Karl Kautsky


Die Agrarfrage




Zweiter Abschnitt
Sozialdemokratische Agrarpolitik


V. Die soziale Revolution und
die Expropriirung der Grundbesitzer


a) Sozialismus und Kleinbetrieb

Wir haben bereits am Ende des ersten Abschnitts darauf hingewiesen, daß der Uebergang von kapitalistischer zu sozialistischer Landwirthschaft möglich ist ohne Expropriirung der bäuerlichen Grundbesitzer. Das dort Gesagte würde genügen, alle Befürchtungen der Bauernschaft in dieser Richtung zu zerstreuen.

Aber es stehen uns in der Beziehung noch mehr Argumente zu Gebote.

Von einem Siege des Proletariats haben nicht nur nicht die Kleinbauern, sondern die Besitzer von Kleinbetrieben überhaupt, auch die handwerksmäßiger, nichts zu befürchten. Im Gegentheil.

Wir haben schon gesehen, daß die Verwandlung des Staates aus einer Herrschafts- in eine Kulturinstitution und die Ueberwälzung der öffentlichen Lasten auf den Mehrwerth, resp. das Mehrprodukt, gerade ihnen in erster Linie zu Gute kommen.

Ihr Verhalten gegenüber den Anfängen der sozialistischen Gesellschaft wird aber ein verschiedenes sein, je nachdem ihre Betriebe parasitische sind oder nicht. Parasitisch sind jene Kleinbetriebe zu nennen, die technisch längst überholt, ökonomisch völlig überflüssig sind, an die sich ihre Besitzer nur klammern, weil die rein proletarische Existenz ihnen noch unsicherer und jämmerlicher dünkt, als ihre eigene, mitunter aber auch, weil im Lohnproletariat keine Existenzmöglichkeit für sie zu finden ist. Wie viele der Kleinbetriebe, namentlich im Zwischenhandel, werden von Lohnarbeitern begründet, die gemaßregelt oder aus einem anderen Grunde arbeitslos geworden sind und die mit Hilfe des Kredits einen selbständigen Zwergbetrieb einrichten, um nicht völlig im Lumpenproletariat zu versinken!

Der Statistiker zählt zu den Arbeitslosen nur die jeder Beschäftigung Baren. Das sind nach der letzten Zählung nur einige Hunderttausend. Käme es aber dazu, daß der Staat allen Arbeitslosen einen anständigen Verdienst gewährte, dann würde man sich wundern, wie sehr die Zahl derjenigen anschwölle, die an Arbeitslose vom Staat Arbeit und Verdienst heischten. Dagegen würde dann die Zahl der Zwergbetriebe erheblich zusammenschmelzen.

Je besser die Stellung des Arbeiters im Großbetrieb, je kürzer seine Arbeitszeit, je höher sein Lohn, je gesicherter sein Einkommen, desto eher werden die Besitzer parasitischer Kleinbetriebe darauf verzichten, durch reaktionäre Experimente auf Kosten der Gesammtheit noch länger eine jammervolle Existenz zu fristen. Desto eher werden sie sich entschließen, ihre veralteten und überflüssigen Betriebe aufzugeben und Arbeiter in modernen Betrieben zu werden. Die Zahl der der Nation zur Verfügung stehenden Produktivkräfte muß dadurch ein bedeutende Steigerung erfahren, indeß gleichzeitig eine reichliche Quelle von Elend und Noth verstopft wird.

Neben den parasitischen giebt es aber auch noch nothwendige Kleinbetriebe, auf Gebieten, die noch nicht von der Maschine erobert sind, die nicht der Massenproduktion dienen. Darüber, welche Betriebe in diese Kategorie gehören, wird man streiten können, auch wechseln die technischen Bedingungen von Tag zu Tag. Im Kunsthandwerk, das man bisher für den festen Hort des Kleinbetriebs hielt, ist die Maschine ebenso eingedrungen, wie in der Bäckerei oder Schusterei. Immerhin ist anzunehmen, daß ein Theil des Handwerks sich in die Anfänge der sozialistischen Gesellschaft hinüberretten wird, ja, die Zunahme des Wohlstandes der Massen kann manche Zweige des Handwerks neu beleben, indem sie die Nachfrage nach billigen Massenartikeln verringert und die nach theureren, aber der Individualität besser angepaßten Handwerksprodukten steigert. Gleichzeitig verringern sich in Folge der proletarischen Steuerpolitik (soweit von Steuern noch die Rede) die Lasten, die auf dem Handwerker ruhen. Es verbessert sich seine allgemeine Bildung und es vermehren sich die Gelegenheiten erhöhter technischer und künstlerischer Bildung für ihn. In diesem Sinne kann man sogar sagen, daß die sozialistische Gesellschaft nicht nur nicht auf dem völligen Untergang des Handwerks basirt, sondern eine neue Blüthe mancher feiner Zweige herbeiführen kann. Aber dies aufblühende Handwerk wird einen ganz anderen sozialen Charakter tragen, als das jetzige. Es wird nur eine Ausnahme vom allgemeinen Typus der Produktion bilden.

