Karl Kautsky


Bernstein und das Sozialdemokratische Programm



I. Die Methode

a) Die materialistische Geschichtsauffassung

Bernsteins Buch stellt in seinem Fortschreiten verschiedene Stadien einer Entwicklung dar; sie werden eingeleitet durch ein Vorstadium, jene Artikel in der Neuen Zeit, von denen die ganze Diskussion ausging, in der wir jetzt stehen. Seine Artikel über „den Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft“ (Neue Zeit, XVI, 1, S. 484, 548), mit dem Satze vom Endziel und der Bewegung, der seitdem zu einem geflügelten Wort geworden – diese Artikel stellten sich bloß dar als eine Polemik gegen Belfort Bax. Deswegen angegriffen, gestaltete Bernstein seine Erwiderungen zu einer Polemik gegen die „Sozialrevolutionäre“ in der Partei, die Parvus, Luxemburg, Plechanow.

Noch mehr erweitert Bernstein den Kreis seiner Gegner im Anfange seiner Broschüre. Aber er tritt da noch auf als der Vertreter des Marxschen Standpunkts. Die Marxsche Geschichtsauffassung hat eine Wandlung durchgemacht, erklärte er; die meisten Marxisten merken sie nicht, aber er, Bernstein, kann sie ganz genau verfolgen; wir müssen die materialistische Geschichtsauffassung in ihrer vollkommenen, nicht ihrer primitiven Form anerkennen.

Hier sehen wir Bernstein als Verteidiger der Marxschen Lehre gegen die Unvernunft der Marxisten. Noch fühlt er sich als Prophet, der nicht gekommen ist, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen.

Aber im Fortgang seiner Abhandlung schreibt er sich immer mehr in die Hitze; bald stehen wir im zweiten Stadium: Marx und Engels haben eine Wandlung durchgemacht; aber nicht nur die Marxisten, sondern auch Marx und Engels selbst sind sich ihrer nicht bewusst geworden. Bernstein freilich hat sie herausgefunden. Im Sinne dieser Wandlung ist die Marxsche Lehre zu reformieren, von dem schlecht beratenen Marx ist an den besser beratenen zu appellieren. Bisher war es bei den Kathedersozialisten Mode, dem bösen Marx den braven Lassalle gegenüberzustellen. Bernstein bringt Abwechslung in die Sache und stellt dem bösen Marx den braven Marx gegenüber. Aber auch dabei bleibt er nicht, er schreibt weiter, wird immer wärmer und kampflustiger und so schreibt er sich in das dritte Stadium hinein; vom braven Marx bleibt nichts mehr übrig, nein, auch in seiner vollendetsten Gestalt wird er verworfen; die Richtung der tatsächlichen Entwicklung, erklärt Bernstein, ist der von Marx behaupteten gerade entgegengesetzt.

Dies ist das entschiedenste und wichtigste Stadium des Buches. Da weiß man doch, wo und wie. Aber leider bleibt Bernstein nicht in diesem Stadium. Der Wildbach, der das Gebäude des Marxismus fortzuschwemmen droht, verflacht und versandet in einem Exkurs über praktische Sozialreformen, deren Notwendigkeit von Berlepsch und Bassermann bis Parvus und Plechanow allgemein anerkannt wird, bis wir schließlich in dem dünnen Rinnsal als einziges praktisches Schlussergebnis der ganzen Auseinandersetzung die Mahnung finden, keine Ausdrücke zu gebrauchen, durch welche die Bourgeois erschreckt werden könnten.

Wenden wir uns zunächst dem ersten Stadium des Buches zu. Es handelt sich hier um die Grundlage der marxistischen Theorie, die materialistische Geschichtsauffassung. Durch „diese beiden großen Entdeckungen“, sagt Engels in seinem Anti-Dühring, „die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwertes ... wurde der Sozialismus eine Wissenschaft“. Sie haben den modernen Sozialismus nicht geschaffen, aber sie gaben erst die Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich, methodisch zu begründen und auszubauen. Unter diesen beiden Entdeckungen selbst ist wieder die der materialistischen Geschichtsauffassung die grundlegende geworden. Mit ihr steht und füllt der Marxismus, das heißt die höchste bisher erreichte Stufe der sozialistischen Theorie.

Bernstein geht daher in seiner Streitschrift von der Frage aus, ob und inwieweit die materialistische Geschichtsauffassung Geltung hat. Welches ist aber der Weg, um zu einem Urteil über sie zu gelangen? Marx hat uns selbst in der berühmten Vorrede zu seiner Kritik der politischen Ökonomie den Weg beschrieben, den er einschlug.

Als Redakteur der Rheinischen Zeitung kam er 1842–1843 in „die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen“, ohne die betreffenden Fragen tiefer ergründet zu haben. Die Beschäftigung damit, sowie Kontroversen, die sich darüber entspannen, erregten in ihm Zweifel mannigfacher Art an der Richtigkeit der damals herrschenden Anschauungen. Marx hielt jedoch keineswegs den bloßen Zweifel bereits für einen theoretischen Fortschritt, den man nicht rasch genug dem Publikum vortragen könne. Statt ein Buch über seine Zweifel zu schreiben, benutzt er eine Meinungsverschiedenheit mit dem Herausgeber der „Rheinischen Zeitung“, um sich „von der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehen.“

„Die erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie, eine Arbeit, wovon die Einleitung in den 1844 in Paris herausgegebenen Deutsch-französischen Jahrbüchern erschien. Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgange der Engländer und Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts, unter dem Namen der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. Die Erforschung der letzteren, die ich in Paris begann, setzte ich fort zu Brüssel, wohin ich in Folge eines Ausweisungsbefehls des Herrn Guizot übergewandert war ... Die Herausgabe der Neuen Rheinischen Zeitung 1848 und 1849 und die später erfolgten Ereignisse unterbrachen meine ökonomischen Studien, die erst 1850 in London wieder aufgenommen werden konnten. Das ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im Britischen Museum aufgehäuft ist, der günstige Standpunkt, den London für die Beobachtung der bürgerlichen Gesellschaft gewährt, endlich das neue Entwicklungsstadium, worin letztere mit der Entdeckung des kalifornischen und australischen Goldes einzutreten schien, bestimmten mich, ganz von vorne wieder anzufangen und mich durch das neue Material kritisch durchzuarbeiten.“

Marx kam also – und das Gleiche gilt von Engels – zu seiner Geschichtsauffassung auf dem Wege der Erforschung der ökonomischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Zu der gleichen Geschichtsauffassung kam Morgan durch Erforschung der Entwicklung primitiver Völkerschaften. Dasselbe Entwicklungsgesetz wurde an beiden Enden der Entwicklungsreihe gefunden. Das ist wohl kein Zufall. Die ökonomische Entwicklung der modernen Gesellschaft liegt uns naturgemäß am nächsten, ist uns am bekanntesten. Bei den prähistorischen Gesellschaftsformen wieder sind ihre Verhältnisse am einfachsten und klarsten, ist die Gesetzmäßigkeit ihrer Entwicklung, sobald die Tatsachen einmal bekannt und festgestellt sind, am sichersten zu erkennen. Am wenigsten Klarheit herrscht über die Mittelglieder der Entwicklungsreihe, da deren ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt um so schwerer zu erkennen sind, je weiter sie zurückliegen, und um so komplizierter werden, je mehr sie sich von der Urzeit entfernen. Immerhin dringt die Forschung auch hier immer weiter vor und deckt immer weitere Zusammenhänge des klassischen Altertums und des Mittelalters mit der Urgesellschaft wie mit der modernen Gesellschaft auf.

