien aller Kulturländer in den letzten Jahren den agrarischen Fragen ihre volle Aufmerksamkeit zugewendet haben. Aber auch hier machte die eigenartige unreife der landwirthschaftlichen Verhältnisse ihren Einfluß geltend. Es waren zunächst nicht grundsätzliche Erwägungen, sondern praktische Rücksichten, Rücksichten der Wahlagitation, die die Sozialdemokratie zur Beschäftigung mit agrarischen Fragen drängten und es für sie wünschenswerth machten, dem Landvolk „etwas zu bieten“, praktische Forderungen aufzustellen, durch die es für die sozialistische Bewegung interessirt werden könnte. Man suchte allenthalben sozialdemokratische Agrarprogramme aufzustellen, ehe man über die Grundsätze einer sozialdemokratischen Agrarpolitik ins Reine gekommen. Aber so lange man sich über diese nicht verständigt, wird das Suchen nach jenem stets ein unsicheres Tasten bleiben müssen, bei dem auch der größte Scharfsinn dauernde, zuverlässige Resultate nicht zu Tage fördern kann.

Die Nothwendigkeit für die Sozialdemokratie, ihre Agrarpolitik entschieden festzustellen, wird allgemein in ihren Reihen empfunden. Dagegen herrscht in ihr keineswegs Einmüthigkeit über die Nothwendigkeit eines Agrarprogramms.

Ein besonderes Agrarprogramm wird in der Regel betrachtet als ein Programm von Maßregeln im Interesse der Bauernschaft. Das Eintreten für die Interessen des ländlichen Lohnarbeiters erheischt kein besonderes Programm. Das bisherige sozialdemokratische Programm schließt es bereits allenthalben ein. Wenn man dagegen die Vertretung der besonderen Interessen des Bauern zu einer sozialdemokratischen Angelegenheit machen will, wird allerdings ein besonderes Agrarprogramm nothwendig.

Darüber sind bekanntlich im Schoße der Sozialdemokratie tiefgehende Meinungsverschiedenheiten aufgetaucht.

Der Bauernschutz wurde für nothwendig erklärt als Ergänzung des Arbeiterschutzes. Der Proletarier auf dem Lande, das ist der Bauer; die Sozialdemokratie ist aber die Partei des Klassenkampfes der Proletarier gegen das Kapital, und nicht ihre Endziele, sondern ihre Augenblicksforderungen sind die Wurzeln ihrer Kraft. So wie sie den städtischen Proletarier seinem kapitalistischen Ausbeuter, dem Unternehmer gegenüber vertheidigt, hat sie den ländlichen seinem kapitalistischen Ausbeuter, dem Wucherer gegenüber zu schützen; wie der Verelendung des städtischen Lohnarbeiters, hat sie auch der Verelendung des Bauern mit voller Kraft und allen zweckdienlichen Mitteln entgegenzuwirken.

Diese Argumentation soll uns zunächst beschäftigen.
 

b) Bauer und Proletarier

Es ist unleugbar, daß die Lebenshaltung des Bauern vielfach eine proletarische, ja mitunter könnte man sagen, eine unterproletarische geworden ist. Damit ist aber noch keineswegs gesagt, daß seine Klasseninteressen proletarische geworden sind.

Das charakteristische Merkmal des modernen Proletariats ist keineswegs sein Elend. Arme hat es zwar nicht seit jeher, wohl aber seit vielen Jahrtausenden gegeben, die sozialdemokratische proletarische Bewegung ist dagegen ein besonderes Produkt des letzten Jahrhunderts, ist das Produkt eines Proletariats, wie es die Welt, wenigstens als Massenerscheinung, früher nicht gesehen.

Das eine Kennzeichen des modernen Proletariers ist die wichtige Rolle, die er im modernen Produktionsprozeß spielt. Auf ihm beruht die heute entscheidende, die kapitalistische Produktionsweise. Dadurch unterscheidet er sich himmelweit von dem Lumpenproletarier alter und neuer Zeit.

Er ist aber auch keineswegs so völlig besitzlos wie dieser. Diesem fehlt es an Allem, was er aber am schmerzlichsten empfindet, ist der Mangel an Lebens- und Genußmitteln. Der Mangel an Produktionsmitteln macht ihm weniger Kummer. Aus dem Bereich der Produktion ist er ja ausgeschlossen und oft trägt er kein Verlangen darnach, zu ihm zugelassen zu werden. Aber will er nicht arbeiten, so will er doch leben; das kann er indeß nur, wenn die Besitzenden ihre Konsumtionsmittel mit ihm theilen. Soweit der Lumpenproletarier daher zu gesellschaftlichen Bestrebungen sich versteigt, wird sein Ideal ein Kommunismus der Konsumtions-, nicht der Produktionsmittel, ein Kommunismus des Theilens, nicht des Vereinigens sein, ein Ziel, das in der Wirklichkeit dort, wo die sozialen Verhältnisse Gewaltthaten erlauben, zur Plünderung führt; dort, wo Gewaltthaten unmöglich, zur Bettelei.

Jene Besitzlosigkeit, die den modernen Lohnproletarier kennzeichnet, ist dagegen nur der Mangel an Produktionsmitteln. Der Mangel an Konsumtionsmitteln kann, muß aber nicht damit verbunden sein. Der moderne Lohnarbeiter bleibt Proletarier, so lange er nicht im Besitz seiner Produktionsmittel ist, mag auch seine Lage als Konsument sich noch so befriedigend gestalten, mag er auch als solcher besitzend werden, in den Besitz von Schmuck, Möbeln, ja selbst eines Wohnhäuschens kommen. Ja die Verbesserung seiner Lage als Konsument, weit entfernt, ihn für den proletarischen Klassenkampf untüchtig zu machen, setzt ihn oft in den Stand, diesen um so nachdrücklicher zu führen. Dieser Kampf ist nicht das Produkt seines Elends, sondern das Produkt des Gegensatzes zwischen ihm und dem Besitzer seiner Produktionsmittel. Nicht die Ueberwindung des Elends, selbst wenn sie möglich wäre, sondern nur die Ueberwindung dieses Gegensatzes kann den sozialen Frieden herstellen. Das ist aber nur möglich dadurch, daß die Arbeiterschaft wieder in den Besitz ihrer Produktionsmittel gelangt.

Hier stoßen wir auf ein weiteres Charakteristikum des modernen Lohnproletariers. Er ist Arbeiter nicht an individualistischen, sondern an gesellschaftlichen Produktionsmitteln, an Produktionsmitteln von einem Umfang, daß nicht der einzelne Arbeiter, sondern nur eine Gesellschaft von Arbeitern sich ihrer bedienen kann. Zwei Arten des Besitzes an dieser Art von Produktionsmitteln sind möglich: der Besitz durch einen Einzelnen, der dazu nothwendigerweise die Arbeiter ausbeutet, die er an seinen Produktionsmitteln beschäftigt; das ist kapitalistischer Besitz. Oder der genossenschaftliche Besitz. Aber unter der Herrschaft des Privateigenthums an den Produktionsmitteln kann der genossenschaftliche Besitz derselben nie die allgemeine Form ihres Besitzes werden; alle Versuche in dieser Richtung nehmen stets, soweit sie gelingen, früher oder später die kapitalistische Richtung an. Nur in der Form des gesellschaftlichen, also sozialistischen Eigenthums an den Produktionsmitteln kann ihr genossenschaftlicher Besitz allgemein werden. Es giebt noch andere Faktoren, die zur Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel hindrängen. Hier haben wir es aber nur mit jenen zu thun, die den Klasseninteressen des Proletariats entspringen und die es bewirken, daß der Klassenkampf des Proletariats naturnothwendig eine sozialistische Richtung einschlägt.

Endlich haben wir noch ein viertes Charakteristikum des modernen Lohnproletariers zu erwähnen, auf das wir in dieser Schrift schon hingewiesen: seine Trennung vom Haushalt seines Unternehmers. Die Lohnarbeiter früherer Zeiten bildeten in der Regel ein Anhängsel des Haushalts ihres Arbeitgebers, gehörten zu seiner Familie, nicht nur als Arbeiter, sondern auch als Menschen; sie waren in allen ihren Bethätigungen auch außerhalb der Arbeit von ihm abhängig. Der moderne Lohnproletarier gehört außerhalb der Arbeit sich selbst. Er wird um so mehr ein freier Mann, der seinem Kapitalisten außerhalb der Arbeit als Gleicher gegenübersteht, je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt und die feudalen Ueberreste beseitigt.

Das sind die Faktoren, die das moderne Proletariat zur kraftvollen Triebkraft der sozialistischen Bewegung gemacht haben.

Beim Bauern sind diese charakteristischen Merkmale keineswegs alle zu finden. Man weist auf den Hypothekengläubiger hin, der der thatsächliche Besitzer seines Gutes sei. Aber dieser steht zu ihm thatsächlich, wie wir gezeigt, nicht in dem Verhältniß von Kapitalist zu Lohnarbeiter, sondern von Grundbesitzer zu Unternehmer. Durch seine Hypotheken wird der Bauer ebenso wenig zum Proletarier, als ein Fabrikant deswegen, weil er sein unternehmen in einem gemietheten, statt in einem gekauften Hause betreibt, zum Proletarier wird. Der Bauer bleibt immer noch Besitzer von Produktionsmitteln, Besitzer seiner Werkzeuge und Geräthe, seines Viehs, kurz, seines Inventars. Freilich kann auch dies verschuldet sein, aber die Funktionen eines Unternehmers hat er nichtsdestoweniger zu erfüllen, und bleibt daher als solcher in einem Gegensatz zum Proletariat, wie auch ein Fabrikant, der nur mit geliehenem Kapital produzirt, dem gar keines seiner Produktionsmittel gehört, doch als industrieller Kapitalist fungirt und als solcher dem Proletariat feindlich gegenübersteht.

Am schroffsten muß dieser Gegensatz sich unter den Bauern bei jenen äußern, die auf die Ausbeutung von Lohnarbeitern angewiesen sind, bei den Großbauern.

Allerdings, solange die Bewegungen der Arbeiter auf die Städte beschränkt bleiben, und sich blos gegen die städtischen Kapitalisten richten, sehen ihnen die großen Landwirthe mitunter ganz sympathisch zu. Es waren zuerst englische, dann preußische Großgrundbesitzer, die sich den Anfängen der sozialistischen Bewegung wohlwollend gegenüberstellten und die Allianz des Arbeitslohnes mit der Grundrente gegen den Kapitalprofit predigten. Aber das ändert sich, sobald die sozialistische Bewegung droht, auch die Landarbeiter zu ergreifen, ja sobald nur das Steigen der industriellen Löhne die Landarbeiter in die Städte zieht und die zurückbleibenden anspruchsvoller macht. Hellte sind die preußischen Junker erbittertere Gegner der Sozialdemokratie, als selbst die „Manchestermänner“, heute folgen sie nicht der Fahne Wageners, sondern der Stumms. Und die Großbauern bleiben hinter ihnen nicht zurück.

Wenn es in Deutschland noch Gegenden geben sollte, in denen Großbauern der Arbeiterbewegung nicht feindlich gegenübertreten, sondern an eine gewisse Gemeinsamkeit der Interessen beider glauben, so wäre dies nicht ein Beweis dafür, daß auch diese Schichten für die Sozialdemokratie zu gewinnen sind, wenn man es mir richtig anzupacken weiß, sondern nur dafür, daß in jenen Gegenden die Arbeiterbewegung noch zu schwach ist, um die Verhältnisse der Landarbeiter günstig zu beeinflussen. Es wäre nur ein Beweis der Rückständigkeit, kein Vorzeichne beginnenden Fortschritts.

Weniger schroff wie zwischen Großbauern und Proletariern ist der Gegensatz zwischen diesen und den Mittelbauern, die keine Lohnarbeiter oder wenigstens nicht eine erhebliche Anzahl beschäftigen, die im Wesentlichen mit den Arbeitskräften der Familie ihren Betrieb im Gang halten, aber doch von der Lebensmittelproduktion für den Markt leben. Hier fällt freilich der Gegensatz zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem weg, indeß bleibt doch auch hier jener Gegensatz bestehen, der zwischen dem Lohnproletariat und allen Lebensmittelproduzenten für den Markt besteht: der Gegensatz zwischen Käufer und Verkäufer.

Man hat allerdings zwischen beiden Klassen eine Interessenharmonie herausgefunden, indem man darauf hinwies, daß der Arbeiter der beste Abnehmer der ländlichen Produkte sei. Je höher sein Lohn, desto mehr könne er davon verzehren. Die Bauern hätten also alles Interesse an hohen Löhnen, ihre Interessen seien mit denen des Proletariats identisch.