Die große Masse, und gerade die ökonomisch entscheidende, der Produktionsmittel wird gesellschaftliches Eigenthum, die Produktion gesellschaftlich sein. Der kleine Handwerker, selbst wenn er in seiner Werkstatt selbständig bleibt, wird nun völlig abhängig von der Gesellschaft, die allein ihm Rohstoffe und Werkzeuge liefert, die in der Regel auch der alleinige Abnehmer seiner Produkte sein wird. Er muß sich dem Organismus der gesellschaftlichen Produktion anpassen und einfügen und trotz seiner Isolirung in der Werkstatt ein gesellschaftlicher Arbeiter werden.

In gleicher Weise wird die bäuerliche Entwicklung vor sich gehen. Die zahllosen Besitzer parasitischer Zwergbetriebe werden mit Freuden auf den Schein ihrer Selbständigkeit und ihres Eigenthums verzichten, wenn ihnen der sozialistische Großbetrieb greifbare Vortheile in Aussicht stellt.

Die nicht parasitischen bäuerlichen Kleinbetriebe aber, jene, die im ökonomischen Leben noch wichtige Funktionen erfüllen, werden ebenso Glieder der gesellschaftlichen Produktion werden, wie die Handwerksbetriebe, auch wenn sie in ihrer anscheinenden Isolirung verbleiben. Die Gesellschaft erhält noch größere Macht über sie als über die Handwerksbetriebe durch Verstaatlichung der Hypotheken und Verstaatlichung der landwirthschaftlichen Industrien, von denen die Landwirthe abhängen.

Die Bauern brauchen jedoch nicht zu befürchten, durch diese Abhängigkeit geschädigt zu werden. Vom Staate abzuhängen ist bei einem demokratischen Regime jedenfalls angenehmer, als etwa von ein paar Zuckerprotzen ausgebeutet zu werden. Aber der Staat wird den Bauern nicht nur nichts nehmen, er wird ihnen viel geben. Bauern und Landarbeiter müssen bei dein Uebergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft besonders geschätzte Arbeitskräfte werden.

Die enorme Ausdehnung der Industrie für den Weltmarkt und die gleichzeitige Ueberschwemmung des Marktes mit auswärtigem Getreide – zwei Erscheinungen, die in innigster Wechselwirkung mit einander stehen – treiben die Landbevölkerung in die Städte und zwar vorzugsweise ihre arbeitsfähigsten Elemente. Sobald der innere Markt wieder in den Vordergrund der nationalen Oekonomie tritt, muß sich dies vor Allem in der zunehmenden Wichtigkeit der Landwirthschaft zeigen. Die höhere Konsumfähigkeit der Massen verlangt nach mehr Nahrungsmitteln; die Verminderung des Exports verringert die Zufuhr von Außen. Ein allseitiger rationeller Betrieb der Landwirthschaft, der die höchst möglichen Erträge einbringt, wird dann unumgänglich. Die besten Produktionsmittel, die besten Arbeitskräfte muß man der Landwirthschaft zuführen. Letzteres ist jedoch nicht so einfach. Jeder Landarbeiter taugt zu einer oder der anderen industriellen Arbeit, dagegen sind heute nur wenige Arbeiter der Industrie in der Landwirthschaft verwendbar. Wohl ist zu erwarten, daß eine zweckmäßige Erziehung die Jugend befähigen wird, landwirthschaftliche Arbeit neben industrieller und rein intellektueller zu verrichten, aber diese Aussicht hilft über die Noth der ersten Anfänge nicht hinweg.

Der Landarbeiter und der Kleinbauer, die beide heute in der Gesellschaft wohl am stiefmütterlichsten bedacht sind, müssen in einer solchen Situation sehr begehrt werden, also zu einer höchst günstigen sozialen Stellung gelangen. Wie kann man da annehmen, ein sozialistisches Regime werde die Bauern von ihren Feldern vertreiben! Es wäre ein Wahnsinn, der weit selbst über das Maß dessen hinausginge, womit die skrupellosesten und albernsten unserer Gegner uns behaftet erklären.