Trotzdem ist die Literatur des historischen Materialismus noch eine recht dürftige, die Theorie noch in ihren Anfangsstadien und ihre Entwicklung keineswegs vergleichbar jener, die z. B. der Darwinismus genommen. Mit Recht weist Antonio Labriola in seiner neuesten Schrift darauf hin (Socialisme et Philosophie, S. 12), und er zeigt auch den Grund an, auf dem dieser Unterschied beruht.

Die materialistische Geschichtsauffassung ist die Theorie geworden, durch die das Proletariat seine sozialistischen Ansprüche begründet. Das hat ihre historische Bedeutung ungemein erweitert, aber ihre wissenschaftliche Entwicklungsfähigkeit, für die nächste Zeit wenigstens, verengt. Sie ist darauf angewiesen, von den Sozialisten allein weiter gefördert zu werden, den Angehörigen einer armen, kämpfenden Partei, die meist in der Erwerbsarbeit aufgehen und ihr bisschen Muße für praktische Kämpfe hingeben müssen.

„Alle jene aber, die außerhalb des Sozialismus stehen, hatten und haben ein Interesse daran, diese neue Theorie zu bekämpfen, zu entstellen oder wenigstens zu ignorieren, und die Sozialisten ... können nicht die Zeit, die Mühe, die Studien aufwenden, die notwendig sind, soll eine Geistesrichtung die umfassende Entwicklung und die Reife einer Schule erreichen, wie das mit jenen Lehren der Fall ist, welche von der offiziellen Welt gefördert oder wenigstens nicht bekämpft werden und daher durch das eifrige Zusammenwirken zahlreicher Mitarbeiter wachsen und gedeihen.“ (a.a.O.)

Und das verspricht zunächst nicht besser zu werden. In dem Maße, in dem der Sozialismus an praktischer Bedeutung zunimmt, wachsen auch die praktischen Anforderungen an die Klasse der sozialistischen „Intelligenz“, und schwindet die Zahl der für die Theorie verfügbaren Kräfte. Die wachsende Ausdehnung der Tagespresse, die Zunahme der Sitze in den Parlamenten und Gemeinderäten, die Vermehrung der Arbeitersekretariate etc. etc. absorbiert fast alle Kräfte, welche die Befähigung und Neigung zu theoretischer Arbeit hätten. Es ist kein Zufall, dass die sogenannten „Theoretiker“ in der deutschen Sozialdemokratie vornehmlich Leute sind, die im Auslande leben, die daher ausgeschlossen sind von der praktischen Parteitätigkeit, so wie es kein Zufall ist, dass auch die marxistische Theorie ein Produkt des Exils war und ein Produkt der politischen Stagnation vor 1848 und nach 1849. Hätte diese Stagnation länger gedauert und wäre es nicht zur „Internationale“ gekommen, kein Zweifel, das Kapital läge fertig vor uns und die Marxsche Theorie wäre vollendeter, als sie heute ist.

Es scheint, dass innerhalb der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise, welche die intensivste Anspannung aller Kräfte auf den Gebieten praktischer Tätigkeit erheischt, ein allseitig geführter Klassenkampf dem theoretischen Sinn nur wenig förderlich ist. Noch 1873 konnte Marx in seinem Nachwort zum Kapital auf den großen theoretischen Sinn der deutschen Arbeiterklasse hinweisen. Mit Bedauern muss man heute gestehen, dass dieser Sinn im Schwinden begriffen ist. Er war ein Erbstück jener Zeit, in der die Wortführer des deutschen Bürgertums philosophierten, indes das französische und englische revolutionierte und die Welt eroberte. Die Begründung des Reiches der Dichter und Denker 1871 hat das Dichten und Denken arg in den Hintergrund gedrängt.

Der meiste theoretische Sinn dürfte noch in Russland zu finden sein, dessen Intelligenz heute ebenso wie ehedem die deutsche dazu verurteilt ist, die politischen und sozialen Umwälzungen des Westens bloß theoretisch zu reproduzieren.

In dieser für die theoretische Fortentwicklung so ungünstigen Situation muss um so wertvoller und erwünschter jeder Versuch sein, die materialistische Geschichtsauffassung zu vertiefen und weiter zu entwickeln. Dies ist aber nur möglich auf demselben Wege, auf dem Marx, Engels und Morgan zu dieser Auffassung kamen, durch weitere Erforschung der Tatsachen und nicht durch Herumdeuteln an einzelnen ihrer Ausdrücke. Nur dadurch, namentlich durch Weiterentwicklung der Wirtschaftsgeschichte, kann sie verständlicher gemacht werden; an den Tatsachen und nicht an einzelnen Worten ist sie zu prüfen, aus ihnen weiter zu entfalten. Entweder unterzieht man die Tatsachen, auf denen Marx und Engels fußten, einer neuerlichen Prüfung, untersucht von neuem ihre Zusammenhänge und die Schlüsse, die sich daraus ergeben, oder man dringt auf neue Gebiete vor, untersucht diese, vergleicht die dort gewonnenen Resultate mit den bisher schon erzielten und bekräftigt damit oder korrigiert, erweitert oder verengt die Theorie.

Hätte Bernstein diesen Weg eingeschlagen, jeder Marxist wäre ihm dankbar dafür gewesen. Aber derselbe Bernstein, der uns von oben herab belehrt, dass „nicht im ewigen Wiederholen der Worte des Meisters die Aufgabe ihrer Schüler beruht“ (S. 19), er gibt uns nichts als ein paar Zitate aus Marx-Engelsschen Schriften und Briefen, deutet an deren Worten herum, und bemerkt, die aus den letzten Briefen herauszulesende Deutung stelle die vollkommenste Gestalt der Theorie dar, in dieser Form müssten wir sie akzeptieren. In dem ganzen Kapitel über die materialistische Geschichtsauffassung wird nicht auf eine einzige historische Tatsache Bezug genommen! Man denke sich einen Darwinisten, der den Sinn des Darwinismus nicht an der Hand naturwissenschaftlicher Tatsachen erörtern wollte, sondern an der Hand einiger allgemein gehaltenen Sätze aus Darwins Schriften und der Deutung der darin enthaltenen Worte: Entwicklung, Kampf ums Dasein, Zuchtwahl usw. Dieses Verfahren erlaubte ich mir Scholastik zu nennen, und ich fühle mich durchaus nicht geschlagen durch Bernsteins Einwurf, ich hätte dann gelegentlich meiner Diskussion mit Bax selbst Scholastik getrieben. Ich nenne durchaus nicht jede prinzipielle Erörterung Scholastik. Nicht darin besteht deren Wesen, dass mit Begriffen operiert wird, sondern darin, dass diese Begriffe gewonnen werden nicht durch Erforschung der Wirklichkeit, sondern durch Zergliederung der Bedeutung einzelner Worte und Sätze von Autoritäten. Wer sich aber meiner Polemik mit Bax entsinnt, der wird auch wissen, dass das entscheidende Gewicht damals nicht der Deutung einiger Worte von Marx und Engels zufiel, sondern den Tatsachen der Geschichte, dem Entwicklungsgang der griechischen Philosophie, den Anfängen des Christentums, dem Puritanismus.