Derartige Argumentationen sind nicht neu, sie wurden wiederholt angewandt, Interessenharmonien zu entdecken. Von arbeiterfreundlicher Seite wurde den Fabrikanten zugeredet, sie sollten doch die Löhne erhöhen; das sei das beste Mittel, den inneren Markt zu erweitern und Absatzstockungen zu vermeiden. Dagegen wurde wieder von der Fabrikantenseite den Arbeitern auseinandergesetzt, welche Thoren sie seien, die Fabrikanten zu Lohnerhöhungen zwingen zu wollen. Entweder würden dadurch die Lebensmittelpreise erhöht, so daß die Arbeiter auf der einen Seite verlören, was sie auf der anderen gewönnen, oder es würden die Profite verringert. Je höher aber der Profit, desto mehr Kapital werde akkumulirt, desto rascher wachse die Nachfrage nach Arbeit, dieses mächtigste Mittel, die Löhne zu heben. Die Arbeiter hätten also triftigen Grund, alles zu vermeiden, was zur Schmälerung des Profit führen könnte, wie Strikes u. dergl. Sie hätten dasselbe Interesse wie die Fabrikanten an hohen Profiten, die Interessen beider seien identisch.

An diesen Argumentationen ist so viel richtig, daß auch die kapitalistische Gesellschaft wie jede andere ein einheitlicher Organismus ist, in dem jede Schädigung eines Theils nicht ohne manche unangenehme Rückwirkung auf die anderen Theile bleibt. Diese Thatsache hebt jedoch die Klassengegensätze nicht auf und überhebt keine Klasse der Nothwendigkeit, ihre Interessen im Kampfe unleugbar vorhanden, und dem weit entschiedeneren Gegensatz der Klasseninteressen beweist blos, welch ein unvollkommener Organismus die kapitalistische Gesellschaft ist, wie viele Mittel und Kräfte sie verschwenden muß, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Was die Stellung der einzelnen Klassen zu einander bestimmt und wodurch die kapitalistische Gesellschaft bewegt wird, das ist nicht oder wenigstens nur in geringem Grade die sehr mittelbare Harmonie ihrer Interessen, das sind in erster Linie die unmittelbaren Klassengegensätze.

Das gilt auch für das Verhältniß zwischen Lebensmittelverkäufern und Käufern. Ihr Gegensatz ist ein zu unmittelbarer, als daß er durch das viel ferner liegende Interesse des Verkäufers an der Kaufkraft des Käufers verwischt werden könnte.

Der Landmann will seine Produkte so theuer als möglich verkaufen, der Arbeiter will sie so billig als möglich kaufen. und was nützt jenem die Lohnerhöhung des letzteren, wenn sie nur zum Mehrkonsum von Margarine, amerikanischem Speck, australischem Fleisch und an Konserven aller Art führt! Er trachtet, die Konkurrenz auf dem Markte zu beseitigen, die dem Arbeiter so willkommen ist, und künstlich die Preise seiner Produkte in die Höhe zu schrauben.

Diesen Interessengegensatz kann das Predigen einer, allerdings scharfsinnig ausgeklügelten, aber keineswegs greifbaren Interessenharmonie nicht überbrücken.

Nicht ob ein Landwirth hungert, nicht ob er verschuldet ist, sondern ob er als Verkäufer seiner Arbeitskraft oder als Verkäufer von Lebensmitteln auf dem Markte auftritt, das entscheidet darüber, ob er geeignet ist, in die Reihen des kämpfenden Proletariats aufgenommen zu werden. Der Hunger und die Verschuldung schaffen an sich noch keine Interessengemeinschaft mit dem Gesammtproletariat, sie können einen Gegensatz gegen dasselbe noch verschärfen, sobald der Hunger nur dann gestillt wird, die Schulden nur dann bezahlt werden können, wenn die Lebensmittelpreise steigen und den Arbeitern der Genuß billiger Lebensmittel unmöglich gemacht wird.

Neben diesen gegensätzlichen giebt es allerdings auch Interessen, welche die Bauernschaft mit dem Proletariat gemein hat; wir werden diese noch kennen lernen. Die Interessengemeinschaft kann zeitweise stärker werden als der Interessengegensatz und eine politische Kooperation von Bauern und Proletariern herbeiführen. Aber mögen sie noch so oft vereint schlagen, sie werden in der Regel getrennt marschiren müssen, und der Verbündete von heute kann der Gegner von morgen werden.

Muß aber der Gegensatz zwischen den Verkäufern von Lebensmitteln und den Verkäufern von Arbeitskraft nicht für die letzteren verderblich werden? Ist nicht zu befürchten, daß unter diesen Umständen das Spiel von 1848 sich wiederholt und eines Tages die nägelbeschlagenen Schuhe der Bauern und Bauernsöhne sich gegen das Proletariat wenden und es niedertreten?

Sehen wir uns dies nägelbeschlagene Schreckgespenst etwas näher an. Vielleicht verliert es, wie so manches andere Gespenst, seine Schreckhaftigkeit, sobald man ihm zu Leibe rückt.

Die Erinnerung an das Jahr 1848 wird heraufbeschworen. Seitdem sind fünfzig Jahre kapitalistischer Herrschaft verflossen. Sollten sie ohne Wirkung geblieben sein?

Damals betrug die landwirthschaftliche Bevölkerung in Deutschland ungefähr drei Viertheile der Gesammtbevölkerung, heute beträgt sie nur noch etwas über ein Drittel, genauer 35,7 Prozent, 18.500.000 von einer Bevölkerung von 51.800.000. Noch 1882 war sie um 700.000 Köpfe stärker, betrug sie über zwei Fünftel, 42,51 Prozent der Bevölkerung, 19.225.000 von 46.222.000.

Im Königreich Sachsen beträgt sie nicht einmal ganze 14 Prozent (1882 noch 19 Prozent), in der Kreishauptmannschaft Zwickau nur 10 Prozent (1882 noch 14 Prozent) der Bevölkerung. Am stärksten in Norddeutschland ist sie in Posen (58 Prozent gegen 64 Prozent 1882), in Süddeutschland in Niederbayern, der deutschen Vendee, dem einzigen größeren Bezirk des Deutschen Reichs, in dem sie prozentuell seit 1882 nicht, oder wenigstens kaum merkbar abgenommen hat. Sie betrug 1882 61,5, 1895 61 Prozent der Gesammtbevölkerung des Regierungsbezirks.

Stärker ist die landwirthschaftliche Bevölkerung in Frankreich, aber auch dort ist sie 1876–1891 von 51,4 auf 45,5 Prozent der Gesammtbevölkernug gesunken (vergl. S. 218).

 

      

Gesammt-
bevölkerung

  

Prozentsatz der
landwirthschaftlichen
Bevölkerung

1876

36.906.000

51,4

1881

37.672.000

48,4

1886

38.219.000

46,6

Wir eilen den Zuständen Englands entgegen, wo 1890 die Zahl der in der Landwirthschaft Thätigen nur noch zehn Prozent aller Erwerbsthätigen betrug!

Auch in den Vereinigten Staaten ist eine wenn auch dicht absolute, so doch relative Abnahme der Erwerbsthätigen in der Landwirthschaft eingetreten, die dort leider mit denen der Fischereien und der der Bergwerksindustrie zusammengezählt werden. Wären sie gesondert verzeichnet, würde ihre Abnahme sicher noch stärker zu Tage treten. Sie betrugen von allen Erwerbsthätigen 1880 50,25 Prozent (7.405.000), 1890 44,28 Prozent (8.334.000). In den Nordatlantischen Staaten umfaßten sie 1890 nur noch 22,6 Prozent aller Erwerbsthätigen, in den Südstaaten allerdings über 60 Prozent.

Aber nicht alle Erwerbsthätigen in der Landwirthschaft sind Verkäufer von Lebensmitteln. Neben ihnen finden wir auch eine stattliche Anzahl Verkäufer von Arbeitskraft. Man zählte 1895 in der Landwirthschaft des Deutschen Reichs:

 

  Erwerbs-  
thätige

 

Angehörige
und
Dienstboten

 

Zusammen

Selbständige

 

2.576.725

  6.900.096

  9.476.821

Lohnarbeiter (Knechte,
Mägde, Taglöhner, Beamte &c.)

5.715.967

  3.308.519

  9.024.486

 

Zusammen

8.292.692

10.208.615

18.501.307

Die von der Lohnarbeit lebende Bevölkerung ist also in der Landwirthschaft ebenso stark, wie die der Selbständigen mit ihren Angehörigen.

Aber auch diese Selbständigen leben nicht alle ausschließlich vom Verkauf ihrer landwirthschaftlicheu Produkte. Von den 2.530.539 Selbständigen in der eigentlichen Landwirthschaft (abgesehen von Kunstgärtnerei, Forstwirthschaft &c.) hatten 504.165 einen Nebenerwerb.

Nicht günstiger steht’s mit den selbständigen Landwirthen, wenn wir statt der Berufs- die Betriebsstatistik zur Hand nehmen. Wir finden da, daß von 5.558.317 Inhabern landwirthschaftlicher Betriebe nur 2.499.130 selbständige Landwirthe sind; 717.037 sind unselbständige Landwirthe, der Rest gehört anderen Berufen an, darunter nicht weniger als 1.495.240 der Industrie. Wir finden also auf der einen Seite 2½ Millionen selbständige Landwirthe, denen fast 6 Millionen landwirthschaftliche Lohnarbeiter gegenüberstehen, auf der anderen Seite neben 2½ Millionen selbständigen Landwirthen 3 Millionen Inhaber landwirthschaftlicher Betriebe, deren Hauptinteressen andere als landwirthschaftliche.

Die Bauern bilden nicht einmal mehr auf dem flachen Lande die Mehrheit und unter ihnen steht eine starke Schicht ländlicher Arbeiter, die ihnen die Wage hält und deren Interessen in allen wesentlichen Punkten identisch sind mit denen der industriellen Lohnarbeiter.

In einzelnen Gegenden ist freilich die selbständige Bauernschaft weit stärker, als die obigen Durchschnittszahlen angeben. So entfallen z. B. von den 20 deutschen Verwaltungsbezirken mit dem stärksten mittelbäuerlichen Besitz (5–20 Hektar) allein 13 auf Bayern. Während im Deutschen Reiche von 100 Hektar landwirthschaftlich benutzter Fläche nur 30 auf den mittelbäuerlichen Betrieb entfallen, finden wir in diesen Bezirken 60–70 Prozent der Gesammtfläche von Mittelbauern besetzt. Kein Zweifel, daß in solchen Gegenden die nägelbeschlagenen Stiefel der Bauern dem Proletariat noch manchmal recht tüchtig auf die Hühneraugen treten können. Aber sie sind weit entfernt, es zertreten oder auch nur ernstlich gefährden zu können, sobald es erst einmal in voller Macht, unter einem Banner vereinigt, aufmarschirt. Das Proletariat hat nicht nur alle Vortheile der höheren Intelligenz, die das Stadtleben verleiht, der besseren Organisation und Schulung seiner Kräfte und des ökonomischen Uebergewichts der Industrie über die Landwirthschaft für sich, sondern auch heute schon das Uebergewicht der Zahl.

Das Proletariat ist bereits die stärkste Klasse im Deutschen Reiche. Man zählte, abgesehen von Armee, Staatsbeamten &c. und Beruflosen, 1895 im Deutschen Reiche 20.674.239 Erwerbsthätig und Dienende, davon gehörten zum Proletariat:

Dienende

  

  1.339.318

Lohnarbeiter in
Landwirthschaft, Industrie, Handel

10.746.711

Häusliche Dienste

      432.491

Zusammen

12.518.520

Von den restlichen 8.155.719 Erwerbshätigen fallen noch viele in das Bereich des Proletariats, sowohl von den 2 Millionen beschäftigten Familienangehörigen wie von del 600.000 Angestellten, und auch von den 5.500.000 Selbständigen ist gar mancher nur formell selbständig, thatsächlich ein Lohnarbeiter des Kapitals, wie z. B. in der Hausindustrie.

Angesichts dieser Zahlen, die sich rasch noch weiter zu Gunsten des Proletariats verschieben, ist es ein Anachronisnuis, die Erinnerung an das Jahr 1848 heraufzubeschwören. Hat die Sozialdemokratie erst einmal die gesammte Masse des Proletariats und dazu alle jene anscheinend selbständigen Landwirthe und Industriellen, die thatsächlich nur Lohnarbeiter des Kapitals sind „gepackt“, dann giebt es keine Macht mehr, die im Stande wäre, ihr Widerstand zu leisten. Diese Masse zu gewinnen, politisch und ökonomisch zu organisiren, intellektuell und moralisch zu heben, sie so weit zu bringen, daß sie im Stande ist, das Erbe der kapitalistischen Produktionsweise anzutreten, das ist und bleibt die Hauptaufgabe der Sozialdemokratie.

Dies „Packen“ ist allerdings, namentlich auf dem Lande, keine so einfache Sache. Es ist nicht anzunehmen, daß die Entwicklung des Proletariats, das Wachsthum seiner politischen und ökonomischen Macht, seine intellektuelle und moralische Erhebung auf dem flachen Lande jemals so rasch vor sich gehen kann, wie in den industriellen Zentren.