Ein sozialistisches Regime wird, schon im Interesse der Volksernährung, die Lage der Landwirthe so vortheilhaft als möglich zu gestalten suchen müssen. Die Verdrängung der Waarenproduktion durch bloße Produktion von Gebrauchswertheil bietet ferner die Möglichkeit, die Hypothekenzinsen und sonstigen Abgaben des Bauern, soweit noch solche zu entrichten sind, aus Geldzahlungen in Naturallieferungen zu verwandeln, was für den Bauern eine ungeheure Erleichterung. Ein proletarisches Regime hat aber auch alles Interesse, die Arbeit des Bauern möglichst produktiv zu gestalten, ihn also mit den besten technischen Behelfen zu versehen. Die Sozialdemokratie wird dem Landmann, anstatt ihn zu expropriiren, die vollkommensten Produktionsmittel zur Verfügung stellen, die ihm in der kapitalistischen Aera völlig unzugänglich sind.

Freilich kann er die vollkommensten Produktionsmittel nur im Großbetrieb anwenden und auf dessen rasche Ausdehnung wird auch ein sozialistisches Regime hinarbeiten müssen. Um aber die Bauern zu veranlassen, ihre Aecker zusammenzulegen, damit sie zu genossenschaftlichem oder kommunalem Großbetrieb übergehen, dazu wird die Methode der Expropriation nicht erforderlich sein. Erweist sich der genossenschaftliche Großbetrieb als vortheilhaft für die Genossenschaftsarbeiter, dann wird das Beispiel der verstaatlichten Großbetriebe hinreichen, die Bauern zur Nachahmung zu veranlassen. Die großen Hindernisse, die heute der Entwicklung genossenschaftlicher Landwirthschaft entgegenstehen, der Mangel an Vorbildern, das Risiko, der Mangel an Kapital, fallen dann weg, und das heute so mächtig wirkende Hinderniß des unbeschränkten Privateigenthums am Boden ist durch die Verstaatlichung der Hypotheken, die wachsende Abhängigkeit der Bauern von den verstaatlichten landwirthschaftlichen Industrien, durch das zunehmende Aufsichts- und Eingriffsrecht des Staates in Sachen der Landeskultur, der menschlichen und thierischen Hygiene, auf ein Minimum reduzirt worden.

Angesichts alles dessen, angesichts des Interesses, das ein sozialistisches Regime an dem ungestörten Fortgang der landwirthschaftlichen Produktion haben muß, Angesichts der großen sozialen Wichtigkeit, welche die bäuerliche Bevölkerung dann erlangen wird, ist es geradezu undenkbar, daß man die Methode gewaltsamer Enteignung wählen wird, um der Bauernschaft die Vortheile vollkommenerer Betriebsweisen beizubringen.

Sollte es aber dann noch Zweige der Landwirthschaft oder Gegenden geben, in denen der Kleinbetrieb vortheilhafter als der Großbetrieb, so liegt nicht der mindeste Grund vor, sie einer Schablone zu Liebe dem Großbetrieb zuzuführen. Es werden weder Betriebszweige noch Gegenden sein, die für die nationale Produktion von großer Bedeutung, denn in den entscheidenden Zweigen der Landwirthschaft ist heute schon der Großbetrieb der überlegene. Die Verlegung des ökonomischen Schwergewichts aus dem Weltmarkt in den inneren Markt muß dann aber gerade diese Zweige, vor Allem die Körnerproduktion, wieder mehr in den Vordergrund bringen.

Vereinzelte Kleinbetriebe sind in der Landwirthschaft mit der sozialistischen Gesellschaft ebenso vereinbar, wie im Handwerk; von jenen gilt dasselbe, was von diesen. Ob der Grund und Boden, den sie bebauen, privater oder staatlicher ist, dürfte ziemlich gleichgiltig sein. Auf die Sache kommt es an, nicht auf den Namen, auf die ökonomischen Wirkungen, nicht auf die juristischen Kategorien.

Diese unsere Darstellung ist allerdings nur eine Hypothese, keine Prophezeiung. Sie sagt nicht, wie es kommen wird, sondern wie es kommen könnte. Aber wie es wirklich kommen wird, wissen unsere Gegner ebensowenig wie wir, sie können ebenso wie wir sich nur auf jene Faktoren stützen, die heute schon ausreichend bekannt sind; wenn wir aber die Linie, in der diese wirken, in die Zukunft verlängern, kommen wir eben zu dem Entwicklungsgange, den wir hier gezeichnet.