Aber bei Bernstein handelt es sich auch gar nicht darum, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuhellen. Er packt die Sache philosophischer an. Für ihn ist „die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung die Frage nach dem Grade der geschichtlichen Notwendigkeit. Materialist sein ... heißt zunächst die Notwendigkeit alles Geschehens behaupten ... So ist der Materialist ein Kalvinist ohne Gott.“ (S. 4) Dementsprechend betitelt er auch das Kapitel, in dem er von der marxistischen Geschichtsauffassung handelt: Die materialistische Geschichtsauffassung und die historische Notwendigkeit. Anfangs, erklärt er, fußte jene auf der Annahme einer solchen; sie war deterministisch. Aber im Laufe der Jahre wurden Marx und Engels aus strengen immer flauere Deterministen, was sie allerdings nie ausdrücklich erklärten, was sich aber aus der Deutung einiger Privatbriefe von Engels ergibt. Bernstein bringt sogar das Kunststück fertig, uns auf einen Brief von Engels zu verweisen, den außer ihm niemand kennt und von dem er kein Wort mitteilt – aus Diskretion. Wir sind indiskret genug, so diskrete Briefe einfach als nicht vorhanden zu betrachten und die Berufung auf sie für eine Absurdität zu halten.

Schließlich kommt Bernstein zu dem Ergebnis:

„Der philosophische oder naturwissenschaftliche Materialismus ist deterministisch, die marxistische Geschichtsauffassung ist es nicht; sie misst der materiellen Grundlage des Völkerlebens keinen unbedingten Einfluss auf dessen Gestaltungen zu“ (S.14).

Auf meine Einwände dagegen erwiderte er in einem Artikel der Neuen Zeit, den er überschrieb: Die Notwendigkeit in Natur und Geschichte. Ich will es dem Leser ersparen, ihn mit durch die verschiedenen Arten von unbedingtem oder mehr oder weniger bedingtem, physischem, philosophischem und ökonomischem, strengem und flauem, allgemeinem und besonderem Determinismus durchzuschleppen, die uns da Bernstein vorführt. Nur eines sei bemerkt. Bei dem Verbalismus, den er treibt, ist Präzision im Ausdruck unerlässlich, soll man nicht in hoffnungslose Verwirrung geraten. Wenn Bernstein die ganze Erörterung über die materialistische Geschichtsauffassung auf die Frage zuspitzt, ob sie deterministisch sei oder nicht, darf er über den Sinn dieses Wortes keinen Zweifel lassen. Aber Bernstein muss selbst zugeben, dass er es gerade in dem ersten, grundlegenden Kapitel besonders an Genauigkeit und Klarheit des Ausdrucks mangeln lässt. Er erklärt in dem schon zitierten Artikel der Neuen Zeit: „Es ist dies ein Punkt, wo ich Kautskys Kritik zum Teile als berechtigt anerkennen muss. Soweit die Ausdrucksweise in Betracht kommt, lässt der betreffende Abschnitt in der Tat an einigen Stellen zu wünschen übrig, fehlt es der Darstellung an Präzision.“ Macht er aber diesen Fehler in seinem Artikel wieder gut? Mitnichten. Er kommt hier zu dem Resultat: „Der ganze Streit ist ein Streit um die Interpretation eines Wortes: Determinismus. Wie ich es gebrauche, steht es für materiell bestimmte Notwendigkeit und würde, auf die Geschichte angewendet, Fatalismus heißen. Darüber kann niemand, der mein Buch unbefangen liest, im Zweifel sein.“ Nach Bernstein war also die Marxsche Geschichtsauffassung ursprünglich fatalistisch. Das wollen wir festhalten.

Wie aber, wenn wir nun im Zweifel sind, was „Fatalismus“ heißen soll? Er meint damit doch nicht den Glauben an ein Fatum? Wenn das Wort hier einen Sinn haben soll, kann's nur den von mechanischer, automatischer Notwendigkeit haben. In der Tat erklärt Bernstein: wenn Kautsky „nicht einen rein mechanischen Weltprozess unterstellt, dessen Automaten die Menschen sind, ob sie sich auch noch so bewusst vorkommen mögen, dann fällt die Notwendigkeit der allgemeinen Menschheitsentwicklung rettungslos zusammen“. Mit anderen Worten, eine historische Notwendigkeit besteht für Bernstein nur dort, wo die Menschen in einer Zwangslage sich befinden, wo nicht bloß ihr Wollen bestimmt motiviert, sondern auch ihr Handeln unfrei ist. Nach allen seinen philosophischen Erörterungen endet er damit, Freiheit des Wollens und Freiheit des Handelns miteinander zu verwechseln. Nun wird es klar, warum er meint, die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung sei eine Frage nach dem Grade der historischen Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit in dem Sinne des notwendigen, gesetzmäßigen, kausalen Zusammenhangs aller historischen Erscheinungen genommen, kann natürlich keinen Grad haben, dagegen kann ein äußerer Zwang, unter dem die Menschen stehen, im Grade sehr verschieden sein.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich „voreingenommen“ genug war, es für unmöglich zu halten, Bernstein werde die historische Notwendigkeit in letzterem Sinne auffassen. Es ist da nicht das erste Mal, dass Bernstein erklärt, er habe sich so deutlich ausgedrückt, dass nur Böswilligkeit oder Voreingenommenheit ihn missverstehen könne. Aber er ist so streng nur gegen seine bisherigen Parteifreunde. Etwas anderes ist’s, wenn ein „Doktor, Magister gar“, ihn ebenso auffasst. Ich hatte bereits in meiner ersten Kritik zweifelnd gefragt: „Sollte Bernstein nicht Determinismus mit Mechanismus verwechseln?“ In einem Artikel über Bernstein bemerkte Dr. v. Wenckstern:

„Am glücklichsten ist Kautsky in seinen Bemerkungen über die Auffassung der materialistischen Geschichtstheorie durch Bernstein. Man muss hier zugeben, dass ihm (Bernstein) allerdings ... die Verwechslung des philosophischen Begriffs ‚deterministisch’ mit dem Begriff ‚mechanisch’ unterlaufen ist.“

Meine Kritik wird von Bernstein in seinem Artikel als ein Beweis der Befangenheit hingestellt, mit der ich ihm gegenüberstehe. Gleich darauf aber erweist er dem Doktorhut seine Reverenz und erklärt in einer Fußnote:

„Ich gebe zu, dass dieser Gebrauch des Wortes ‚Determinismus’ nicht mit dem Sinne übereinstimmt, den es in der modernen Philosophie hat, wo es speziell die Bestimmtheit des menschlichen Willens durch Beweggründe bezeichnet. Diejenigen Kritiker meines Buches, die wie Dr. v. Wenckstern in der wissenschaftlichen Beilage der Münchener Allgemeinen Zeitung aus diesem Grunde an ihm Anstoß nehmen, haben unzweifelhaft den wissenschaftlichen Sprachgebrauch auf ihrer Seite. Das gilt aber nicht für Kautsky – denn Kautsky ist verpflichtet, das Wort Determinismus im Sinne von Fatalismus zu gebrauchen, eine Verpflichtung, die ich höflichst ablehnen muss.

So ein Privatdozent hat’s doch gut! Da plagt sich unsereins im Schweiße seines Angesichts, die qui pro quos Bernsteins zu entwirren und klar zu legen, und was findet dieser? Missdeutungen, nichts als Missdeutungen, so grober Natur, dass die äußerste Nachsicht dazu gehört, sie nicht für absichtliche Fälschungen zu erklären. Wenn aber ein Privatdozent so nebenbei auf zwei Zeilen dasselbe sagt, dann wird ihm sofort auf das Bereitwilligste bescheinigt, dass er „unzweifelhaft den wissenschaftlichen Sprachgebrauch auf seiner Seite hat“.

Wie viel Arbeit erspart doch ein akademischer Titel!

Welchen Sprachgebrauch hatte aber Bernstein gerade im Auge, als er folgende Sätze schrieb?