Die Faktoren, welche dort in dieser Richtung wirken, sind bereits aus dem Kommunistischen Manifest wohl bekannt, wir brauchen nicht lange dabei zu verweilen. Schon die vorkapitalistische Waarenproduktion drängte in einzelnen Städten große Massen besitzloser Lohnarbeiter zusammen. Mit der Macht und der Intelligenz der Städte wuchs auch ihre Macht, ihre Intelligenz. Aber die Handwerksgesellen waren noch halb unfreie Leute; sie gehörten zu dem Haushalt des Meisters, und Arbeit wie Haushalt isolirte sie von einander. Nur die Geselligkeit der Festtage brachte sie zusammen. Die kapitalistische Produktionsweise dagegen vereinigt die Lohnarbeiter in großen Massen nicht nur in einzelnen Städten, die an Ausdehnung die feudalen weit überragen, sondern auch innerhalb der Städte in einzelnen riesigen Werkstätten: sie selbst organisirt und disziplinirt die Lohnarbeiter. Diese aber gehören nicht mehr zum Haushalt des Unternehmers. Außerhalb der Werkstatt sind sie ökonomisch völlig selbständige freie Männer mit eigenem Haushalt.

Anders wie in den Städten wirkt die kapitalistische Entwicklung auf dem flachen Lande. Hier führt sie die Menschen nicht zusammen, sondern zerstreut sie. Sie führt nicht nur zu relativer, sondern von einer gewissen Höhe ihrer Entwicklung an sogar zu absoluter Entvölkerung des flachen Landes. Und es sind gerade die tüchtigsten, energischsten und intelligentesten Elemente, die sie dem Lande entführt. Die Schwächsten, Hilflosesten sind es, die zurückbleiben. Hand in Hand mit der Entvölkerung geht die intellektuelle Verödung des flachen Landes.

Die Verbesserung des Schulunterrichts, die an dem Lande eine sehr problematische, und der Fortschritt des Verkehrswesens, der Bücher und Zeitungen aufs Land bringt, wirken dem nur wenig entgegen. Wohl wird heutzutage, namentlich im Winter, von der Landbevölkerung mehr gelesen, als ehedem; aber die Zeitungen, die dem Landmann in die Hand kommen, sind meist reaktionärster Art, die die moderne Gesellschaft nach den Schablonen längst vergangener Zeiten beurtheilen und den Thatsachen, die in diese Schablonen nicht passen, um so unverfrorener Zwang anthun dürfen, je naiver und unwissender das Publikum, an das sie sich wenden. Und die Bücher sind neben der Bibel, dem Produkt vergangener Jahrtausende, Kolportageromane der schlimmsten Art, die an gröblicher Verzerrung der Wirklichkeit Unglaubliches leisten.

Eine derartige Literatur ist nicht nur nicht geeignet, die Einsicht in die Wirklichkeit, in das Wesen der modernen Gesellschaft zu klären, sie kann vielmehr eine völlige Verwirrung anrichten. Die Wirkungen der Isolirung werden dadurch oft nicht vermindert, sondern vielmehr verstärkt.

Schon dadurch wird es sehr erschwert, das ländliche Proletariat zu organisiren und ihm Verständniß und Interesse für die Bestrebungen des städtischen Proletariats beizubringen. Zu diesen mehr äußerlichen Hindernissen gesellen sich aber noch gewaltigere, die weit tiefer gehen.

So sehr auch die ländlichen Proletarier in allen entscheidenden Punkten mit dem industriellen Proletarier die gleichen Interessen theilen, so passen doch keineswegs alle die oben gegebenen Charakteristika des modernen Proletariers auf sie. Namentlich nicht auf das Gesinde, aber auch nicht auf Instleute, Heuerleute, Einlieger.

Alle diese Kategorien ländlicher Lohnarbeiter leben noch in feudalen Verhältnissen, als Bestandtheile oder doch Anhängsel eines fremden Haushalts. Sie stehen auch außer der Arbeit unter der „Zucht“ des Herrn; ihre Vergnügungen, ihre Lektüre und schon gar ihre Vereinigungen unterliegen seiner Kontrolle. Sie besitzen kein Koalitionsrecht, auch dort, wo es ihnen nicht durch das Gesetz vorenthalten wird; sie dürfen keine Zeitung lesen, die dem Herrn unaugenehm, womöglich wird ihnen vorgeschrieben, wie sie wählen sollen. Nicht einmal durch die Möglichkeit, einmal selbständig zu werden, wenn sie genug erspart, unterscheiden sich die Gesindeleute von den Leibeigenen und Sklaven der Vorzeit, denn auch diese hatten die Möglichkeit, sich freizukaufen.

Eine solche Klasse neigt bei übermäßig schlechter Behandlung zu Verzweiflungsausbrüchen und Revolten, dagegen ist ihre Lage der Führung eines organisirten, zähen, andauernden Klassenkampfes nicht günstig.

Besser steht es in dieser Beziehung mit den besitzenden Landarbeitern. Ihr eigener Betrieb erhebt sie nicht über das Proletariat, denn dieser Betrieb ist nur Anhängsel des Haushalts, und wir haben ja gesehen, daß es nicht der Mangel an Mitteln des eigenen Konsums, sondern der an Mitteln der Produktion für den Waarenmarkt ist, der den modernen Proletarier kennzeichnet. So wie etwa der Bergarbeiter ein Proletarier bleibt, auch wenn er sich ein Häuschen, ein Stückchen Kartoffelland und eine Kuh anschafft, bleibt er auch der ländliche Zwergwirth, so lange sein eigener Betrieb blos seinem Haushalt dient.

Aber wenn seine eigene Wirthschaft ihn nicht hindert, Proletarier zu sein, so erschwert sie es ihm doch sehr, sich als solcher zu fühlen. Seine Vergangenheit, seine Gegenwart, seine Zukunft bieten ihm zahlreiche Antriebe, sich an die Seite der selbständigen Landwirthe zu stellen. Schon die Tradition, die auf dem Lande eine viel größere Kraft hat als in der Stadt, legt dem Häusler und Kuhbauern das überkommene bäuerliche Klassenbewußtsein näher als das neuauftauchende proletarische. Aber helles zieht auch noch aus der Gegenwart seine Nahrung.

In der Theorie freilich ist der kleine Landwirth an solcher Produzent für den Selbstgebrauch; sein Geldbedürfniß wird durch den Verkauf seiner Arbeitskraft, nicht den seiner landwirthschaftlichen Produkte befriedigt. Aber ist das auch im Ganzen und Großen, also für die Theorie, richtig, so macht doch das Leben nicht so schroffe Unterschiede, wie wir sie zu wissenschaftlichen Zwecken machen müssen. Da giebt es unzählige Uebergänge, die der Theoretiker vernachlässigen darf und muß, will er die den Erscheinungen zu Grunde liegenden Gesetze erforschen, die er aber nicht übersehen darf, will er Anwendungen dieser Gesetze auf das praktische Leben ableiten. Auch der kleine Landwirth, dessen Betrieb gerade hinreicht, seinem Haushalt die nöthigen Lebensmittel zu liefern, ja selbst derjenige, dessen Betrieb dazu nicht ganz ausreichend ist, verkauft in der Regel einen Theil seiner Produkte; er mästet Schweine oder Gänse, verkauft Eier, Milch, Gemüse, wenn ein Markt – eine Stadt oder eine Fabrik – in der Nähe, und insofern sind ihm die Lebensmittelpreise keineswegs gleichgiltig, hohe Preise der Produkte, die er verkauft, sehr erwünscht.

Wo Naturallöhnung herrscht, sind die Landarbeiter auch als Lohnempfänger an hohen Lebensmittelpreisen interessirt. Erhalten sie etwa einen Theil des Lohnes in Roggen, den sie verkaufen, so haben sie ein Interesse an hohem Roggenpreis, also auch am Roggenzoll. Sie erscheinen auf dem Markte nicht blos als Verkäufer von Arbeitskraft, sondern auch als Verkäufer von Lebensmitteln.

Aber neben der Tradition der Vergangenheit und den Interessen der Gegenwart ist es noch das Interesse der Zukunft, das vielleicht als das mächtigste den Zwergbauer mit bäuerlichem Fühlen und Denken erfüllt. Der Mensch lebt wohl in der Gegenwart, aber er arbeitet für die Zukunft, und wie gewaltig diese sein Denken und Handeln beeinflussen kann, das weiß man am besten in der Sozialdemokratie, der Partei der Zukunft.

Der industrielle Lohnarbeiter ist dort, wo er noch an die Zukunft des Handwerks glaubt, wo der Handwerksgeselle sich als der künftige Meister fühlt, ein anderer, als dort, wo er die Hoffnung aufgegeben hat, jemals innerhalb der heutigen Produktionsweise selbständig zu werden. So ist auch der Zwergbauer dort, wo er die Hoffnung aufgegeben, als Landwirth in eigenem Betrieb jemals zur Selbständigkeit und auf einen grünen Zweig zu kommen, ein anderer als dort, wo er hofft, nicht ewig Zwergbauer zu bleiben, wo er erwartet, durch Ersparnisse, etwa von seinem Lohne, dahin zu kommen, so viel Grund und Boden zu erwerben, daß er ein völlig selbständiger Bauer wird. Ist er heute noch ein Häusler, der Lebensmittel zukaufen muß, so fühlt er sich dann doch als künftiger Bauer, der Lebensmittel verkaufen wird.

Diese Hoffnung zu nähren und wachzuhalten, erscheint daher den bürgerlichen Oekonomen als eine wichtige Aufgabe; denn diese Hoffnung ist das mächtigste Band, das die stärkste der arbeitenden Klassen auf dem Lande an den Grundbesitz knüpft und vom Proletariat trennt, und sie beschwören daher auch die großen Grundbesitzer, nicht in blinder Landgier allen Grund und Boden aufzukaufen, sondern so viel übrig zu lassen, als ausreicht – nicht etwa alle Landarbeiter zu Bauern zu machen, wo nähme man dann die Lohnarbeiter her – sondern als ausreicht, um alle Landarbeiter in die Hoffnung zu wiegen, einmal selbständige Bauern zu werden. Gerade diese Hoffnung macht sie um so eifriger, williger und unterwürfiger.

Einer derjenigen, die am eifrigsten den Großgrundbesitzern rathen, ihren Arbeitern Gelegenheit zur Erwerbung von Grundbesitz zu geben, ist v. d. Goltz. Aber, sagt er,

„meine Ansicht geht keineswegs dahin, man solle streben, alle Landarbeiter zu Grundbesitzern zu machen; wenigstens ist dies ein Ziel, welches zunächst für die östlichen Provinzen nicht im Auge gefaßt zu werden braucht ... Die Aussicht, einmal Grundbesitzer zu werden, macht die Instleute fleißig, sparsam, wirthschaftlich, bewahrt sie vor Ausschreitungen und dies kommt auch dem Arbeitgeber zu Gute. “ (Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, S. 215, vergl. S. 257–58)

So sagte auch der alte Roscher:

„Das Vorhandensein von kleinen Gütern ist besonders dadurch nützlich, daß auf solche Art die Lücke zwischen Taglöhner und Großbauer durch eine ununterbrochene Stufenleiter ausgefüllt wird. Die hierdurch gebotene Aussicht auf Beförderung, wenn man fleißig, geschickt und sparsam ist, hat ebensoviel Anspornendes wie Beruhigendes.“ (Nationalökonomik des Ackerbaues, S. 76)

Zwei Seelen wohnen in der Brust des Zwergwirths: eine bäuerliche und eine proletarische. Die konservativen Parteien haben alle Ursache, die bäuerliche zu stärken, das Interesse des Proletariats geht in entgegengesetzter Richtung – und ebenso sehr das Interesse der sozialen Entwicklung und das der Zwergwirthe selbst. Erinnern wir uns der zahlreichen Beispiele bäuerlicher Unterkonsumtion und Ueberarbeit, die wir im ersten Abschnitt kennen gelernt; wie wir gesehen, daß der ländliche Lohnarbeiter besser daran ist als der selbständige kleine Landwirth, daß das Elend mit der „eigenen Anspanne“ beginnt, dann kann es keinem Zweifel unterliegen, daß wir die Hebung der Zwergwirthe als Menschen, ihre soziale Erhebung ans der Barbarei in die Zivilisation nicht auf dem Wege ihrer Heraushebung aus der Lohnarbeiterschaft in die Bauernschaft anzustreben haben, und daß nichts gefährlicher und grausamer sein kann, als in ihnen Illusionen über die Zukunft des bäuerlichen Kleinbetriebs zu erwecken.

Das geschieht aber durch ein Agrarprogramm, das wirksamen Bauernschutz verheißt. Ein solches muß die proletarische Seele im Zwergbauern erschlagen und die bäuerliche zur Alleinherrscherin in seiner Brust machen. Es muß das Band zerschneiden, welches ihn mit dem industriell Proletariat verknüpft, und alle jene Faktoren in ihm lebendig machen, die ihn von der Gesammtmasse des Proletariats trennen. Eine proletarische Landagitation dieser Art muß das gerade Gegentheil dessen erreichen, was sie erreichen soll. Um rasch vergänglicher Augenblickerfolge willen untergräbt sie die Grundlagen, auf denen ein wirklicher proletarischer Klassenkampf auf dem Lande – keine bloße Wahlagitation – zu fußen hätte.
 

c) Klassenkampf und soziale Entwicklung

Die Sozialdemokratie ist die Partei des seinen Klassenkampf kämpfenden Proletariats; sie ist aber das nicht allein; sie ist gleichzeitig auch eine Partei der sozialen Entwicklung; sie strebt die Entwicklung des gesammten gesellschaftlichen Körpers über sein jetziges, kapitalistisches Stadium hinaus zu einer höheren Form an.