Die Absichten und Wünsche, die die Sozialdemokratie in offiziellen Kundgebungen und in den Schriften ihrer hervorragendsten Vertreter geäußert hat, stehen durchaus nicht im Widerspruch zu den Konsequenzen, zu denen wir gelangt sind. Wir finden da nirgends die Forderung einer Expropriation der Bauernschaft.

Unmittelbar vor der Märzrevolution von 1848 formulirte die Zentralbehörde des Kommunistenbundes, in der Marx und Engels saßen, die Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland. Die drei Punkte, die sich auf die Landwirthschaft beziehen, lauten:

„7. Die fürstlichen und anderen feudalen Landgüter, alle Bergwerke, Gruben u. s. w. werden in Staatseigenthum umgewandelt. Auf diesen Landgütern wird der Ackerban im Großen und mit den modernsten Hilfsmitteln der Wissenschaft zum Vortheil der Gesammtheit betrieben.

„8. Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigenthum erklärt: die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt.

„9. In den Gegenden, wo das Pachtwesen entwickelt ist, wird die Grundrente oder der Pachtschilling als Steuer au den Staat bezahlt.“

Von einer Antastung der Eigenthumsrechte der Bauern kein Wort. Nur die Hypotheken auf den Bauerngütern, nicht diese selbst werden verstaatlicht.

Als die Wunden, welche die Niederlagen des Jahres 1848 geschlagen, vernarbt waren, und die Arbeiterbewegung von Neuem sich zu regen begann, kam auch die Landfrage auf die Tagesordnung. Auf verschiedenen Kongressen der „Internationale“ wurde sie behandelt. Am bekanntesten und wichtigsten wurden die Verhandlungen des Baseler Kongresses (1869) darüber, der beschloß:

„1. Der Kongreß erklärt, daß die Gesellschaft das Recht hat, das Privateigenthum an Grund und Boden aufzuheben und denselben in Gemeineigenthum zu verwandeln.

„2. Der Kongreß erklärt, daß es im Interesse der Gesellschaft nothwendig ist, diese Umwandlung zu vollziehen.“

Ueber das „Wie“ dieser Umwandlung äußerte sich der Kongreß nicht. Er erklärte: „Indem der Kongreß das Prinzip des Gemeineigenthums an Grund und Boden anerkennt, empfiehlt er allen Sektionen das Studium der praktischen Mittel zu dessen Durchführung.“

Ueber diese Beschlüsse hielt Liebknecht im März 1870 in Sachsen Vorträge, von denen der umfassendste dann zu einer Broschüre umgearbeitet wurde, die unter dem Titel Zur Grund und Bodenfrage 1873 und in zweiter Auflage 1876 erschien. Da heißt es unter Auderem:

„Nicht so einfach (wie in England) ist die Frage in Frankreich oder gar erst in Deutschland. Die Landarbeiter sind natürlich entweder schon für eine vernünftige Umgestaltung der Grund- und Bodenverhältnisse gewonnen oder sehr leicht dafür zu gewinnen. Allein die Kleinbauern, obgleich thatsächlich Proletarier oder dem Proletariat unaufhaltsam zutreibend, hängen zum großen Theil noch sehr fest an ihrem ‚Eigenthum‘, wenn es auch in den meisten Fällen nur nominelles, eingebildetes Eigenthum ist. Ein Expropriationsdekret würde unzweifelhaft die Mehrzahl der Kleinbauern zum heftigste Widerstand, vielleicht zu offener Rebellion reizen.“

Der Staat müsse also alles vermeiden, was das Interesse der Bauern wirklich oder auch nur scheinbar schädigen könne. Hand in Hand mit der Aufklärung über die Vortheile des Sozialismus müßten praktische Maßregeln zu unmittelbarer Erleichterung der schwerbelasteten bäuerlichen Bevölkerung gehen. In erster Linie wären die Hypothekenschulden zu verstaatlichen, der Zinsfuß herabzusetzen und dies sowie weitere Darlehen an die Verpflichtung der Bauern zu rationellem Ackerbau zu knüpfen. Unter Staatsunterstützung wären dann allmälig die Einzelbetriebe zum genossenschaftlichen Großbetrieb überzuleiten. (S. 172–175)

Die Expropriirung des Landvolks durch eine revolutionäre Regierung wird von Liebknecht als offenbare Tollheit bezeichnet.