In dem schon mehrfach angezogenen Artikel in der Neuen Zeit erklärte er: „Der Gedanke, dass unsere Welt genau so ist, wie sie sein musste, ist im Grunde nur eine Erbauungsvorstellung für Materialisten, die einen Trost für die Niederträchtigkeiten dieser Welt brauchen.“ Wohl beruht auf dieser „Erbauungsvorstellung“ jegliche Wissenschaft und jegliche Möglichkeit einer Wissenschaft, aber sie kann nur von Materialisten und ähnlichen Idioten akzeptiert werden, die der lächerlichen Überzeugung huldigen, in der Welt gehe alles natürlich zu. Ja, wer das annimmt, für den ist allerdings Kausalität und Notwendigkeit gleichbedeutend. Aber „dass alles Geschehen eine Ursache haben muss, heißt eben noch nicht, dass alles Geschehen eine natürliche, mit keiner übersinnlichen Macht zusammenhängende Ursache haben muss“.

Jetzt fehlt nur noch, dass Bernstein herausfindet, Marx und Engels hätten schließlich in ihrer Geschichtsauffassung die Notwendigkeit durch den Finger Gottes ersetzt. An ungedruckt bleibenden Privatbriefen, aus denen sich das herausdeuten ließe, wird wohl kein Mangel sein.

Wenn aber die Marxsche Geschichtsauffassung ursprünglich fatalistisch war, wie steht’s dann mit dem Klassenkampf? An der Spitze der theoretischen Ausführungen des Kommunistischen Manifests steht der Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ An dem modernen Klassenkampf des Proletariats haben die Kommunisten teilzunehmen als „der praktisch entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder“. Wozu das, wenn Marx annahm, die Entwicklung gehe fatalistisch vor sich?

Für Bernstein selbst enthält der marxistische Standpunkt in seinen Anfängen nicht nur Fatalismus, sondern auch das Gegenteil davon.

In der bekannten Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie werden, wie Bernstein behauptet, „Bewusstsein und Sein einander so schroff gegenübergestellt, dass die Folgerung nahe liegt, die Menschen würden lediglich als lebende Agenten geschichtlicher Mächte betrachtet, deren Werk sie geradezu wider Wissen und Willen ausführen“. (S. 6) Der reine Fatalismus. Das ist schlimm genug. Aber gerade damals, als seine Geschichtsauffassung am fatalistischsten war, machte derselbe Marx, wie Bernstein ihm vorwirft, im Verein mit Engels „statt der wirklichen Verhältnisse den bloßen Willen zur Triebkraft der Revolution“. Das ist jedenfalls noch schlimmer. Am schlimmsten aber, dass Marx und Engels sich dieses unerhörten Widerspruchs nie bewusst wurden. Die Möglichkeit, dass Bernstein Marx und Engels in dem einen wie in dem anderen Falle falsch aufgefasst habe, kommt ihm nicht in den Sinn. Er hat ja für alle Widersprüche von vornherein die Deutung in der Tasche, die Zweiseelentheorie. Bei jedem Menschen findet er zwei Seelen, überall einen Dualismus; aber wenn man anzudeuten wagt, dass diese zwei Seelen vor allem in seiner Brust zu finden seien, wird er entrüstet.

Bernstein konstatiert indes nicht bloß das Vorhandensein der zwei Seelen bei Marx und Engels, sondern auch eine besondere Entwicklung jeder der beiden Seelen, und zwar in entgegengesetzter Richtung, und doch entwickelt sich jede in der Richtung auf Bernstein – welches Kunststück! Die eine Seele wird immer weniger fatalistisch, sie erkennt immer mehr eine selbständige Eigenbewegung der politischen und ideologischen Mächte an, macht also immer mehr „statt der wirklichen Verhältnisse den Willen zur Triebkraft“ der sozialen Entwicklung. Die andere Seele dagegen, wie in dem Kapitel über Marxismus und Hegelsche Dialektik zu lesen, schränkte die Rolle des Willens und der Ideologie in der Revolution immer mehr ein und legte immer größeres Gewicht auf ihre materiellen Grundlagen, wovon die Engelssche Vorrede zu den Marxschen Klassenkämpfen deutlich zeugt. So können die beiden armen Seelen sich nie finden und es gehört eine hervorragende Gabe der Seelenriecherei dazu, sich in diesem Kuddelmuddel zurechtzufinden und ganz genau festzusetzen, welches die wahre marxistische Seele ist.

Bernstein hat sie glücklich in einigen Privatbriefen von Engels entdeckt und er bedeutet uns:

„Wer heute die materialistische Geschichtstheorie anwendet, ist verpflichtet, sie in ihrer ausgebildetsten und nicht in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden, das heißt, er ist verpflichtet, neben der Entwicklung und dem Einfluss der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse den Rechts- und Moralbegriffen, den geschichtlichen und religiösen Traditionen jeder Epoche den Einflüssen von geographischen und sonstigen Natureinflüssen, wozu dann auch die Natur des Menschen selbst und seiner geistigen Anlagen gehört, volle Rechnung zu tragen.“ (S. 7)

Sehr richtig, nur muss dies jeder tun, der irgendeine Geschichtsausfassung, welcher Art immer, anwendet. Was uns da Bernstein in nicht ganz einwandsfreier Reihenfolge aufzählt, das sind eben die Faktoren deren Zusammenhange zu erforschen sind. Über die Art ihres Zusammenhangs erfahren wir nicht das Mindeste, wenn man uns verpflichtet, ihnen „Rechnung zu tragen“.

Dieser unklare Gemeinplatz ist das ganze Resultat der Bernsteinschen Untersuchung über die materialistische Geschichtsauffassung.

Ohne klare Geschichtstheorie gibt es aber auch keine klare Methode der sozialistischen Forschung. Hier ist der Punkt, wo Geschichtsauffassung und Sozialismus sich berühren, der Punkt, der die Frage der historischen Theorie zu mehr als einer Doktorfrage macht.

Der Zusammenhang zwischen Theorie und Methode erhellt deutlich aus einer Stelle des Engelsschen Anti-Dühring. Ich wähle die dritte, „durchgesehene und vermehrte Auflage“, die Engels 1894, ein Jahr vor seinem Tode, herausgab, zu der Zeit, aus der auch seine Privatbriefe entstammen, auf die sich Bernstein beruft. Ich habe in meinem Artikel in der Neuen Zeit schon gezeigt, dass zwischen diesen Briefen und den Werken von Marx und Engels kein Widerspruch besteht und kann eine Wiederholung dieser Auseinandersetzung mir und meinen Lesern erlassen.

In dem Anti-Dühring (S. 286) heißt es:

„Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen, nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche. Die erwachende Einsicht, dass die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, dass Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, dass in den Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen zugeschnittene gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt. Damit ist zugleich gesagt, dass die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Missstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst – mehr oder minder entwickelt – vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa ans dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken.“

Mit dem Entdecken allein ist es aber nicht getan. Die Mittel müssen auch angewandt, eventuell den Widerstrebenden aufgezwungen werden. – Aber nicht alle Volksschichten sind willkürlich durch bloße Kraft der Überredung dazu zu bewegen. Die durch Propaganda am ehesten für die betreffenden Kämpfe zu gewinnenden und zu vereinigenden Volksschichten müssen ebenfalls entdeckt werden. Es sind stets nur ganz bestimmte Klassen, deren Interessen und Neigungen zusammenfallen mit den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch diese Interessen und Neigungen können nur erkannt werden durch Erforschung der bestehenden Produktionsweise.