Die Vereinigung dieser beiden Seiten zu einer festen Einheit bildet das charakteristische Merkmal der Sozialdemokratie; sie begründet zu haben bildet das unsterbliche historische Verdienst von Marx und Engels. Es ist bekannt und wir selbst haben das schon an anderer Stelle ausgeführt, daß Arbeiterbewegung und Utopismus ursprünglich unabhängig voneinander, ja nicht selten feindlich gegeneinander sich entwickelten. Wohl war schon vor Marx und Engels stellenweise ihre Vereinigung vollzogen worden, so im sozialistischen Flügel des Chartistenthums, im französischen Gleichheitskommunismus, in der Weitlingschen Sekte. Noch in keiner großen sozialen Neubildung ist je die Theorie der Praxis vorangeeilt. Die Theorie vermochte nur in den vereinzelten, unsicheren Versuchen, die sich geistig noch nicht vom Boden der überkommenen Tradition losgelöst hatten, die Grundlinien der Neubildung zu entdecken und deren allgemeine Nothwendigkeit zu erkennen. Das war es auch, was Marx und Engel für die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus gethan habe. Sie haben an Stelle des empirischen Tastens und des sentimentalen Verlangens die klare Erkenntniß davon gesetzt, daß die höchste Form der Arbeiterbewegung die sozialistische ist und daß der Sozialismus nur durch die Arbeiterbewegung verwirklicht werden kann; daß die Arbeiterbewegung naturnothwendig über die kapitalistische Gesellschaft hinausstreben muß und daß die einzige Klasse, welche die Kraft hat, ein höheres gesellschaftliches Stadium über das kapitalistische Stadium hinaus zu erkämpfen, die Lohnarbeiterschaft ist.

Sie haben in ihren Werken die Untrennbarkeit von Sozialismus und proletarischem Klassenkampf unerschütterlich begründet, und es ist kein Zeichen theoretischen Fortschritts über unsere Meister hinaus, sondern des Rückschritts hinter sie, wenn heute nochmals die Fragen auftauchen, ob das Endziel wichtiger sei oder die Bewegung, ob die Praxis mehr zu bedeuten habe als die Theorie u. s. w., welche Fragen thatsächlich nichts sind als mehr oder weniger unklare Variationen der Frage, die bereits vor einem halben Jahrhundert im Kommunistischen Manifest gelöst worden ist.

Ziel und Bewegung gehören in der Sozialdemokratie zusammen, sind nicht voneinander zu trennen. Wenn aber einmal Ziel und Bewegung in Konflikt miteinander kommen, dann ist es die letztere, die nachgeben muß. Mit anderen Worten: die soziale Entwicklung steht höher als die Interessen des Proletariats, und die Sozialdemokratie kann proletarische Interessen nicht schützen, die der sozialen Entwicklung im Wege stehen.

Im Allgemeinen kommt das freilich nicht vor. Die theoretische Basis der Sozialdemokratie bildet ja gerade die Erkenntniß, daß die Interessen der sozialen Entwicklung und die des Proletariats zusammenfallen, daß dieses daher die berufene Triebfeder der letzteren ist.

Aber wo man zu sehr dem Grundsatz huldigt: das Hemd ist mir näher als der Rock, wo man geneigt ist, über dem Nächstliegenden das Fernerliegende zu vergessen, da zeigen sich nicht geringe Sonderinteressen einzelner Proletarierschichten, die sich der sozialen Entwicklung entgegenstemmen.

Innerhalb des Proletariats sind die verschiedensten Schichtungen zu finden. Die proletarische Elite empfindet, wenn sie nicht durch den Kampf um große Ziele mit der Gesammtmasse des Proletariats vereinigt wird, nur zu leicht einen Interessengegensatz zu ihr. Die technische und ökonomische Entwicklung hat aber die Tendenz, die bestehenden Verhältnisse auch der einzelnen proletarischen Schichten zu revolutioniren und bedroht dadurch aufs Bedenklichste die einzelnen Arbeiteraristokratien; sie führt Maschinen ein, ersetzt Männer durch Frauen, gelernte durch ungelernte Arbeiter, macht ganze Arbeiterkategorien völlig überflüssig, zieht rückständige Arbeiter vom Lande in die Stadt, vom Ausland ins Inland u. s. w. Die sozialdemokratische Methode, dagegen zu kämpfen, ist die Bethätignug der Solidarität des gesammten Proletariats, die Organisirung der Frauen, der ungelernten Arbeiter, der Ausländer, die Einführung eines gesetzlichen Normalarbeitstags für Alle und dergleichen. Die zünftige, der bürgerlichen Auffassung nachgebildete Methode besteht im Ausschluß der übrigen Arbeiter von der Arbeit und im Aufhalten der ökonomischen Entwicklung. Die Arbeiteraristokraten konstruiren sich ein erworbenes Recht auf ihre bevorzugten Stellen und kämpfen gegen die Einführung neuer Maschinen, gegen die Frauenarbeit &c.; sie kämpfen fruchtlos, wie die Erfahrung zeigt, die ökonomische Entwicklung ist mächtiger als sie, sie müssen Schritt für Schritt zurückweichen, aber nicht ohne schwere Verluste erlitten zu haben.

Die erstere Methode ist die der Sozialdemokratie, die letztere die jener Arbeiterbewegungen, die durch kein höheres Ziel, keine „Theorie“ geleitet werden, die reine Praktikerbewegungen sind. Kann man im Zweifel sein, welche Methode den Vorzug verdient?

Wohl ist die Sozialdemokratie sich dessen bewußt, daß jeder ökonomische Fortschritt in der kapitalistischen Produktionsweise für die davon betroffenen Bevölkerungsschichten zunächst zu einer Quelle der Degradation und der Verkümmerung wird, aber sie weiß auch, daß die Hemmung des Fortschritts noch viel schlimmere Folgen nach sich zieht, und daß dieser Fortschritt die arbeitende Bevölkerung nicht nur degradirt, sondern auch die Grundlagen ihrer späteren Erhebung und Befreiung schafft. Allerdings hat das Fortschreiten des Maschinenwesens der arbeitenden Bevölkerung namenloses Elend gebracht, ihre Gesammtlage ist eine schlechtere geworden als sie zur Blüthezeit des Handwerks war. Aber vergleichen wir die Industriezweige, in denen die Maschine herrscht, mit jenen, in welchen noch handwerksmäßig produzirt wird, so finden wir in den ersteren im Durchschnitt kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne, bessere Wahrung der hygienischen Bedingungen der Arbeit.

Wir haben in diesem Paragraphen bisher nur von Proletariern gesprochen, weil sich bei ihnen das Verhältniß von Klassenkampf und sozialer Entwicklung am deutlichsten veranschaulichen läßt. Die Anwendung des hier Entwickelten auf den Bauernschutz ergiebt sich von selbst.

Es ist klar, daß die Sozialdemokratie nicht den Bauern gewähren kann, was sie den Proletariern verweigern muß, den Schutz ihrer Berufsstellung. Der Arbeiterschutz, den die Sozialdemokratie fordert, bezweckt nicht die Konservirung der Berufsarbeiten der einzelnen Arbeiter, sondern die Konservirung ihrer Arbeits- und Lebenskraft; er schützt ihr Menschenthum und nicht ihren besonderen Beruf. Diesen Schutz verlangt das Proletariat nicht als ein Privilegium für sich; er soll jedem zu Theil werden, der seiner bedarf, und wenn die Bauern die Ausdehnung des Arbeiterschutzes auf ihre eigenen Betriebe und ihre eigenen Personen verlangen, so werden sie nirgends eifrigere Hilfe finden als bei der Sozialdemokratie. Aber darum ist es ihnen bekanntlich nicht zu thun; dagegen würden sie sich auf das Verzweifeltste wehren. Was sie verlangen ist der Schutz ihrer besonderen Betriebsweise gegen den Fortgang der ökonomischen Entwicklung, und den kann die Sozialdemokratie ihnen nicht gewähren.

Man weist darauf hin, daß in der Landwirthschaft die Verhältnisse anders liegen als in der Industrie, daß in ersterer die ökonomische Entwicklung nicht zur Ueberwindung des Kleinbetriebs durch eine höhere Produktionsweise, sondern blos zum Verkommen, der Verelendung der Bauernschaft führe. Der Bauernschutz bedeute also nicht Verhinderung des ökonomischen Fortschritts, sondern blos Verhinderung der physischen Degenerirung der Landbevölkerung, bezwecke also im Grunde dasselbe, wie der Arbeiterschutz, wenn auch mit anderen Mitteln.

Darauf ist zu erwidern: Der Bauernschutz, das bedeutet in erster Linie nicht Schutz der bäuerlichen Persönlichkeit, sondern Schutz des bäuerlichen Eigenthums. Gerade dieses aber ist die Hauptursache der Verelendung des Bauern. Wir haben gesehen, daß die Lohnarbeiter auf dem Lande heute schon vielfach besser daran sind als die besitzenden Kleinbauern und daß der besitzlose Lohnarbeiter viel eher dem heimischen Elend entflieht, als der Bauer, den sein Besitz an die Scholle bindet. Der Bauernschutz ist also nicht Schutz gegen die Verelendung des Bauern, er ist Schutz der Fesseln, die den Bauer an sein Elend ketten. Bauernschutz bedeutet aber auch Schutz und Förderung des bäuerlichen Waarenabsatzes. Die Waaren, die der Bauer verkauft, sind Lebensmittel. Je mehr er davon verkauft, desto weniger konsumirt er selbst. Förderung des Verkaufs von Milch, Eiern, Fleisch in der Stadt heißt Verminderung ihres Konsums auf dem Lande, ihre Ersetzung durch Kartoffeln, Schnaps und Kaffeebrühe. Das Geldeinkommen des Bauern wird dadurch gehoben, seine und seiner Kinder Kraft untergraben. Die Hebung seiner Lage als Bauer erkauft er durch seine Verkümmerung an Mensch.

Von vornherein ausgeschlossen, ja auf das Entschiedenste zu bekämpfen sind natürlich alle Versuche, der Verelendung der Bauernschaft entgegenzuwirken durch Abwälzung ihrer Lasten auf die Industrie oder das Proletariat.

Auf der einen Seite heißt der Bauernschutz, von diesem Standpunkt aus betrachtet, Lebensmittelzölle, auf der anderen Anerbenrecht, Fesselung der Arbeiter ans Land, Verschärfung der Gesindeordnung, Bezahlung der bäuerlichen Schuldenzinsen und Versicherungsprämien durch den Staat und dergleichen. Jeder Versuch, auf diese Weise der Verelendung der Bauernschaft entgegenzuwirken, muß entweder völlig wirkungslos bleiben oder, ehe er noch sein Ziel erreicht hat, und ohne daß er es ganz erreicht, zur Verelendung der Industrie und des Proletariats führen. Die Industrie ist aber die entscheidende Produktionsweise in einem kapitalistischen Gemeinwesen, viel mehr von ihrem Stande als von dem der Landwirthschaft hängt das Gedeihen der Gesammtbevölkerung ab. Ein kapitalistisches Gemeinwesen kann ohne Schädigung seines Wohlstandes der Industrie die Landwirthschaft opfern – vide England. Das umgekehrte Verfahren führt zum Verkommen von Industrie und Landwirthschaft. Nirgends ist das Landvolk elender daran, als in modernen Agrarstaaten ohne entwickelte Industrie; man blicke nur nach Galizien, Italien, Spanien, den Balkanländern, wenn man wissen will, was eine unentwickelte Industrie auch für die Bauernschaft bedeutet.

Anderseits ist nicht die Bauernschaft, sondern das Proletariat der Träger der modernen sozialen Entwicklung; Hebung der Bauernschaft auf Kosten des Proletariats heißt Hemmung des gesellschaftlichen Fortschritts.

Ferner aber ist es nicht ganz richtig, daß die Landwirthschaft keinen Fortschritt aufweist. Das gilt allerdings von der reinen Landwirthschaft, sie endet in einer Sackgasse; aber wir haben gesehen, daß die Industrie nicht auf die Städte beschränkt bleibt, daß sie auf das fache Land hinausgeht und dessen Produktionsverhältnisse in der mannigfachsten Weise revolutionirt. Die von der Industrie abhängige, mit ihr verbundene Landwirthschaft geräth ebenso wie die Industrie selbst in ein Stadium ununterbrochener Umwälzungen, die immer wieder neue Formen schaffen. Dieser Prozeß der Revolutionirung der Landwirthschaft ist erst in seinen Anfängen, aber er schreitet rasch vorwärts. Der Bauernschutz, der Versuch, die alte selbständige bäuerliche Landwirthschaft zu schützen, kann auf diese Entwicklung nur hemmend einwirken. Er wird die Umwälzung der Landwirthschaft nicht hindern, er wird sich als ebenso ohnmächtig erweisen, wie der Handwerkerschutz in der Industrie, aber er muß die Leiden und Opfer der Entwicklung steigern und durch seinen schließlichen Bankerott dem moralischen Ansehen derjenigen Parteien, die ihn propagiren, eine tiefe Wunde schlagen.
 

d) Die Bodenverstaatlichung

Ein sozialdemokratisches Agrarprogramm im Sinne des Bauernschutzes wäre also nicht blos zwecklos, sondern schlimmer als das, es würde die Sozialdemokratie aufs Tiefste schädigen. Denn es stünde im Gegensatz zu ihrem Charakter als proletarische wie als evolutionäre oder wenn man will, revolutionäre Partei. Sie hätte sehr problematische Augenblickserfolge mit einer Erschütterung ihres inneren Gefüges der Verringerung ihrer Angriffskraft und dem Verlust ihres Ansehens als weitestblickende Partei zu bezahlen.