Das rasche Anwachsen der Industrie und der proletarischen Bewegung in den Industriezentren drängte die Landfrage nach den Ereignissen von 1870 in den Hintergrund. Der agrarische Nothstand brachte sie wieder auf die Tagesordnung nicht nur der bürgerlichen Parteien, sondern auch der proletarischen. In den Diskussionen, die daraus erwuchsen, nahm auch Engels das Wort. Was er 1848 erklärt, erklärte er auch 1894. Er fragte: „Was ist denn unsere Stellung zur Kleinbauernschaft? Und wie werden wir mit ihr verfahren müssen am Tag, wo die Staatsmacht zufällt?“ und er antwortete:

„Erstens ist der Satz des französischen Programms unbedingt richtig: daß wir den unvermeidlichen Untergang des Kleinbauern voraussehen, aber keineswegs berufen sind, ihn durch Eingriffe unsererseits zu beschleunigen.

„Und zweiten ist es ebenso handgreiflich, daß, wenn wir im Besitz der Staatsmacht sind, wir nicht daran denken können, die Kleinbauern gewaltsam zu expropriiren (einerlei ob mit oder ohne Entschädigung), wie wir dies mit den Großgrundbesitzern zu thun genöthigt sind. Unsere Aufgabe gegenüber dem Kleinbauer besteht zunächst darin, seinen Privatbetrieb und Privatbesitz in einen genossenschaftlichen überzuleiten, nicht mit Gewalt, sondern durch Beispiel und Darbietung von genossenschaftlicher Hilfe zu diesem Zwecke. Und da haben wir allerdings Mittel genug, um dem Kleinbauer Vortheile in Aussicht zu stellen, die ihm schon jetzt einleuchten müssen.“

Selbst von den Großbauern meint Engels:

„Von einer gewaltsamen Expropriation werden mir auch hier wahrscheinlich absehen und im Uebrigen darauf rechnen können, daß die ökonomische Entwicklung auch diese härteren Schädel der Vernunft zugänglich machen wird.“ (Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, Neue Zeit, XIII, 1, S. 301, 305)

Die hier zitirten Aeußerungen stehen vollkommen im Einklang mit den von mir angeführten Erwägungen. Wenn diese darauf hinweisen, daß die Expropriirung der Bauernschaft keineswegs im Interesse des Sozialismus liegt, so beweisen jene unzweideutig, daß eine derartige Expropriirung auch nicht in der Absicht der Sozialisten liegt.

Die Bauern haben von der Sozialdemokratie nichts zu fürchten, sie haben alles von ihr zu hoffen. Allerdings, in der heutigen Gesellschaft kann sie keineswegs alle ihre Wünsche erfüllen, aber nicht deswegen, weil es ihr am guten Willen mangelt, sondern weil viele dieser Wünsche fromme Wünsche bleiben müssen, die auch eine andere Partei nicht im Stande ist, zu erfüllen. In Versprechungen kann die Sozialdemokratie mit den agrarischen Parteien nicht konkurriren, was aber für die Landbevölkerung in der heutigen Gesellschaft zu thun ist, das thut sie, das kann nur sie allein in vollem Maße thun, weil sie dem Kapital rücksichtsloser entgegentreten kann als irgend eine der bürgerlichen Parteien.

Weit mehr noch aber als von der Sozialreform im Rahmen der heutigen Gesellschaft haben die Bauern vom Uebergaug zur sozialistischen zu erwarten. Die Expropriirung, das ist die kapitalistische Methode, den Uebergang von niedrigen zu höheren Betriebsformen zu vollziehen. In der heutigen Gesellschaft bleibt der Bauer stets vor dem Dilemma, entweder sich jedem Fortschritt mit Händen und Füßen entgegenzustemmen, das heißt aber, nach allen Richtungen hin zu verkommen, oder durch das expropriirende Kapital hinweggefegt zu werden. Erst der Sozialismus bietet ihm die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Fortschritt theilzunehmen ohne der Expropriirung zu verfallen. Der Sozialismus bringt ihm nicht nur nicht die Expropriation, er bringt ihm den sichersten Schutz vor dieser, die in der heutigen Gesellschaft stets über seinem Haupte schwebt.
 