Das ist die Methode, die sich aus der Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung in der Politik ergibt, sie ist es, durch die der Sozialismus zu einer Wissenschaft wurde. Das besagt natürlich nicht, dass hinfort nur derjenige Sozialist sein könne, der diese Methode anerkenne oder mindestens verstehe. Man kann für eine Sache auch eintreten, ohne sich über die letzten Gründe seines Tuns klar geworden zu sein. Wenn man den marxistischen Sozialismus den wissenschaftlichen nennt, so soll damit aber auch nicht eine Überhebung der Marxisten verbunden sein, als ob sie behaupten wollten, dass bei ihnen allein wissenschaftliches Denken zu finden wäre. Es gibt sicher Marxisten, die mit der Wissenschaft auf sehr gespanntem Fuße stehen und Nichtmarxisten, die in der Wissenschaft Bedeutendes leisten. Aber eine andere Methode, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen, als die marxistische, ist bisher noch nicht in Wirksamkeit getreten.

Die Methode ist das Entscheidende am marxistischen Sozialismus, nicht die Resultate. Die letzteren können sich ändern, haben sich in manchen Punkten schon geändert und werden sich in manchen noch weiter ändern im Laufe der Entwicklung, die nicht nur neue Tatsachen, sondern auch neue Mittel der Forschung gibt. Dass wir in manchem anders urteilen, als Marx und Engels bei der Abfassung des Kommunistischen Manifests, ist selbstverständlich. Aber was sich immer glänzender bewährt, das ist die Methode, durch welche die Resultate des Kommunistischen Manifests gewonnen wurden.

Sicher ist auch diese Methode nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber wenn Jemand uns veranlassen will, von dieser so klaren, so fruchtbaren, so wohlbewährten Methode abzugehen, dann müssen es zwingende Gründe sein und dann muss uns als Ersatz eine mindestens ebenso klare und fruchtbare, wenn auch noch nicht so bewährte Methode geboten werden.

Wer die marxistische Methode für falsch hält, dem bleiben nur zwei Wege. Er erkennt an, dass die gesellschaftliche Entwicklung eine notwendige, gesetzmäßige ist, aber er leugnet es, dass sie in letzter Linie auf die Entwicklung der Produktionsweisen zurückzuführen ist. Er nimmt an, dass andere Faktoren daneben oder ausschließlich „in Rechnung zu ziehen find“. Dann muss er, will er die Richtung der sozialen Entwicklung und die Mittel zu ihrer kräftigsten Förderung erforschen, die Gesetze darlegen, denen diese anderen Faktoren, etwa die ethischen Anschauungen und Triebe, unterliegen. Von einem wissenschaftlichen Sozialismus könnte erst dann bei dieser Methode die Rede sein, wenn die betreffenden Faktoren ebenso erforscht wären, wie die kapitalistische Produktionsweise im Kapital, und dargetan wäre, dass aus ihrem Wirken eine sozialistische Gesellschaft erstehen muss.

Oder aber, man leugnet überhaupt die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung oder wenigstens die Möglichkeit, sie mit den gegebenen Mitteln zu erkennen. Damit schwindet aber auch jede Möglichkeit, die Richtung der sozialen Entwicklung selbst nur einigermaßen durch Erforschung der Gegenwart und Vergangenheit klar zu legen, es schwindet jede Möglichkeit einer wissenschaftlichen Behandlung der großen Probleme unserer Zeit, also auch eines wissenschaftlichen Sozialismus. Das schließt eine sozialistische Bewegung nicht aus, aber ihre Ziele hören auf, etwas anderes zu sein, als aus den Bedürfnissen der Gegenwart entspringende fromme Wünsche. Die Argumente, die Art des Kampfes, alles müsste sich ändern.

Da Bernstein die materialistische Geschichtsauffassung in ihrer klassischen – oder wie er meint, primitiven – Form ablehnt, musste er, wenn er überhaupt Klarheit in die Methode bringen wollte, sich für eine der beiden eben erwähnten Methoden entscheiden. Hier aber versagt er vollständig. Er begnügt sich damit, uns durch einige Ausfälle gegen die Materialisten und die Notwendigkeit und durch einige gezwungene Deutungen von Privatbriefen glauben machen zu wollen, Marx und Engels hätten am Ende ihres Lebens auf die konsequente Anwendung ihrer Geschichtsauffassung und der dieser entsprechenden Methode verzichtet, auf der ihre klassischen Schöpfungen vom Elend der Philosophie und dem Kommunistischen Manifest bis zum Kapital und Anti-Dühring beruhen. Aber er hütet sich, auch nur mit einem Worte zu verraten, welche Methode er für die richtige hält, und auch in der Diskussion ist es nicht gelungen, ihm hierüber eine Äußerung zu entlocken. Sein erbitterter Kampf gegen die historische Notwendigkeit lässt annehmen, er huldige der Anschauung, als sei es überhaupt unmöglich, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen. Aber dagegen spricht der Umstand, dass er sich noch als Marxist, ja als der Vertreter der eigentlichen materialistischen Geschichtsauffassung gegenüber den dogmengläubigen Marxisten fühlt, die an der klassischen Form festhalten. Leider kann man auf das bloße „in Rechnung ziehen“ verschiedener Faktoren keine Methode des wissenschaftlichen Sozialismus begründen.

So beschränkt Bernstein sich auf einige Orakelsprüche. Auf Seite 10 und 11 setzt er auseinander, dass die ideologischen und ethischen Faktoren einen immer größeren Spielraum selbständiger Betätigung erhalten und fährt fort: „Der Geschichte ehernes Muss erhält auf diese Weise eine Einschränkung, die für die Praxis der Sozialdemokratie, um dies vorauszuschicken, keine Minderung, sondern eine Steigerung und Qualifizierung der sozialpolitischen Aufgaben bedeutet.“ Man sollte erwarten, dass wir später in der Schrift etwas über diese „Steigerung und Qualifizierung“ erfahren. Aber mitnichten. Es bleibt bei der vorausgeschickten Andeutung. Wir lesen nur noch auf S. 178, dass Bernstein „in der Tat den Sieg des Sozialismus nicht von dessen immanenter ökonomischer Notwendigkeit abhängig mache, es vielmehr weder für möglich noch für nötig halte, ihm eine rein materialistische Begründung zu geben.“

Ob er es für möglich und nötig hält, ihm eine andere Begründung zu geben, erfahren wir nicht und ebenso wenig natürlich diese Begründung selbst.

Bernstein begnügt sich damit, gegen die alte Methode zu Felde zu ziehen, er hält es nicht für nötig, eine neue an ihre Stelle zu setzen. Er kommt auch ohne bestimmte Methode zurecht. Unbewusst benutzt er immer noch die alte materialistische Methode, die sich durch sein ganzes Buch hindurchzieht. Aber da er sie ausdrücklich für unzureichend erklärt hat, nimmt er daraus das Recht, von ihr abzuweichen, wenn ihre Konsequenzen ihm unbequem werden.

Es ist bezeichnend, dass er es ablehnt, dem Sozialismus eine „rein materialistische“ Begründung zu geben. Inkonsequenter Materialismus, das ist Bernsteins Verbesserung der marxistischen Methode.
 

b) Die Dialektik

Tritt Bernstein in Bezug auf die materialistische Geschichtsauffassung nicht als ihr Kritiker, sondern als ihr Kommentator auf, so ändert sich das im Fortgang seiner Broschüre.