Aber man kann ein sozialdemokratisches Agrarprogramm noch in einem anderen Sinne als dem des Bauernschutzes fordern. Man hat gesagt: Die Landwirthschaft weist eine viel langsamere Entwicklung auf als die Industrie. Sie wird zum Hemmschuh unseres Fortschreitens. Wir brauchen also Maßregeln, die ihre Entwicklung beschleunigen, und in diesem Sinne brauchen wir ein Agrarprogramm.

Dieser Standpunkt ist ein vollkommen richtiger. Die menschliche Gesellschaft ist ein einheitlicher Organismus, aber – und das ist einer ihrer wichtigsten Unterschiede vom thierischen Organismus – sie ist kein Organismus, dessen Theile sich alle in gleichem Tempo entwickeln. Einige seiner Theile bleiben in der Entwicklung zurück, werden von anderen überholt und müssen, im Interesse der Einheitlichkeit, von diesen künstlich, durch äußere Einwirkungen vorwärts getrieben werden, damit sie sich dem Ganzen anpassen. Dies gilt sowohl für einzelne Landstriche wie für einzelne Klassen. Nichts irrthümlicher als der Gedanke, daß die Anerkennung des Prinzips der sozialen Entwicklung alle Sprünge und alles künstliche, das heißt bewußte Eingreifen in die sozialen Vorgänge ausschließe. Er schließt nur alles willkürliche Eingreifen aus, jedes Eingreifen, das im Gegensatz zu den Tendenzen der sozialen Entwicklung steht, jedes Eingreifen, das blos von unseren Wünschen und Bedürfnissen und nicht von sozialer Einsicht geleitet ist.

Die Kulturländer Europas wurden reif für den Kapitalismus lange bevor der Feudalisirung in allen ihren Produktionszweigen und allen ihren Landestheilen überlebt war – finden wir doch heute noch vielfache Reste von ihm. So wird die moderne Gesellschaft auch reif werden für den Sozialismus lange bevor der letzte Handwerker und der letzte Bauer verschwunden sind und bevor das gesammte Proletariat politisch reif und ökonomisch organisirt ist: das Alles sind Voraussetzungen, die in der kapitalistischen Gesellschaft wohl nie eintreffen werden. Und es wird eine der Hauptaufgaben des siegreichen Proletariats sein, die zurückgebliebenen Volksschichten zu heben und ihnen die Mittel einer höheren Produktionsweise und einer höheren Kultur zu gewähren. Darunter werden Maßregeln zur Hebung der Bauernschaft in dem Sinne, daß ihr der Uebergang zu sozialistischer Produktion nahegelegt und möglichst erleichtert wird, jedenfalls eine hervorragende Rolle spielen. In diesem Sinne wird die Sozialdemokratie sicher ein Agrarprogramm brauchen.

Es fragt sich blos, ob der Zeitpunkt für ein solches schon gekommen, ob ein sozialdemokratisches Agrarprogramm möglich ist, das auf dem Boden der heutigen Gesellschaft die Entwicklung der Landwirthschaft im Sinne des Sozialismus fördert.

In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Haupttriebfeder der ökonomischen Entwicklung das Interesse der Kapitalisten, der Profit. Förderung der ökonomischen Entwicklung heißt da zunächst Förderung des Profits.

Dem besonderen kapitalistischen Zweck entsprechen aber auch besondere kapitalistische Mittel. Welche Stellung hat unter diesen Umständen die Sozialdemokratie der ökonomischen Entwicklung gegenüber einzunehmen?

Wir können und dürfen die kapitalistische Entwicklung nicht hemmen, aber sie zu unterstützen hat eine proletarische, sozialistische Partei keine Ursache.

Wir können es nicht hindern, daß arbeitsparende Maschinen eingeführt oder Männer durch Frauen als Lohnarbeiter verdrängt werden, wir haben aber nicht die Aufgabe, die Kapitalisten dazu aufzumuntern oder etwa auf Staatskosten dabei zu unterstützen. Dasselbe gilt von der Expropriation der Bauern und Handwerker.

Man wirft der Sozialdemokratie mitunter vor, sie freue sich über die Proletarisirung dieser Klassen. Nichts irriger als das. Sie bedauert dieselbe, sie würde dieser Methode des ökonomischen Fortschritts sofort ein Ende machen, wenn sie ans Ruder käme, sie erklärt es nur für aussichtslos, im Rahmen der heutigen Gesellschaft diesen Prozeß hindern zu wollen. Ihre eigene historische Aufgabe ist nicht die Expropriation der selbständigen Produzenten, sondern die Expropriation der Expropriateure.

Ganz derselbe Fall, wenn auch nicht so klar, liegt vor gegenüber der ökonomischen Entwicklung durch die Erweiterung des Weltmarkts und die Kolonialpolitik. Auch diese Methode ist im Grunde nur eine Methode der Expropriation; sie beruht auf der Enteignung der bisherigen Einwohner und Besitzer des kolonialen Gebiets, und auf der Ruinirung ihrer urwüchsigen Industrien. Sollten einmal chinesische Kulis nach Europa kommen und den Arbeitern Europas Konkurrenz machen, dann mögen diese nicht vergessen, daß jene zuvor durch europäisches Kapital expropriirt worden sind.

Auch dieser Prozeß läßt sich nicht aufhalten; auch er ist eilte Vorbedingung der sozialistischen Gesellschaft, aber auch dabei darf die Sozialdemokratie nicht mithelfen. Es ist eine ebenso reaktionäre Utopie, wie die Erhaltung des Handwerks und der Bauernschaft, wenn man die Sozialdemokratie auffordert, den Widerstand der Eingeborenen der Kolonialländer gegen ihre Expropriirung zu unterstützen; aber es hieße den Interessen des Proletariats ins Gesicht schlagen, wollte man es auffordern, die Kapitalisten dabei zu unterstützen, indem es ihnen dazu die Staatsmacht zur Verfügung stellt. Nein, diese Arbeit ist zu schmutzig, als daß das Proletariat sich zum Mitschuldigen davon hergeben dürfte. Dies niederträchtige Geschäft zu verrichten gehört zu den historischen Aufgaben der Bourgeoisie und das Proletariat muß sich glücklich schätzen, daß es seine Hände nicht damit zu besudeln braucht. Es darf nicht fürchten, daß deswegen die Bourgeoisie ihre Aufgabe vernachlässigt und die ökonomische Entwicklung ins Stocken bringt. Dieser historischen Aufgabe wird sie nicht untreu werden, so lange sie noch soziale und politische Macht besitzt, denn diese Aufgabe heißt nichts anderes, als Vermehrung des Profits.

Soweit das Proletariat in diesen Prozeß der kapitalistischen Entwicklung eingreift, kann seine Aufgabe nicht die sein, ihn zu fördern, ihm direkt oder indirekt (durch die Staatsgewalt) seine freiwillige Unterstützung zukommen zu lassen, jedoch auch nicht die, ihn zu hindern, sondern nur die, die verderblichen, degradirenden Folgen für die von ihm betroffenen Volksschichten so weit abzuschwächen, als möglich und ohne Schädigung der Entwicklung erreichbar ist. Also nicht Verbot der Maschinen und der Frauenarbeit, sondern Arbeiterschutzgesetze. Nicht Hemmung des Exports, aber Verweigerung der verschiedenen Arten von Staatsunterstützung (Schutzzölle, Prämien, Kolonialerwerbungen) für ihn, und wo dies praktisch unwirksam bleibt, wenigstens möglichster Schutz der von dieser Politik Betroffenen, z. B. der eingeborenen Bevölkerung der Kolonien.

Wir werden noch sehen, wie dies Prinzip auch auf manche Methoden der Expropriation der Bauernschaft anzuwenden ist.

Es ist klar, daß eine Förderung der ökonomischen Entwicklung der Landwirthschaft im kapitalistischen Sinne nicht die Aufgabe eines sozialistischen Agrarprogramms sein kann. Dies ist auch von keiner Seite in Aussicht genommen worden. Nein, man dachte dabei an Maßregeln, die im Stande wären, heute schon den Boden zu sozialistischer Produktion in der Landwirthschaft vorzubereiten und deren Uebergang dazu schmerzlos zu beschleunigen.

Dieser Gedanke wurde nur ermöglicht durch den schon mehrfach berührten Widerspruch, der zwischen Grundeigenthum und Betrieb in der Landwirthschaft erstanden ist. Der Betrieb ist weit rückständiger als in der Industrie, weit mehr vom Sozialismus entfernt als dort; es erscheint ein Unding, in der Landwirthschaft zu sozialistischem Betrieb überzugehen, so lange in der Industrie und damit in der Gesellschaft der Kapitalismus herrscht.

Aber was für die Produktion gilt, gilt nicht auch vom Eigenthum. Das Privateigenthum am Boden ist viel eher und viel mehr zu den Produktionsbedingungen der Landwirthschaft in Widerspruch gerathen und eine unerträgliche Fessel für sie geworden, als das Privateigenthum an den Produktionsmitteln in der Industrie. 1dabei hat sich das Eigenthum am Boden bereits völlig vom Betrieb verselbständigt. Während bei den landwirthschaftlichen Betrieben eine Zentralisationstendenz kaum merkbar, vielfach sogar die Tendenz zur Zersplitterung vorhanden ist, herrscht im Grundeigenthum die entschiedene Tendenz zur Zentralisation, die namentlich beim hypothekarischen Eigenthum aufs Schärfste zu Tage tritt, welches Eigenthum auch bereits in überwiegendem Maße ein Unpersönliches geworden ist.

Die Verstaatlichung des Grundeigenthums ist daher möglich bereits in der kapitalistischen Gesellschaft; sie ist möglich unter Beibehaltung der Waarenproduktion und des Lohnsystems, ohne Aenderung der bestehenden Produktionsweise. Sie wird in der eine oder anderen Form von bürgerlichen Parteien, vielfach von Landwirthen selbst schon aufs Dringendste gefordert, Andererseits laufen auch die sozialistischen Agrarprogramme der in Rede stehenden Art alle auf nichts anderes hinaus, als auf irgend eine Methode der Bodenverstaatlichung.

Mit unserer Stellung zur Bodenverstaatlichung in der heutigen Gesellschaft ist auch unsere Stellung zu den sozialdemokratischen Agrarprogrammen der fortschrittlichen Art gegeben.

Neben der eigentlichen Bodenverstaatlichung, die namentlich in den Ländern des Pachtsystems sehr populär geworden ist, kommen hier in Betracht die Verstaatlichung der Hypotheken und die Verstaatlichung des Getreidehandels.

Der Herr der Hypothek ist thatsächlich der Herr des Grundbesitzes; der Hypothekenschuldner steht zu ihm in einem ähnlichen Verhältniß, wie der Pächter zum Grundbesitzer.

Das Monopol des Getreidehandels aber macht jene Landwirthe, die Getreide zum Verkauf bauen – also ihre große Mehrheit – völlig abhängig vom Herrn des Monopols. Dieser verfügt, wenn auch nicht juristisch, so doch thatsächlich über die gesammte, mit Getreide bebaute Fläche.

Es waren zuerst Sozialisten, welche diese Forderungen erhoben. Unter den Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland, die das Komite des Kommunistenbundes (darunter Man und Engels) im März 1848 aufstellte, lautete die achte: „Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigenthum erklärt: die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt.“

Der siebente Paragraph verlangte die Umwandlung der großen Landgüter in Staatseigenthum.

Dreißig Jahre später setzten die Arbeitervereine des Kantons Zürich eine Bewegung in Szene zur Einführung des staatlichen Getreidehandels.

Heute, wo dieselben Forderungen von Landwirthen erhoben werden, stehen die sozialdemokratischen Parteien ihnen vielfach mit Mißtrauen, ja mitunter direkt ablehnend gegenüber. Was hat sich seitdem geändert? Sowohl die allgemeine Einsicht wie die gesellschaftliche Situation.

„Als die Februarrevolution ausbrach“, sagt Engels in seiner denkwürdigen Vorrede zu den Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850, von Marx, „standen wir Alle, was unsere Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen betraf, unter dem Banne der bisherigen geschichtlichen Erfahrung, namentlich derjenigen Frankreichs ... Da konnte unter damaligen Umständen kein Zweifel für uns sein, daß der große Entscheidungskampf angebrochen sei, daß er ausgefochten werden müsse in einer einzigen langen und wechselvollen Revolutionsperiode, daß er aber nur enden kann mit dem endgiltigen Siege des Proletariats.“

In der schweizerischen Arbeiterbewegung der siebziger Jahre aber herrschte noch der demokratische Aberglaube, der absah von den Klassengegensätzen, absah von den gesellschaftlichen Bedingungen, und glaubte, es bedürfe nur der nöthigen demokratischen Formen und der nöthigen Aufklärungen, um die Bahn für den Sozialismus frei zu machen.