b) Die Zukunft des eigenen Heims

Wenn wir auch erwarten, daß für die große Mehrzahl der Betriebszweige in der Landwirthschaft der Großbetrieb sich als überlegen herausstellen wird, so daß die ökonomische Entwicklung, nachdem das siegreiche Proletariat ihre Hindernisse beseitigt, zur Verdrängung des Kleinbetriebs durch den genossenschaftlichen oder kommunalen Großbetrieb, also zur Zusammenlegung der Aecker führt, so bedingt dies keineswegs die Aufgebung des eigenen Heims. Die heute noch der Landwirthschaft eigenthümliche Verbindung des Heims mit dem wirthschaftlichen Betrieb wird in diesem Falle aufhören, das Haus wird vom Wirthschaftshof getrennt, nichts drängt aber dazu, das Wohnhaus des Bauern in Gemeineigenthum überzuführen. Der moderne Sozialismus beruht auf dem Gemeineigenthum an den Produktionsmitteln, nicht auf dem an den Genußmitteln. Für diese schließt er das Privateigenthum nicht aus. Unter den Mitteln, das menschliche Leben zu genießen und seiner froh zu werden, ist aber eines der wichtigsten, vielleicht das wichtigste das eigene Heim. Das Gemeineigenthum an Grund und Boden ist damit keineswegs unvereinbar.

Wir würden uns auf zu unsicheren Boden begeben, wollten wir hier das Wohnwesen der Zukunft diskutiren. Mögen die Zukunftsmenschen das Wohnen in palastartigen Phalansteren à la Fourier oder in getrennten Cottages à la Bellaniy vorziehen, mag hier die eine, dort die andere Form, mögen beide sich nebeneinander und miteinander entwickeln, sicher ist, daß, wenn sie Werth darauf legen, es solle jede Familie ihr eigenes Haus besitzen, die Grundsätze, auf denen die sozialistische Gesellschaft basirt, dies nicht hindern werden.

Es ist allerdings richtig, daß die technische Entwicklung heute schon dahin führt, die Arbeiten des Einzelhausaltes zu reduziren und die Berufsarbeit der Frau auszudehnen. Geschieht ersteres immerhin noch sehr langsam, so ist dies eine Folge der Billigkeit der weiblichen Arbeitskraft. Die Arbeit der Frau im Haushalt wird nicht mit Geld bezahlt, kostet also anscheinend nichts und die Frau ist das willigste und ausdauerndste Lastthier, daher darf der Proletarier an dem technisch so rückständigen Einzelhaushalt festhalten. Für die wohlhabenden Klassen bedeutet aber die Führung eines eigenen Haushalts die Bequemlichkeit, eigene Sklavinnen, die Dienstmädchen, zur ausschließlichen Bedienung des werthen Ich stets bereit zu haben.

Je mehr das Proletariat an Kraft zunimmt, desto rarer werden die Dienstmädchen, desto höher ihre Ansprüche, desto ungemüthlicher die Führung des Haushalts der Wohlhabenden. Jene tugendhaften Hausfrauen, die heute am eifrigsten die Heiligkeit des eigenen Herdes vertheidigen – solange sie ein Dienstmädchen daran beschäftigt wissen – sie werden am energischsten nach Maßregeln verlangen, die die Arbeiten des privaten Haushalts reduziren oder besonderen Gewerben zuweisen, wenn sie einmal gezwungen sind, diese Arbeiten selbst zu verrichten, selbst zu kochen, zu waschen, Kinder zu erziehen und – der schrecklichste der Schrecken – Stiefel zu putzen.

Eine andere Strömung in derselben Richtung muß der Sieg, ja schon das bloße Erstarken des Proletariats unter den arbeitenden Frauen selbst hervorrufen. Es ist Elend und Noth, das diese heute zwingt, auch die unproduktivsten Arbeiten lieber zu Hause in unzureichender Weise zu verrichten, statt sie außer dem Hause von wohleingerichteten Anstalten besorgen zu lassen. Der steigende Wohlstand der Arbeiterfamilie wird sich nicht in der Belastung einer weiteren Haussklavin, sondern nur in der Entlastung der Hausfrau äußern. Die Reduzirung der Arbeiten des Haushalts, die heute viel langsamer vor sich geht, als der technische Fortschritt gestattet, wird dann ein rasches Tempo annehmen. Die wirthschaftliche Grundlage der Familie wird damit verschwinden. Nicht aber diese selbst. Denn inzwischen ist eine andere, höhere Grundlage für sie erstanden, die Individualität.