Die Lehre von Marx und Engels, sagt er, hat eine Entwicklung durchgemacht,

„aber nicht alle der ... Wandlungen hinsichtlich einzelner Teile oder Voraussetzungen der Theorie haben bei der schließlichen Ausgestaltung dieser volle Berücksichtigung gefunden ... Marx und Engels haben sich darauf beschränkt, die Rückwirkungen, welche die von ihnen anerkannten Änderungen in den Tatsachen und die bessere Erkenntnis der Theorie auf die Ausgestaltung und Anwendung der Theorie haben müssen, teils überhaupt nur anzudeuten, teils bloß in Bezug auf einzelne Punkte festzuhalten. Und auch in letzterer Beziehung fehlt es bei ihnen nicht an Widersprüchen. Die Aufgabe, wieder Einheit in die Theorie zu bringen und Einheit zwischen Theorie und Praxis herzustellen, haben sie ihren Nachfolgern hinterlassen ... Heute steht es so, dass man aus Marx und Engels alles beweisen kann. Das ist für den Apologeten und literarischen Rabulisten sehr bequem. Wer sich aber nur ein wenig theoretischen Sinn bewahrt hat, der wird, sobald er sich dieser Widersprüche bewusst wird, auch das Bedürfnis empfinden, mit ihnen aufzuräumen. Darin, und nicht im ewigen Wiederholen der Worte der Meister beruht die Aufgabe ihrer Schüler.“ (S. 19)

Die Richtigkeit des Schlusssatzes dieses Passus kann ich ebenso wenig leugnen, als die des Anfangssatzes. Gegen den Rest aber verhalte ich mich nicht minder kritisch, als Bernstein gegen Marx und Engels, auf die Gefahr hin, von ihm zu den Apologeten oder Rabulisten gezählt zu werden.

Dass die Marxsche Theorie nicht fertig aus den Köpfen ihrer Urheber hervorging, dass sie eine Entwicklung durchmachte, ist selbstverständlich, ebenso wie es eine billige Wahrheit ist, darauf hinzuweisen, dass die Aufgabe der Schüler nicht im ewigen Wiederholen der Worte der Meister besteht. Die Resultate, die Marx und Engels gefunden, sind nicht das letzte Wort der Wissenschaft. Die Gesellschaft ist im Fluss ständiger Entwicklung, und nicht nur neue Tatsachen tauchen auf, sondern auch neue Methoden der Beobachtung und Forschung. Manches wird unhaltbar, was Marx und Engels behauptet, manches bedarf der Einschränkung, manche Lücke, die sie offen gelassen, muss ausgefüllt werden.

Aber von dieser Art der Weiterentwicklung der Theorie spricht hier Bernstein nicht, sondern von den Widersprüchen, in die sich Marx und Engels durch ihre eigenen wissenschaftlichen Fortschritte dadurch verstrickten, dass sie deren Konsequenzen nicht auf allen Gebieten zogen und an veralteten Ansichten festhielten, die mit ihren eigenen neueren in Widerspruch standen.

Das ist nichts Selbstverständliches mehr, das will bewiesen sein und zwar zwingend. In der Regel ist der Entwicklungsgang einer Theorie ein anderer, als Bernstein ihn hier gezeichnet. In ihren Anfängen muss sie anknüpfen an ihre Vorgänger; da kann sie sich nicht frei halten von Widersprüchen; aber je mehr sie sich vervollkommnt, je selbständiger sie wird, desto mehr streift sie die überkommenen Gedankenformen ab, desto einheitlicher und geschlossener wird sie. Und bei Marx und Engels sollte es anders gewesen sein, zwei Deutern, deren Streben nach Einheitlichkeit, deren Klarheit im Denken, deren Präzision im Ausdruck selbst von den Gegnern anerkannt sind? Die sollten sich, ohne es zu merken, in so große Widersprüche verwickelt und so verschwommen gedacht haben, dass man aus ihren Schriften alles beweisen kann?

Es ist richtig, dass manche Sätze von Marx und Engels verschiedener Auslegung fähig erscheinen, aber muss man darum ein Rabulist oder Apologet sein, wenn man sie widerspruchslos aufzufassen sucht? Es ist das Schicksal jeder tiefgehenden Philosophie, dass sie nicht ohne weiteres verstanden und verschieden ausgelegt wird. Nur der wird einen tiefen Denker völlig verstehen, der es vermag, sich ganz in seinen Gedankengang hineinzuleben. Einem Gegner wird das kaum je gelingen, und wo der Gleichdenkende vollste Einheitlichkeit und Geschlossenheit findet, da sieht jener Widersprüche, die bloß ein Apologet oder Rabulist miteinander vereinbaren kann.

Wieso kommt es, dass Bernstein erst jetzt, seitdem er aus der Zunft der Apologeten und Rabulisten ausgetreten, die Widersprüche bei Marx und Engels entdeckt? Was ist es, was ihm plötzlich die Augen darüber geöffnet hat? Wir dürfen wohl erwarten, dass den starken Worten Bernsteins auch starke, zwingende Tatsachen entsprechen.

Zunächst gibt er uns als Beweis für seine Behauptung ein Beispiel, ein einziges. Aber das wird wohl erdrückend sein!

Im Vorwort zur Neuauflage des Kommunistischen Manifests (1872) sagten Marx und Engels von dem dort entwickelten Revolutionsprogramm, es sei „stellenweise veraltet“. Aber 1885 druckte Engels ein Revolutionsprogramm aus dem Jahre 1848 und ein Rundschreiben der Exekutive des Kommunistenbundes ab und bemerkte dazu, dass daraus „auch heute noch Mancher etwas lernen kann“ und „dass Manches auch heute noch passt“. Ich muss gestehen, dass ich Rabulist oder Apologet genug bin, hier keinen Widerspruch zu dem „stellenweise veraltet“ zu finden. Freilich sagt die Vorrede von 1872 auch: „Die (Pariser) Kommune hat den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.“ „Aber fünf Jahre später“, fährt Bernstein fort, „in der Streitschrift gegen Dühring, heißt es wieder kurzweg: ‚Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum.‘“

Bernstein scheint den Widerspruch zwischen diesen beiden Sätzen für so offenkundig zu halten, dass er es für überflüssig hält, ihn auseinanderzusetzen. Mir ist es dagegen beim besten Willen nicht möglich, einen Widerspruch hier zu entdecken. Wenn Engels sagt, die Arbeiterklasse könne nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen, so heißt das doch nicht, sie könne sie überhaupt nicht in Besitz nehmen. Das wäre ja die völlige Umwälzung eines der Fundamente der marxistischen Politik, und die hätten Marx und Engels doch nicht so nebenher, in zwei Zeilen, ohne weiteren Kommentar vorgenommen. Wer aber noch Zweifel hegt, wie der in Rede stehende Satz aufzufassen ist, der lese das Engelssche Vorwort zur dritten, 1891 erschienenen Auflage des „Bürgerkrieg in Frankreich“ nach. Da heißt es unter anderem: „Die Kommune musste gleich von vornherein anerkennen, dass die Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könne mit der alten Staatsmaschine; dass diese Arbeiterklasse, um nicht ihrer eigenen, erst eben eroberten Herrschaft verlustig zu gehen, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseitigen, andererseits aber sich sichern müsse gegen ihre eigenen Abgeordneten und Beamten“ usw. (S. 12) Wo steckt in diesem Gedankengang der geringste Widerspruch zu dem Satze: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum.“ Man muss schon selbst in den stärksten Widerspruch zum marxistischen Standpunkt geraten sein, um da einen Widerspruch hineinzulesen.

Aber freilich, später weiß Bernstein noch andere Widersprüche aufzuweisen. Woher kommen sie? Wie ist es zu erklären, dass zwei so scharfe logische Denker sich so verrennen konnten? Die Schuld daran trägt die Hegelsche Dialektik. Sie ist die Erbsünde des Marxismus.