Ganz anders spricht die heutige Einsicht, ganz anders liegt aber auch die heutige Situation wie damals. Es sind heute nicht mehr die Proletarier, sondern besitzende Landwirthe, die am lautesten die Forderung der Verstaatlichung des Getreidehandels und der Hypotheken erheben, und sie ist bestimmt, nicht die Vortheile, sondern die Nachtheile des privaten Grundeigenthums der Gesammtheit aufzuhalsen, dagegen die Vortheile des privaten Grundeigenthums bestehen zu lassen, ja zu sichern und zu vergrößern. Es sind eben nicht Proletarier, sondern Grundbesitzer und Kapitalisten, die den Staat in Händen haben, die also die Verstaatlichung durchzuführen hätten. Und die Lage von Landwirthen wie von Proletariern ist 1898 eine andere als 1848 und 1878.

Bis 1878 waren die Getreidepreise in stetem Steigen begriffen; die Landwirthe prosperirten, aber die Konsumenten litten. Ein staatliches Eingreifen in diesen Prozeß konnte nur den Zweck haben, den Konsumenten zu Hilfe zu kommen, also der Steigerung entgegenzuwirken.

Heute sinken die Getreidepreise, heute sind es nicht die Konsumenten, sondern die Produzenten, die über die Getreidepreise jammern. An eine künstliche Herabdrückung dieser Preise durch den Staat denkt kein Mensch – wo die Staatsgewalt in die Feststellung der Getreidepreise eingreift, geschieht es nur, um sie zu erhöhen. Kein Wunder, daß der staatliche Getreidehandel nun ein gänzlich verändertes Gesicht zeigt.

Aber das Gleiche ist der Fall mit der Verstaatlichung der Hypothek 1848 bis 1878 war die Grundrente in stetem Steigen begriffen. So lange dies anhielt, konnte eine Verstaatlichung der Hypotheken keineswegs von Vortheil für den Grundbesitz sein. Sie hatte nur einen Zweck als eine Uebergangsmaßregel des revolutionären Proletariats zur sozialistischen Gesellschaft, als ein Mittel, den Grundbesitz in Abhängigkeit von der Staatsgewalt zu bringen und der Kapitalistenklasse ein Ausbentungsgebiet zu entreißen.

Anders steht die Sache seit 1878, seitdem der Rückgang der Grundrenten eingetreten ist. Diese sinken, nicht aber die Masse der Hypothekenzinsen, die Verschuldung steigt vielmehr. Die Grundbesitzer sind immer weniger im Stande, ihren Verpflichtungen nachzukommen; tritt nicht eine unerwartet Wendung ein, dann gehen die Hypothekenbanken schweren Verlusten entgegen.

Die Verstaatlichung der Hypotheken wird jetzt ein Mittel, den Kapitalisten ihre Zinsen zu garantiren, denn nicht der einzelne Grundbesitzer, sondern der Staat tritt ihnen gegenüber als Schuldner auf. Ihre Zinsen haben sie nun sicher. Dafür darf der Staat das gesammte Risiko auf sich nehmen, das bisher die Kapitalisten getragen haben. Diese gewinnen – daneben auch die Grundbesitzer, wenigstens vorübergehend, wenn die Verstaatlichung zur Herabsetzung des Zinsfußes ihrer Hypotheken führt. Die Zeche haben die Steuerzahler zu begleichen.

Nicht anders stünde es mit der Bodenverstaatlichung gegen Ablösung bei Fortbestehen der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie die bürgerlichen Bodenreformer à la Henry George anstreben. Wäre es ihnen etwa gelungen, zu Ende der siebziger Jahre in England die Bodenverstaatlichung durchzusetzen, so hätte Niemand davon einen größeren Vortheil gehabt, als die ausgekauften Landlords. Sie würden dann mit Ruhe die Zinsen der ihnen vom Staate bezahlten Kapitalien verzehren, dieser aber hätte den ganzen Verlust an Grundrenten zu tragen, 30 Prozent und mehr, der heute den Landlords zur Last fällt.

Von der Hypothekenverstaatlichung unterscheidet sich die Bodenverstaatlichung allerdings in günstiger Weise dadurch, daß diese dem Staat wenigstens die Möglichkeit bietet, durch Einführung verbesserter Betriebsformen den Folgen des Sinkens der Grundrente entgegenzuwirken, während die erstere ihm gar keinen Einfluß auf die Betriebsführung gestattet.

Aber allzuviel Zutrauen zum Staat als Landwirth darf man auch nicht haben. Der Staat ist heute in erster Linie eine Herrschaftsinstitution. Diesen Charakter verleugnet er auch dort nicht, wo ihm wirthschaftliche Funktionen zufallen. Auch da sind es die Gesichtspunkte des Juristen, Polizisten, Soldaten, die entscheiden, nicht die des Technikers und Geschäftsmannes. Erst in dem Maße, in dem es dem Proletariat gelingt, die Klassenunterschiede zu beseitigen und dem Staat seinen Charakter als Herrschaftsorganisation zu nehmen, wird sich das ändern. Heute wirthschaftet der Staat in der Regel theurer und unbehilflicher, als der private Kapitalist; ein Argument, das von bürgerlicher Seite gern gegen den Sozialismus ausgespielt wird, das aber nicht gegen diesen spricht, sondern nur gegen den modernen Staat. Indessen kann selbst heute schon die Verstaatlichung eines Unternehmens von wirthschaftlichem Vortheil für die Gesammtheit sein. Das trifft bei solchen Betrieben zu, die Monopole sind, sei es durch natürliche Verhältnisse – Eisenbahnen, manche Bergwerke –, sei es durch gesellschaftliche – Kartelle, Trusts. Hier kann die Ausbeutung des Publikums durch die privaten Monopole einen solchen Grad erreichen, daß der Staatsbetrieb als Retter in der Noth erscheint, namentlich dort, wo die Regierung vom Volke abhängig ist, so daß nicht der Fiskus nach Belieben die Ausbeutung durch das private Monopol fortsetzen darf.

Aber wo ein solcher Nothstand durch ein privates Monopol nicht vorhanden, besteht kein ökonomischer Grund, dem heutigen Staat ein geschäftliches Unternehmen zum Betrieb zu übergeben. Im Gegentheil. Und zu den ökonomischen Gründen, die dagegen sprechen, gesellen sich politische, die auch dem Charakter des Staates als Herrschaftsorganisation entspringen. Die ökonomischen Machtmittel des heutigen Staates vermehren, heißt auch, seine Unterdrückungsmittel gegenüber den beherrschten Klassen vermehren. Wie das ökonomische, wird auch dieses politische Motiv in dem Maße mehr hinfällig, in dem der Staat unter den Einfluß des Proletariats geräth. Aber die demokratischen Formen allein bieten noch keine Gewähr gegen die Anwendung der staatlichen Machtmittel zur Niederhaltung des Proletariats. Wo Bauern und Kleinbürger die große Mehrheit, sind diese wohl mitunter bereit, die Ausbeutung der Arbeiter durch die großen Kapitalisten zu beschränken, um so eifersüchtiger aber wachen sie über der „wirthschaftlichen Freiheit“ der kleinen Ausbeuter. Die Schweizer Bauern und Kleinbürger lassen die Arbeiter ruhig in allen politischen Angelegenheiten gewähren, aber bei jedem Strike gegen Handwerksmeister gerathen sie außer sich und gebärden sich unter staatlicher Assistenz womöglich noch brutaler als ihre Genossen in unfreien Ländern; und wenn die Arbeitsbedingungen staatlicher Arbeiter und Beamter verbessert werden sollen, da werden die demokratischen Freiheiten, namentlich das Referendum, fleißig benützt, den Staatsangestellten den Brotkorb höher zu hängen.

Wo das Proletariat nicht eine maßgebende Rolle spielt, hat also die Sozialdemokratie keinen Grund, sich ohne Noth für Ausdehnung der Staatswirthschaft und des Staatsbesitzes zu begeistern. Liegt ein solcher Nothfall in der Landwirthschaft vor?

Bis in die siebziger Jahre hinein bildete der Besitz von Grund und Boden allerdings ein Monopol, das zu steigender Ausbeutung der Bevölkerung führte. Aber die Entwicklung des Verkehrs hat dieses Monopol im Allgemeinen für die Landwirthschaft gebrochen, wenigstens dort, wo die Staatsgewalt es nicht durch künstliche Unterbindung des Verkehrs aufrecht erhält. Andererseits ist die Betriebsform in der Landwirthschaft noch nicht eine derartige, daß sie nach der Staatswirthschaft verlangt. Eher werden die landwirthschaftlichen Industrien – Zuckerfabrikation, Branntweinbrennerei, Bierbrauerei u. dergl. – für die Verstaatlichung reif werden, als die eigentliche Landwirthschaft. Der Staat selbst zieht es heute vor, seine Domänen an kapitalistische Landwirthe zu verpachten, statt sie selbst zu bewirthschaften. Die Sozialdemokratie hat keinen Grund, die Zahl der kapitalistischen Staatspächter zu vermehren und die Regierung unabhängiger von den Geldbewilligungen der Volksvertreter zu machen.
 

e) Die Verstaatlichung von Wald und Wasser

Ein bedeutender Zweig des ländlichen Erwerbslebens, allerdings einer, der nicht zur eigentlichen Landwirthschaft gehört, macht eine Ausnahme: die Forstwirthschaft. Eine rationelle Bewirthschaftung des Waldes ist unverträglich mit den Bedürfnissen der kapitalistischen Plusmacherei. Wo sich das Kapital des Waldes bemächtigt, da ruinirt es ihn, denn eine gute Forstwirthschaft steht nicht im Einklang mit den kapitalistischen Verwerthungsbedürfnissen. Diese erfordern raschesten Umschlag des Kapitals; in der Waldwirthschaft ist er jedoch ungemein langsam.

„Die lange Produktionszeit (die einen relativ nur geringen Umfang der Arbeitszeit einschließt), daher die Länge ihrer Umschlagsperioden macht die Waldzucht zu einem ungünstigen Privat- und daher kapitalistischen Betriebszweig, welcher letztere wesentlich Privatbetrieb ist, auch wenn statt des einzelnen Kapitalisten der assoziirte Kapitalist auftritt. Die Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so thätig in der Zerstörung von Waldungen gezeigt, daß dagegen alles, was sie umgekehrt zu deren Erhaltung und Produktion gethan hat, eine vollständig verschwindende Größe ist.“ (Marx, Kapital, II, S. 226)

Marx zitirt an der angeführten Stelle Kirchhofs Handbuch der landwirthschaftlichen Betriebslehre, wo es heißt:

„Der Produktionsprozeß ist (im Walde) an so lange Zeiträume gebunden, daß er über die Pläne einer Privatwirthschaft, einzeln sogar über die Zeit eines Menschenlebens hinausgeht. Das für Erwerbung des Landbodens angelegte Kapital (Marx bemerkt dazu: ‚Bei Gemeinproduktion fällt dieses Kapital fort und ist die Frage nur, wie viel Boden die Gemeinde für Waldproduktion dem Acker- und Weideboden entziehen kann‘) trägt nämlich erst nach langer Zeit lohnende Früchte und schlägt nur theilweise, vollständig aber bei manchen Holzarten in Forsten erst bis zu hundertundfünfzig Jahren um. Außerdem erfordert die nachhaltige Holzproduktion selbst einen Vorrath lebendigen Holzes, welcher das Zehn- bis Vierzigfache der jährlichen Nutzung beträgt. Wer daher nicht noch anderes Einkommen hat und bedeutende Waldstrecken besitzt, kann keine regelmäßige Waldwirthschaft führen.“

Wo ausschließlich kapitalistische Erwägungen entscheiden, da schlägt nur zu leicht die letzte Stunde des Waldes, den man schonungslos abholzt. Nicht minder verderblich wird ihm der Nothstand des Bauern. Der Wald ist aber von so großer Bedeutung für die Bewohnbarkeit und Fruchtbarkeit eines Landes, für das Klima, die Gleichmäßigkeit im Stande der Gewässer, die Milderung ebenso von Hochfluthen wie von Versandung der Flüsse, Schutz des Kulturbodens im Gebirge und am Meeresstrande &c., daß seine rücksichtslose Verwüstung die schwersten Schädigungen der Bodenkultur herbeiführt. Vielfach haben die Staaten sich daher veranlaßt gesehen, ebenso wie die Arbeitskraft des Lohnarbeiters auch den Wald vor der Vergeudung durch das Kapital zu schützen, das in seiner blinden Habgier die Henne zu schlachten sucht, welche die goldenen Eier legt. Waldschutzgesetze wurden eingeführt, leider nur unzureichende und nicht überall. Im Deutschen Reich unterliegen bisher nur 30 Prozent der in Privateigenthum befindlichen bewaldeten Fläche forstgesetzlichen Bestimmungen. In Preußen, Sachsen und mehreren kleineren Staaten fehlen solche gänzlich.