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen, ein „Herdenthier“, und es dauert lange, ehe er anfängt, seine Persönlichkeit als etwas von der Gesellschaft Gesondertes zu empfinden und zu betrachten. So lange der Mensch im Daseinskampfe nur durch den engsten Anschluß an die Gesellschaft bestehen konnte und so lange die gesellschaftliche Entwicklung so langsam vor sich ging, daß die Tradition, das heißt die Summe der überlieferten Anschauungen der Gesammtheit, das geistige Leben des Einzelnen völlig beherrschte, war kein Platz für die Entwicklung des Individuums gegeben. Erst als das Anwachsen der Produktivität der Arbeit und die Klassentheilung Klassen schufen, dessen Angehörige nicht im gemeinsamen Kampf ums Dasein – physische Arbeit und Krieg – völlig aufgingen, die Muße hatten, ein besonderes geistiges Leben zu entfalten, und die durch ihre Reichthümer und ihre Sklaven in Stand gesetzt wurden, unabhängig von der Gesellschaft, ja im Gegensatz zu ihr zu leben, da wurde wenigstens für die Aristokratie die Grundlage zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gegeben, namentlich dann, wenn große Katastrophen die Gesellschaft plötzlich auf eine neue Basis stellten, und so die Wirkung der Tradition unterbrachen. Das war z. B. der Fall in Griechenland in Folge der Perserkriege, in Italien nach den Kreuzzügen, im westlichen Europa im Zeitalter der Entdeckungen und der Reformation. Die Persönlichkeit wurde geboren, neben die unpersönliche Volkskunst trat die persönliche Kunst, neben die unpersönliche Religion die persönliche Philosophie.

Aber erst der kapitalistischen Produktionsweise gelang es, weiteren Kreisen der Bevölkerung die Herdennatur abzustreifen, das Individuum, den „Uebermenschen“ aus einer aristokratischen Erscheinung in eine mehr demokratische zu verwandeln. Dies gelang ihr durch die Auflösung aller überkommenen Organisationen, die vorher die Volksmassen im Kampfe ums Dasein zusammengehalten hatten, durch Erklärung der ökonomischen Revolution in Permanenz, wodurch die Tradition als Führer im Leben völlig hinfällig und Jeder gezwungen wird, auf eigene Beobachtungen eine eigene Lebensanschauung aufzubauen, und endlich dadurch, daß die moderne Produktionsweise nicht zum Wenigsten dank den Massen der Mehrprodukte, die sie erzeugt, der Zahl der „Kopfarbeiter“ in der Gesellschaft eine Ausdehnung giebt, wie sie noch nie dagewesen, zugleich aber ihnen eine viel unsicherere und weniger befriedigende Stellung verleiht, als sie je gehabt.

Der Individualismus, das Streben nach dem freien Ausleben der Persönlichkeit, muß aber in der sozialistischen Gesellschaft noch weit stärker und allgemeiner werden als in der kapitalistischen, in dem Maße, in dein geistige Bildung, Wohlfahrt und Muße sich verallgemeinern.

Die Möglichkeit der freien Bethätigung des Individuums in einer sehr wichtigen Sphäre, in der des wirthschaftlichen Lebens, wird freilich durch den Sozialismus vielfach eingeschränkt werden, auf der anderen Seite aber wird die heute sehr geringe Möglichkeit, die Persönlichkeit außer der Wirthschaft zu bethätigen, durch die Verminderung der Arbeitszeit sehr erweitert.

Dadurch muß vor Allem die Familie, muß das Heim eine neue Bedeutung gewinnen. Nirgends kann sich die Persönlichkeit so voll ausleben, ohne jede Hinderung durch feindliche oder mindestens beengende Willen Anderer, wie in einem eigenen Heim, das sie, nur durch materielle, nicht durch persönliche Rücksichten beengt, frei schmücken und ausgestalten, in dem sie frei leben kann ihren Lieben, ihren Freunden, ihren Büchern, ihren Gedanken und Träumen, ihren wissenschaftlichen und künstlerischen Schöpfungen.

Mit dem Individualismus erwächst aber auch die individuelle Geschlechtsliebe, die ihre Befriedigung nur in der Vereinigung und dem Zusammenleben mit einem einzigen, bestimmten Individuum des anderen Geschlechts findet. Die auf dieser individuellen Geschlechtsliebe beruhende Ehe bedarf ebenfalls eines eigenen Heims zu ihrem Bestande.