Hätte Engels die nötige Revision der Theorie selbst vorgenommen, dann „hätte er unbedingt, wenn nicht ausdrücklich, so doch in der Sache, mit der Hegeldialektik abrechnen müssen. Sie ist das Verräterische in der Marxschen Doktrin, der Fallstrick, der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liegt“ (S. 26). „Die logischen Purzelbäume des Hegelianismus schillern radikal und geistreich. Wie das Irrlicht zeigt er uns in unbestimmten Umrissen jenseitige Prospekte. Sobald wir aber im Vertrauen auf ihn unsere Wege wählen, werden wir regelmäßig im Sumpfe landen. Was Marx und Engels Großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der Hegelschen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet“. (S. 36)

Was bleibt aber vom Marxismus übrig, wenn man ihm die Dialektik nimmt, die sein „bestes Arbeitsmittel“ und „seine schärfste Waffe“ war? (Engels, Feuerbach, S. 45) War nicht das Denken von Marx und Engels durch und durch dialektisch?

Schon 1875 schrieb Dühring in seiner Kritischen Geschichte vom ersten Bande des Marxschen Kapital:

„Es ist bei dem Mangel an natürlicher und verständlicher Logik, durch welchen sich die dialektisch krausen Verschlingungen und Vorstellungsarabesken auszeichnen, wirklich nicht abzusehen, was, menschlich und deutsch geredet, eigentlich in den zwei Bänden noch folgen soll. Schon auf den bereits vorhandenen Teil muss man das Prinzip anwenden, dass in einer gewissen Hinsicht und auch überhaupt nach einem bekannten philosophischen Vorurteil alles in jedem und jedes in allem zu suchen und dass dieser Misch- und Missvorstellung zufolge schließlich alles eins sei.“ (2. Auflage, S. 496)

Das ist so ziemlich dasselbe, was Bernstein sagt, der ja auch behauptet, aus Marx und Engels könne man alles beweisen. Nur besteht zwischen Bernstein und Dühring der Unterschied, dass dieser keineswegs wähnte, durch seine Kritik „die Fortentwicklung und Ausbildung der marxistischen Lehre“ zu bewirken und dahin zu gelangen, „dass es schließlich doch Marx ist, der gegen Marx Recht behält“.

Doch lassen wir einstweilen Marx beiseite und wenden wir uns der „Abrechnung“ mit der verräterischen Dialektik zu.

Was ist denn eigentlich dies unmoralische Ding, das uns da Fallstricke legt und unsere Tugend gefährdet? Nichts anderes, als die Auffassung, „dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem Kopfe, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt“. (Engels, Feuerbach, S. 46) Die Triebkraft aller Entwicklung ist aber der Kampf der Gegensätze.

Erklärt Bernstein diese Auffassung oder die besonderen Formen, die sie bei Hegel bzw. Marx und Engels gefunden, für falsch? Er will die Revision der Theorie vornehmen, die Engels versäumt, er erklärt als deren Voraussetzung die Abrechnung mit der Dialektik, wütet gegen diese – sagt uns aber in seiner Schrift kein Sterbenswörtchen darüber, worin nach seiner Auffassung ihr Irrtum besteht.

Er erklärt sie bloß für sehr gefährlich, weil sie leicht unsinnig angewandt werden kann.

Für unsere Zwecke genügt es, auf diese Auffassung Bernsteins hinzuweisen. Auf jeden Fall gestattet auch sie uns, ja macht es zeitweise notwendig, dialektisch zu denken – oder besser gesagt, gestattet sie Nichtsozialdemokraten, dialektisch zu denken. Ob sie es auch Sozialdemokraten gestattet, das ist die Frage.

Das dialektische Denken, sagt Bernstein, ist sehr schön und gut dort, wo es nicht irgendeiner „Liebhaberei“ zu dienen hat, die uns zu „willkürlichem Konstruieren“ verleitet. Da wird die Dialektik zur Gefahr

Sehr richtig, nur ist nicht einzusehen, warum gerade das dialektische Denken dabei gefährlicher sein soll, als das Denken überhaupt. Oder sollte es eine Begründung dieses Satzes sein, wenn Bernstein schreibt:

„Keine Untersuchungs- und Darstellungsmethode bietet sich so leicht zu solchen Konstruktionen, keine leiht ihnen so willig ein plausibles Gewand wie die Dialektik, und darum ist keine so gefährlich. Denn die wenigsten, die sie anwenden, befolgen dabei die Regeln, die Hegel selbst für sie vorschrieb.“

Sollte es wirklich ein Naturgesetz gerade der Hegelschen Dialektik sein, dass sie in regelwidriger Weise angewandt wird? Wenn das aber nicht der Fall, dann ist die regelwidrige Anwendung ein Fehler nicht Hegels, sondern der betreffenden Dialektiker, in unserem Falle also Marx und Engels. Und in der Tat verwandelt sich die Anklage gegen die Fallstricke der Hegelschen Dialektik bei der Abrechnung in eine Anklage gegen die Marxsche Methode und ihr reifstes und glänzendstes Produkt, das Kapital.

Ich hatte Bernstein gegenüber bemerkt:

„Wer über das Gebiet der Wirklichkeit hinaus in Konstruktionen macht, wird immer im Sumpfe landen, mag er die Dialektik anwenden oder auf Kant zurückgehen. Ist aber Marx der Gefahr ‚willkürlicher Konstruktion‘ unterlegen? Dühring hat das schon behauptet in Bezug auf den Paragraphen von der geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation im Kapital: ‚Die Hegelsche Negation der Negation muss hier in Ermangelung besserer und klarerer Mittel den Hebammendienst leisten, durch welchen die Zukunft aus dem Schoße der Vergangenheit entbunden wird.‘ Darauf erwiderte Engels in seinem Anti-Dühring: ‚Indem Marx den Vorgang als Negation der Negation bezeichnet, denkt er nicht daran, ihn dadurch beweisen zu wollen als einen geschichtlich notwendigen. Im Gegenteil. Nachdem er geschichtlich bewiesen hat, dass der Vorgang sich in der Tat teils ereignet hat, teils noch sich ereignen muss, bezeichnet er ihn zudem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz vollzieht. Das ist alles.‘

„Marx selbst erklärte in seinem Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital: ‚Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffes ideell wieder, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.‘

„Wenn Bernstein also meint, bei Anwendung der Hegelschen Dialektik lauft man Gefahr, willkürlich zu konstruieren, so sehen wir hier, dass man bei Marx, wenn man sich an Äußerlichkeiten hält, leicht Gefahr läuft, für Konstruktion a priori zu halten, was das Produkt tiefen Eindringens in die Wirklichkeit.“

Dem entgegnet Bernstein:

„Darauf wird man wohl, bei aller Hochachtung vor Marx, antworten dürfen, dass die Behauptung und selbst der Glaube eines Schriftstellers, dass er nach diesen oder jenen Grundsätzen gearbeitet habe, noch kein Beweis für die faktische, konsequente Innehaltung dieser Grundsätze ist. Am allerwenigsten, wenn es sich um ein Werk handelt, das in so hohem Grade Tendenzwerk ist, wie das Kapital. Sicher enthält dies Werk eine ungeheure Fülle objektiven Wissensstoffes und ist es das Produkt tiefen Eindringens in die Wirklichkeit. Aber als Buch, in seiner Zusammenstellung, ist es nicht bloß objektive Darstellung von gesammeltem und untersuchtem Detail, da ist es eine Kampf-, wenn man will, eine Streitschrift ...