Andererseits sucht der Staat durch Ausdehnung der Staatsforsten und Aufforstung kahler Gebirgszüge oder Sandflächen mit großen Kosten wieder gut zu machen, was kapitalistische Profitwuth leichten Herzens verschuldet.

Nur unvollkommen paralysirt wird diese Entwicklung durch die andere, bereits in einem anderen Zusammenhang geschilderte, die aus dem Anwachsen der kapitalistischen Revenuen entspringt. Drängt die kapitalistische Ausbeutung den Wald immer weiter zurück, so läßt ihn der kapitalistische Luxus immer weiter vordringen. Aber weil es sich hier um Luxus, um verschwenderische Launen handelt, ist die Ausdehnung des Waldes, welche diesen Faktoren entspringt, keine rationelle und planmäßige. Man kann heute z. B. in den österreichischen Alpenländern die Beobachtung machen, daß in den einen Gegenden der Wald vordringt auf Kosten der Weide-, ja der Ackerflächen, indeß er in anderen Gegenden dort verschwindet, wo er unbedingt nöthig ist zum Schutze gegen Lawinen- und Wildbachgefahr, so daß Lawinenstürze, Ueberschwemmungen, Murbrüche das Kulturland ruiniren. Wird auf der einen Seite das Kulturland eingeengt, die Landwirthschaft unmöglich gemacht durch das Uebermaß von Wald, so auf der anderen Seite durch den Mangel daran. Das ist die Waldwirthschaft der kapitalistischen Periode.

Das eine ist ebenso verderblich wie das andere und erheischt seine Eindämmung im Interesse der Gesammtheit. Am wirksamsten kann dies geschehen durch Verstaatlichung des Waldes, die allein im Stande ist, die rationellste Waldwirthschaft zu sichern, wenigstens dort, wo der Staat nicht finanziell bankerott und wo die Regierung nicht unter dem Einflusse derselben Edelsten und Besten steht, die die Ruinirung der Landwirthschaft durch ihren Sport für eines ihrer kostbarsten Privilegien erklären. In einem finanziell gesunden, demokratischen Staate wird die Sozialdemokratie, auch wenn das Proletariat dort noch gering an Einfluß, unbedenklich die Verstaatlichung der Wälder fordern dürfen.

Eng verwandt mit der Verstaatlichung der Wälder ist die der Gewässer. Nicht blos die Interessen der Landwirthschaft allein – Bewässerung und Entwässerung – kommen dabei in Betracht, sondern noch viele andere höchst wichtige Interessen, namentlich solche des Verkehrs – Fluß-, See- und Kanalschiffahrt –, der Industrie, die zahlreicher Wasserkräfte bedarf und noch mehr in Anspruch nehmen wird, je mehr die Elektrotechnik sich entwickelt; dann Interessen der Hygiene – Entwässerung von Sümpfen, Trinkwasserversorgung, Ableitung von Fäkalien und anderen Abfallsstoffen –, und endlich solche der öffentlichen Sicherheit – namentlich Schutz gegen Hochwasser. Eine rationelle Wasserwirthschaft wird immer nothwendiger, je weiter die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt, denn mehr als jede andere greift diese ini die natürlich gegebenen Verhältnisse der Gewässer ein durch Entwaldung, Trockenlegung von Sümpfen, Tieferlegung von Seespiegeln, durch Wasserleitungen, Kanalbauten, Flußkorrektionen, Stauanlagen u. s. w.; mehr als eine andere vorher hat sie aber auch Hilfsmittel geschaffen, dem Wasser seine Bahnen vorzuschreiben. Je künstlicher das System der Wasserläufe ist, desto verderblicher die Folgen, die seine Entwicklung in falscher Richtung nach sich ziehen kann. Dabei deckt sich aber hier weniger noch als anderswo das Einzelinteresse mit dem Gesammtinteresse. Man kann einen Fluß juristisch in verschiedene Theile theilen und einem einzelnen Individuum ein Eigenthumsrecht an einem einzelnen dieser Theile zusprechen, thatsächlich bleibt aber ein Fluß, ja ein ganzes Flußgebiet ein Ganzes, von den Quellgebieten bis zur Mündung, und was in jenem Theile für den dortigen Herrn des Flusses nützlich, kann verheerende Folgen für die weiter unten Wohnenden nach sich ziehen. Eine rationelle Wasserwirthschaft kann nur eine solche sein, die das ganze Gebiet eines Flusses planmäßig nach einheitlichen Gesichtspunkten verwaltet, und sie wird dabei mit der Waldwirthschaft Hand in Hand gehen müssen. Der Herr des Flusses muß auch Herr des Waldes sein. Die Verstaatlichung der Gewässer darf um so eher gefordert werden, als die Grundrente, die das fließende Wasser abwirft, nicht sinkt, sondern steigt, namentlich in Folge der zunehmenden kapitalistischen Ausbeutung von Wasserkräften zu industriellen Zwecken. Eine finanzielle Belastung der Bevölkerung ist daher von dieser Art Verstaatlichung nicht zu erwarten, eher eine Bereicherung des Staates, wenigstens dort, wo sie geschickt durchgeführt wird. Wo die Staatsverwaltung nicht so korrupt ist, daß jede Verstaatlichungsaktion nur zur Plünderung des Staates führt, und nicht so bureaukratisch verzopft, daß sie jeder technischen Aufgabe hilflos gegenübersteht, wo sie einigermaßen anständig und der Kontrolle einer demokratisch gewählten Volksvertretung unterworfen ist, wird man unbedenklich auch heute schon die Verstaatlichung der Gewässer fordern dürfen.

Wie bedenklich auch die Staatswirthschaft des Bourgeoisstaates und noch mehr die des Polizeistaates ist, in Bezug auf Wasser und Wald ist sie heute schon der Privatwirthschaft überlegen.

Man darf diese Verstaatlichung von Wasser und Wald nicht auf eine Stufe mit dem Gemeinbesitz an Wasser und Wald der Markgenossenschaft setzem. Dieser letztere war ein Produkt der gemeinsamen Ausbeutung von Wasser und Wald, der gemeinsamen Fischerei, der gemeinsame Jagd, der gemeinsamen Viehweide. Heute hat die Viehweide im Walde fast ganz aufgehört, die Jagd ist zum Privatvergnügen der Aristokratie geworden und die Flußfischerei zumindest relativ in ihrer Bedeutung für die Volksernährung sehr zurückgegangen. Wenn heute die Verstaatlichung von Wald und Wasser zu einer Nothwendigkeit wird, so spielen Rücksichten auf Fischerei, Jagd und Viehweide dabei keine Rolle, wohl aber Erwägungen, die zur Zeit der Markgenossenschaft noch völlig ausgeschlossen waren, weil alle Voraussetzungen für sie fehlten.
 

f) Der Dorfkommunismus

Soviel über die Staatswirthschaft auf dem Lande. Aber neben der Staatswirthschaft – dem „Staatssozialismus“, entwickelt sich auch die Gemeindewirthschaft – der „Munizipalsozialismus“. Sollte der nicht in der Landwirthschaft den ersehnten Hebel bilden, mit dessen Hilfe man heute schon die stockende Entwicklung in der Landwirthschaft beschleunigen und in die Richtung zum Sozialismus drängen könnte? Ist nicht der Dorfkommunismus eine uralte Einrichtung, die dem konservativen Bauern näher steht, als dem Städter, von der noch zahlreiche Reste sich erhalten haben?

Im Deutschen Reich zählte man 1895:

 

  Gemeinden  

    Betriebe    

Nutzungsfläche
Hektar

Mit ungetheilter Weide

12.492

129.468

   441.635

Mit ungetheiltem Wald

12.386

570.846

1.340.160

Mit aufgetheiltem, aber noch im
Gemeindebesitz befindlichem Land

  8.560

382.833

   264.309

Braucht man nicht blos diese Reste des Dorfkommunismus zu erweitern, um das Hineinwachsen der bäuerlichen Landwirthschaft in den Sozialismus anzubahnen?

Das klingt sehr verlockend. In Rußland, wo der Dorfkommunismus noch vor Kurzem sehr stark war, lebte in der That eine sehr mächtige Richtung der sozialistischen Bewegung in der Ueberzeugung, durch den Kommunismus stehe Rußland der sozialistischen Gesellschaft näher, als Westeuropa. Im Westen waren es bürgerliche Sozialreformer, wie Laveleye, die sich zuerst für den urwüchsigen dörflichen Bodenkommunismus erwärmten und in seiner Wiederbelebung das Mittel sahen, die soziale Frage auf dem Lande, damit aber auch in der Stadt zu lösen, der der ständige Zuzug neuen Proletariats vom Lande abgeschnitten würde. Neuerdings haben auch Sozialdemokraten bei ihrem Suchen nach einem Agrarprogramm für die Stärkung und Ausdehnung dieses primitiven Kommunismus sich ausgesprochen, um dieselbe Zeit, in der die russische Sozialdemokratie, durch die Erfahrung belehrt, völlig mit der Anschauung gebrochen hat, als könne der aus dem Mittelalter überlieferte Dorfkommunismus ein Element des modernen Sozialismus werden.

Kommunismus und Kommunismus ist eben zweierlei. Die Revolution, die die Sozialdemokratie anstrebt, ist in letzter Linie nicht eine juristische, sondern eine ökonomische, nicht eine Umwälzung der Eigenthumsverhältnisse, sondern der Produktionsweise. Nicht die Aufhebung des Privateigenthums, sondern die der kapitalistischen Produktionsweise ist ihr Ziel; die Aufhebung des ersteren strebt sie nur soweit an, als sie Mittel ist zur Aufhebung der letzteren. Die größten Schwierigkeiten, die sich dem Sozialismus entgegenstellen, liegen auch nicht auf juristischem, sondern auf ökonomischem Gebiet.

Von diesem Standpunkt aus ist die bloße Ausdehnung des Gemeindeeigenthums an Grund und Boden als Vorbereitung der sozialistischen Produktionsweise überall dort zwecklos, wo sie nicht der Ausdehnung der Gemeindewirthschaft dienen soll und wo die Vorbedingungen einer Gemeindewirthschaft im Sinne des modernen Sozialismus fehlen.

Das Gemeineigenthum an Grund und Boden in der Markgenossenschaft entsprang den Bedürfnissen einer Betriebsweise, die heute völlig veraltet ist. Die Ueberwindung dieser Betriebsweise war nur möglich durch Ueberwindung der ihr entsprechenden Art von Gemeineigenthum. Wo sich Allmenden oder sonstige Reste desselben erhalten haben, da bilden sie in der Regel auch heute noch Hindernisse des Fortschritts der Landwirthschaft. Nur ausnahmsweise Verhältnisse, wie sie z. B. die Alpen der Schweiz bieten, die blos zu Weidezwecken landwirthschaftlich verwendbar sind, können ihnen jetzt noch eine ökonomische Rechtfertigung geben. Sie neu zu beleben und auszudehnen, wäre sinnlos, wollte man nicht auch gleichzeitig zur alten Betriebsweise, dem Dreifeldersystem mit Weidewirthschaft auf der Gemeinweide und im Gemeindewald zurückkehren.

Jene Agronomen, die heute die Neuschaffung von Allmenden verlangen, sind durchaus nicht Sozialisten. Sie fordern sie im Interesse des Großgrundbesitzes, um dadurch die ländlichen Arbeiter, die man durch die Möglichkeit des Erwerbs kleiner Gütchen (als Rentengüter oder freies Eigenthum) angezogen, dauernd an die Scholle zu fesseln. Denn auf diesen kleinen Gütchen können sie ohne Gemeinweide kein Vieh halten, keinen Dünger gewinnen, also auf die Dauer sich nicht behaupten. Die neugeschaffene Allmend der Feudalzeit soll das Werk der Neuschaffung feudaler Höriger vollenden und sichern. (Vergl. v. d. Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, S. 262 ff. Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland, S. 131, 271 ff.)

Ist aber die Allmend auf der einen Seite ein Mittel geworden, den ökonomischen Fortschritt aufzuhalten und feudale Zustände weiter fortzufristen, so ist das Anrecht auf die Nutzung der Allmend andererseits selbst ein feudales Privilegium geworden. Die bäuerlichen erbgesessenen Markgenossen werden zu einer Aristokratie, die sich als Bürgergemeinde von der Einwohnergemeinde, der Masse der Zugewanderten, abschließt und über diese erhebt.

„Indem diese Nutzungen“, sagt Miaskowski, ein warmer Verehrer der Allmenden, „heute nicht mehr immer unentgeltlich erfolgen und außerdem häufig nur einem Bruchtheil der ortsangesessenen Bevölkerung zu Gute kommen, sind die Allmenden aus freien Gütern für alle am Orte Angesessenen im Laufe der Zeit zu einer Art Gesammtfideikommiß geworden, dessen Nutzung gegenwärtig den Gliedern einer sich immer mehr privatrechtlich abschließenden Körperschaft, und zwar nicht immer unentgeltlich, zusteht.“ (Miaskowski, Die schweizerische Allmend, S. 3)

Wo das ursprüngliche Gemeineigenthum an Boden noch in stattlichem Maße vorhanden ist und von einer stattlichen Bauernschaft genutzt wird, da ist es, wie Miaskowski treffend sagt, ein Fideikommiß geworden, das sich von anderen aristokratischen Fideikommissen nur dadurch unterscheidet, daß es nicht einer einzigen Familie allein, sondern einer Reihe von Familien gemeinsam gehört. Wie jedes feudale Fideikommiß muß die Sozialdemokratie auch dieses bekämpfen.