Je mehr das wirthschaftliche Element ans der Ehe schwindet und das individualistische in den Vordergrund tritt, umsomehr ändert sich auch das Verhältniß der Eltern, namentlich des Vaters, zu den Kindern. Die Ehe als wirthschaftliche Einrichtung hat auf der einen Seite die Aufgabe, dem Haushalt die nöthigen ökonomischen Grundlagen zu schaffen in der Mitgift oder der Arbeitskraft der Hausfrau und dem Erwerb des Mannes, anderseits die Aufgabe, Erben des väterlichen Vermögens, mitunter auch des väterlichen Berufs zu liefern. In der individualistischen Ehe ist nicht nur das ökonomische Motiv der Eheschließung durch das der persönlichen Anziehungskraft der Ehegatten verdrängt, auch das Verhältniß zwischen Eltern und Kindern wird ein individualistisches. Nicht als Erben, sondern als Individuen werden diese den Eltern theuer, nicht zu Fortsetzern ihrer Kaste, ohne Rücksicht auf ihre Befähigungen und Neigungen, werden sie gedrillt, sondern zu freien Persönlichkeiten entwickelt.

Die Keime dieser individualistischen Ehe und Familie sind heute schon sehr stark; aber sie werden immer noch verkümmert dadurch, daß daneben der Einzelhaushalt als Grundlage der Familie noch fortbesteht, daß Noth und Elend hier, daß Reichthum dort nur zu oft den ökonomischen Rücksichten über die persönlichen die Oberhand verleihen. Eine sozialistische Gesellschaft, welche diese Extreme nicht kennt und den Einzelhaushalt immer mehr zurücktreten läßt, muß gerade dadurch den persönlichen Charakter der Ehe und Familie voll hervortreten lassen. Dieser persönliche Charakter aber ist es, der heute schon im allgemeinen Bewußtsein den moralischen Maßstab für die Beurtheilung von Familie und Ehe abgiebt. Als eine sittliche Ehe gilt heute schon nur eine solche, bei deren Eingehung allein die Persönlichkeiten und nicht die wirthschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten maßgebend waren; sittliche Familienbande sind die persönlichen, nicht die materiellen Bande, die die Familienmitglieder aneinander fesseln. Der Sohn, der in seinem Vater nur den künftigen Erblasser sieht, der Vater, der seinen Sohn zu einem Berufe oder einer Ehe zwingt, damit er das Familiengut vergrößere oder erhalte, sie handeln nach modernen Anschauungen sicher nicht sittlich, Das Verschwinden des privaten Haushalts bedeutet also nicht die Aufhebung der Ehe und Familie. Mit dem eigenen Herde braucht keineswegs das eigene Heim zu verschwinden. Die moderne Kultur keimt noch andere Familienbande als Kochherd und Waschküche. Das Verschwinden des Einzelhaushalts bedeutet blos die Verwandlung der Familie aus einer ökonomischen in eine rein ethische Einheit, es bedeutet die Verwirklichung einer sittlichen Forderung, welche die den modernen Produktivkräften entsprießende Entwicklung des Individualismus heute schon zur Reife gebracht hat.

Somit wird der Sozialismus aber auch das Verlangen einer jeden vollentwickelten Persönlichkeit nach einem eigenen Heim nicht ersticken, sondern allgemein machen, während er gleichzeitig auch erst die Mittel schafft, um es allgemein zu befriedigen.

Dem Bauern braucht also um sein Haus nicht bange zu sein. Das sozialistische Regime wird nicht ohne Spuren daran vorbeigehen, aber die Aenderungen, die es mit sich bringt, hygienische und ästhetische, werden nicht zum Nachtheile des bäuerlichen Heims ausfallen.

Vielleicht nirgends äußert sich der Niedergang der Bauernschaft so deutlich wie in ihren Häusern. Wir haben auf die Wohnhöhlen der Landarbeiter verwiesen, aber die Wohnungen der Bauern sind oft um nichts besser, dürftige, schmutzige Ställe. und doch hat auch der Bauer Sinn für Reinlichkeit und Schönheit; überall, wo er im Wohlstand lebt, tritt das zu Tage. Das bäuerliche Haus der Vorzeit – z. B. das des Schweizer oder das des russischen Bauern – sind das Entzücken des Architekten; aber heute sind es städtische Villen, in denen die Kunst des Bauern fortlebt; die Originale verfallen und finden keine Nachfolger mehr auf den bäuerlichen Höfen. Es bedarf jedoch nur des Wohlstands und der Muße, um den Bauer wieder zum Künstler zu machen. Das siegreiche Proletariat wird sie ihm bringen, es wird nicht nur die Lohnsklaven der Industrie befreien, es wird auch das flache Land, dessen herrliche Naturschönheiten heute in so traurigem Kontrast zu dem Stumpfsinn, dem Elend und Schmutz seiner Bewohner stehen, in einen blühenden Garten verwandeln, den ein freies, frohes und stolzes Geschlecht bewohnt.


Zuletzt aktualisiert am 26.2.2012