Wo aber das ursprüngliche Gemeineigenthum an Boden nur noch in dürftigen Resten, Stückchen Gemeinweide, Streunutzung im Walde u. dergl. vorhanden ist und von dürftigen Leuten genutzt wird, da ist es zu einer Stütze von Fideikommissen und überhaupt zu einer Stütze der Ausbeutung der ländlichen Arbeiterschaft dadurch geworden, daß es diese an die Scholle fesseln hilft. Es wirkt hier ebenso, wie manche Wohlthätigkeitseinrichtungen der Fabrikanten, z. B. die Wohnungen, die diese bauen und die sie an ihre Arbeiter vermiethen. Wir wüßten keinen Grund, warum die Sozialdemokratie sich für die Erweiterung und Ausdehnung dieser Art Gemeineigenthum interessiren sollte.

Dagegen wäre es freilich übertrieben, wenn sie dort, wo eine dürftige Bevölkerung noch gemeine Weide- oder Waldrechte sich gewahrt hat, ohne Weiteres deren Aufhebung verlangen wollte. Die Aufhebung dieser Rechte ist ein Theil des großen Prozesses der Expropriation der Volksmassen zu Gunsten einiger wenigen Besitzenden. Dieser Prozeß ist unvermeidlich und er ist die nothwendige Vorbedingung der Entwicklung moderner sozialistischer Produktion. Aber wir haben schon oben bemerkt, daß seine Förderung nicht zu den historischen Aufgaben des Proletariats gehört, und daß die Aufgabe des Proletariats, soweit es in diesen Prozeß eingreift, nur die sein kann, den Bedrängten möglichst beizustehen, die Folgen der naturnothwendigen Entwicklung soweit zu lindern, als es möglich, ohne den Fortschritt zu hemmen, und als die vorhandenen Machtverhältnisse und die ökonomischen Verhältnisse überhaupt gestatten.

Wo Kleinbauern und Taglöhner sich Weide- und Waldrechte erhalten haben, braucht die Sozialdemokratie also nicht auf die Beseitigung dieser Rechte hinzuarbeiten. Wir haben dieselben in ihren Wirkungen mit den Arbeiterwohnungen der Fabrikanten verglichen. Aber so sehr man die Fesselung und Unterjochung der Arbeiter bedauern mag, die durch solche Wohnungen herbeigeführt wird, so wäre es doch verkehrt, nun darauf hinzuarbeiten, daß die Bewohner dieser Wohnungen exmittirt werden.

Die Sozialdemokratie kann es ruhig den herrschenden Klassen überlassen, die in Rede stehenden Rechte von Weide- und Waldnutzungen überall dort aufzuheben, wo sie einer rationellen Land- oder Forstwirthschaft im Wege stehen. Ihre Aufgabe ist es, dahin zu wirken, daß, wo eine derartige Aufhebung stattfindet, die Berechtigten möglichst wenig darunter leiden und nicht, wie dies meist der Fall, um ihre dürftigen Rechte betrogen werden.

Aber dabei darf die Sozialdemokratie in dem Wege nach rückwärts nie den Weg nach vorwärts sehen, sie darf nicht die Wiederbelebung des mittelalterlichen Gemeineigenthums an Grund und Boden, die Erweiterung und Neuschaffung von Allmenden, Gemeindeweiden, Gemeindewaldungen, Ausdehnung von Waldnutzungen zu landwirthschaftlichen Zwecken &c. für die Schaffung eines Uebergangstadiums zum Sozialismus halten.

Wenn jedoch die Grundlage des mittelalterlichen agrarischen Gemeindekommunismus und damit dieser selbst unwiederbringlich dahin ist, so entstehen heute die Bedingungen einer Art von modernem Gemeindesozialismus schon innerhalb der jetzigen Gesellschaft, jedoch nicht auf dem Lande, sondern in den Städten. Es ist die Konzentration der Bevölkerung in den Städten, welche für die Gemeindeverwaltungen neue Aufgaben schafft und auf vielen Gebieten die Verdrängung des Privateigenthums durch Gemeindeeigenthum zur Nothwendigkeit macht.

Auf der einen Seite bewirkt die Anhäufung großer Volksmassen auf kleinem Terrain, daß einzelne ökonomische Funktionen, die in den Dörfern Jeder für sich besorgt, wie Beleuchtung, Wasserversorgung, Fuhrwesen, großen, zentralisirten Anstalten zufallen, die in den Händen des Kapitals zu unerträglichen Monopolen werden – Gasanlagen, elektrische Anlagen, Wasserleitungen, Straßenbahnen u. s. w. – so daß sie allenthalben früher oder später in die Hände der Gemeinden übergehen müssen. Andererseits schafft die Konzentration der Bevölkerung neue Aufgaben für die Gemeindeverwaltung und neue Mittel zur Lösung von Aufgaben, die der Landgemeinde zu lösen unmöglich. Das Zusammendrängen großer Volksmassen auf engem Raume, das Wachsen der Grundrente, das die Grundbesitzer treibt, jeden Quadratmeter Boden möglichst hoch mit Gebäuden zu überdecken und der Bevölkerung Luft und Licht zu rauben, die Massen von Lebensmitteln, die tagaus, tagein der Stadt zuzuführen, die Massen der Abfallstoffe, die tagaus, tagein zu beseitigen sind, alles das schafft eine Fülle der schwierigsten Aufgaben, die die Landgemeinde nicht kennt und deren Lösung eine Reihe großer kommunaler Einrichtungen erfordert, die Schaffung von Kanalisationen, öffentlichen Plätzen und Gartenanlagen, Markthallen u. s. w. Mit der Anhäufung der Bevölkerung in der Stadt werden aber nicht nur Bedürfnisse geschaffen, die das Land nicht kennt, sondern auch die Bedingungen gegeben, Bedürfnissen abzuhelfen, die das Land ebenso hat, wie die Stadt, die es aber nicht wie diese befriedigen kann. Auch dies bedingt die Errichtung von Anstalten, die auf dem Lande unbekannt sind. Mittelschulen, Krankenhäuser, Armenhäuser wären auf dem flachen Lande ebenso nothwendig wie in der Stadt, aber es fehlt an der nöthigen Massenhaftigkeit des „Materials“ und mehr noch an den nöthigen materiellen und intellektuellen Mitteln. Das Land verarmt, indeß in der Stadt Reichthümer sich aufhäufen; das Land verödet auch geistig, indeß in der Stadt das geistige Leben seine besten Blüthen treibt.

Alles das bewirkt, daß in den Städten die Gemeindewirthschaft immer größere Dimensionen annimmt und weit schneller anwächst, als die Gemeinde selbst.

Die Gemeinde ist aber in erster Linie keine Herrschafts-, sondern blos eine Verwaltungsinstitution, wenigstens dort, wo sie nicht mit dem Staate zusammenfällt, was ja im modernen Staatswesen die Regel. Sie ist um so weniger eine Herrschaftsinstitution, je selbständiger sie dem Staate gegenübersteht, je weniger sie der Staatsgewalt dienstbar ist. In den industriellen Städten kommt aber auch das Proletariat zuerst zur Geltung. Dort sammelt es sich in Massen an, dort erlangt es Klassenbewnßtsein, dort organisirt es sich, dort kommt es zuerst zu politischer Reife, dort wird es zuerst stark genug, offen und dauernd seine Interessen im Gegensatz zur Kapitalistenklasse zu vertheidigen. Erhält es das allgemeine Wahlrecht zur Gemeindevertretung, dann kann es, bei genügender Selbständigkeit der Gemeinde, in manchen Städten heute schon dahin gelangen, daß es die Gemeindewirthschaft seinen Interessen, also den Interessen der Gesammtheit gemäß gestaltet, Munizipalsozialismus treibt, allerdings nur innerhalb der sehr engen Form, die der kapitalistische Gesammtcharakter von Staat und Gesellschaft zieht, innerhalb deren aber doch mit Klugheit und Sachkenntniß ganz Bedeutendes geleistet werden kann.

Die Gemeindewirthschaft wird aber um so rationeller und planvoller betrieben werden können, je mehr die Gemeinde Herrin ihres eigenen Gebiets, je mehr davon Gemeindeeigenthum. In der Stadt ist die Grundrente im Wachsen; das Ergebniß dieser Zunahme fließt, wo Grund und Boden Eigenthum der Gemeinde, der letzteren zu, und dient in deren Händen, bei kommunaler Selbständigkeit, allgemeinem Wahlrecht und gewisser Höhe der proletarischen Entwicklung, nicht dazu, die Machtmittel der herrschenden Klassen zu erhöhen, sondern dazu, die Wohlfahrts- und Bildungspolitik der Gemeinde zu fördern. Die Kommunalisirung des Grund und Bodens ermöglicht es aber auch, das Wohnungswesen der Bevölkerung durch die positive That, durch die Erbauung kommunaler Wohnungen gründlich zu reformiren, während bloße Bauverordnungen, Verbote, Bau- und Wohnungsinspektionen nur die ärgsten Mißstände beseitigen, nicht aber den Wohnungswucher der Bodenmonopolisten an der Wurzel treffen können.

Möglichste Erweiterung des städtischen Bodeneigenthums ist daher eine der wichtigsten Aufgaben einer modernen, selbständigen, demokratischen Stadtgemeinde. Eine moderne Stadtverwaltung hat allenthalben die Aufgabe, nicht nur jede Veräußerung städtischen Eigenthums hintanzuhalten, sondern auch dort, wo der Stadt die Gelegenheit geboten, Grund und Boden ihres Gebiets unter günstigen Bedingungen zu erwerben, den Erwerb zu vollziehen. Im Staate aber haben die proletarischen Parteien in dieser Beziehung darauf hinzuwirken, daß die Befugnisse der städtischen Verwaltungen gegenüber den Bodenwucherern möglichst erweitert werden, daß sie ein möglichst weitgehendes Expropriationsrecht erhalten.

Anders steht die Sache auf dem Lande. Das Proletariat hat dort in der Gemeinde nichts dreinzureden, auch unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts nicht. Dazu ist es zu isolirt, rückständig und ökonomisch zu abhängig von den wenigen Arbeitgebern, die es genau kontrolliren können. An eine andere Kommunalpolitik als eine im Interesse des Grundbesitzes ist da nicht zu denken. Aber nicht nur die politischen, auch die ökonomischen Grundlagen eines „Munizipalsozialismus“ fehlen. Es ist ausgeschlossen, daß die ökonomischen Funktionen der modernen Stadtgemeinde ins Dorf übertragen werden. Die alte feudale Landwirthschaft ist dahin, die der Gemeindewirthschaft so viele Objekte gab. An eine moderne Landwirthschaft durch die Gemeinde, an einen genossenschaftlichen landwirthschaftlichen Großbetrieb, betrieben von der Dorfgemeinde, ist aber heute noch nicht zu denken. Selbst in der Stadt sind Produktivgenossenschaften Gründungen, die nur selten Erfolg haben; für Produktivgenossenschaften in großem Stile in den Händen von Bauern fehlen so ziemlich alle Elemente des Erfolgs die nöthigen geistigen Kräfte, die nöthige Disziplin, die nöthigen Geldmittel. Wir glauben nicht, daß auch nur eine Dorfgemeinde bereit und in der Lage wäre, sofort zur Bewirthschaftung eines modernen Großbetriebs überzugehen. Wenn aber dies nicht der Fall, die frühere Grundlage des Bodenkommunismus dahin, Munizipalsozialismus nach der Art der großen Städte auf dem Lande nicht möglich, welchen Sinn hat dann die Forderung, die Landgemeinden sollten Grundeigenthum erwerben, resp. ihren Grundbesitz erweitern? Sie sollen doch den Boden nicht erwerben, blos um ihn zu besitzen, sondern um ihm zweckmäßig zu verwenden. Wo die Möglichkeit einer solchen Verwendung fehlt, ist die Erwerbung mehr als überflüssig. Sie könnten ihren Boden in der Regel höchstens verpachten, dürften aber dabei auf die Dauer nicht auf die Kosten kommen, angesichts des Sinkens der Grundrente.

Die Schaffung und Vergrößerung von Gemeindeeigenthum an Grund und Boden wird vielleicht auf dem Lande ebenso wie in den Städten eine der Methoden der Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel bilden. Unter den heutigen Verhältnissen darf sie aber als allgemeine Forderung nur für die Städte erhoben werden. Und nur mit allgemeinen Forderungen haben wir es hier zu thun. Was unter besonderen lokalen Verhältnissen hie und da nothwendig werden mag, beschäftigt uns nicht, da wir mir von sozialdemokratischer Agrarpolitik im Allgemeinen sprechen.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019