„Soviel ist jedenfalls klar, dass z. B. zwischen den Kapiteln in Marx’ Hauptwerk, die den Entwicklungsgang von der handwerksmäßigen zur kapitalistischen Produktion schildern, und dem Abschnitt Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation nicht nur jener Unterschied besteht, der sich naturgemäß daraus ergibt, dass die ersteren einen wirklichen Vorgang schildern, der letztere eine Perspektive entwirft. Vielmehr besteht zwischen ihnen auch der Unterschied, dass in dem einen Falle die dialektische Methode bloß Hilfsmittel der Untersuchung faktischer Tatsachen ist, wobei diesen selbst, soweit die Entwicklung der Dinge in Betracht kommt, nirgends Gewalt angetan wird, in dem anderen aber von den Tatsachen ein ungenügendes, einseitig zugespitztes Bild gegeben wird, um sie in das vorher dialektisch konstruierte Schema einzupassen. Diejenigen, die das bestreiten, seien darauf verwiesen, dass das genannte Schema keinen Gedanken enthält, der sich nicht schon im Kommunistischen Manifest – ja, in der Heiligen Familie findet. Auch damit ist die Genealogie des Schemas nicht erschöpft, aber für den hier zu erörternden Punkt genügt es festzustellen, dass, wie ich es in meiner Schrift bezeichnet habe, das Kapital in eine These ausläuft, die lange fertig war, bevor Marx an die Untersuchung herantrat.“

Hier folgt der schon oben zitierte Satz, dass keine Methode zu solchen Konstruktionen sich so leicht biete wie die Dialektik, und dass die wenigsten bei der Anwendung der letzteren die von Hegel vorgeschriebenen Regeln befolgen, und als Illustration dazu bringt Bernstein in einer Note folgendes Zitat aus Lassalles Vorrede zum System der erworbenen Rechte:

„So herrschte allen Ernstes bei den Hegelianern ein horror pleni, ein Grauen vor dem positiven Stoffe und seiner unnahbaren Fülle, während doch gerade nur aus dem konkreten Detail des Empirischen die Wahrheit erkannt werden und sie auch gerade nur in ihm die Schärfe ihres Beweises finden kann.“

Freilich, heißt es bei Lassalle weiter, ist die empirische Wissenschaft „ein weit schwerer zu erlangendes und auch weit unnachgiebigeres Element als der geschmeidige Äther allgemeiner Redensarten.“

Dies Zitat hätte Bernstein sich sparen können, denn in seinem Zusammenhang erweckt es den Eindruck einer ebenso unanständigen wie lächerliche Verdächtigung. Dass Bernstein eine solche vorbringen wollte, ist ausgeschlossen, dann aber erweist sich das Zitat als eine völlig gegenstandslose „allgemeine Redensart“.

Das Zitat hätte nur dann einen Zweck an dieser Stelle, wenn es auf Marx zu beziehen wäre, denn es handelt sich in dem ganzen Zusammenhang um das Kapital. Bernstein kann aber unmöglich behaupten wollen, dass bei Marx ein „horror pleni, ein Grauen vor dem positiven Stoffe“ herrscht und dass er der empirischen Wissenschaft den „geschmeidigen Äther allgemeiner Redensarten“ vorzog. Das kann er nicht behaupten wollen, schon deshalb nicht, weil er sich dadurch in den Augen eines jeden lächerlich machen würde, der auch nur eine Marxsche Schrift gelesen.

Meint er aber nicht Marx, dann ist das ganze Zitat sinnlos. Wenn Lassalle in seiner Vorrede von den „Hegelianern“ spricht, meint er nicht alle, die sich an Hegel gebildet, Marx und Engels ebenso wenig wie Feuerbach oder Bruno Bauer oder sich selbst, sondern er spricht von den Rechtsphilosophen unter den Hegelianern, die sich damit begnügten, die Hegelschen Sätze wiederzukäuen, statt die Wirklichkeit zu studieren. Es ist offenbar, dass das Lassallesche Zitat in seinem Zusammenhang zu dem Streitpunkt – ob Marx und Engels trotz der Hegelschen Dialektik oder mit ihrer Hilfe ihre großen Leistungen vollbrachten – passt wie die Faust aufs Auge.

Eingehender müssen wir die andere Behauptung Bernsteins behandeln: Marx habe die Methode, die ihm selbst als die beste erschien, nur anzuwenden geglaubt, nicht immer aber angewandt, denn sein Werk sei ein Tendenzwerk gewesen; es laufe in eine These aus, die schon lange fertig war, ehe Marx an seine Untersuchung heranging, und der Fehler der dialektischen Methode sei eben der, dass sie zur anscheinenden Begründung solcher Thesen sich leichter gebrauchen lasse als eine andere.

Wir sehen das Verräterische und Heimtückische der Hegelschen Dialektik immer mehr sich auflösen; was noch vor kurzem eine ins Verderben lockende Sirene, wird nun immer mehr zur unerfahrenen Unschuld, die verführt und missbraucht wird – von der Marxschen Tendenz. Nicht in der Dialektik, sondern in der Tendenz, die sich der Dialektik bedient, liegt im Grunde die Gefahr, sie ist das Verräterische und Verderbliche am Marxschen Buche. Was ist aber diese Tendenz anders als – der Sozialismus?

Diese Anschauung tritt scharf zu Tage im Schlusskapitel des Bernsteinschen Buches. Dort führt er aus:

„Für mich illustriert das Kapitel (über die Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation) einen Dualismus, der durch das ganze monumentale Marxsche Werk geht, und in weniger prägnanter Weise auch an anderen Stellen zum Ausdruck kommt. Einen Dualismus, der darin besteht, dass das Werk wissenschaftliche Untersuchung sein und doch eine, lange vor seiner Konzipierung fertige These beweisen will, dass ihm ein Schema zu Grunde liegt, in dem das Resultat, zu dem hin die Entwicklung führen sollte, schon von vornhinein feststand. Das Zurückkommen auf das Kommunistische Manifest weist hier auf einen tatsächlichen Rest von Utopismus im Marxschen System hin. Marx hatte die Lösung der Utopisten im Wesentlichen akzeptiert, aber ihre Mittel und Beweise für unzulänglich erkannt. Er unternahm also deren Revision, und zwar mit dem Fleiße, der kritischen Schärfe und der Wahrheitsliebe des wissenschaftlichen Genies. Er verschwieg keine wichtige Tatsache, er unterließ es auch, solange der Gegenstand der Untersuchung keine unmittelbare Beziehung zum Endziel des Beweisschemas hatte, die Tragweite dieser Tatsachen gewaltsam zu verkleinern. Bis dahin bleibt sein Wert von jeder, der Wissenschaftlichkeit notwendig Abbruch tuenden Tendenz frei. Denn die allgemeine Sympathie mit den Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Klasse steht an sich der Wissenschaftlichkeit nicht im Wege. Aber wie sich Marx solchen Punkten nähert, wo jenes Endziel ernsthaft in Frage kommt, da wird er unsicher und unzuverlässig, da kommt es zu solchen Widersprüchen, wie sie in der vorliegenden Schrift u. a. im Abschnitt über die Einkommensbewegung in der modernen Gesellschaft aufgezeigt wurden, da zeigt es sich, dass dieser große wissenschaftliche Geist doch schließlich Gefangener einer Doktrin war. Er hat, um es bildlich auszudrücken, im Rahmen eines vorgefundenen Gerüsts ein mächtiges Gebäude aufgerichtet, bei dessen Aufbau er sich solange streng an die Gesetze der wissenschaftlichen Baukunst hielt, solange sie nicht mit den Bedingungen kollidierten, die ihm die Konstruktion des Gerüsts vorschrieb, sie aber vernachlässigte oder umging, wo das Gerüst zu eng war, um ihre Beobachtung zu erlauben. Statt da, wo es dem Bau Schranken setzte, kraft deren dieser es nicht zum Freistehen bringen konnte, das Gerüst selbst zu zertrümmern, änderte er am Bau selbst auf Kosten der Proportion herum, und brachte ihn so erst recht in Abhängigkeit vom Gerüst. War es das Bewusstsein dieses irrationellen Verhältnisses, das ihn von der Fertigstellung des Wertes immer wieder zu Verbesserungen an Einzelteilen gehen ließ? Wie dem auch sei, meine Überzeugung ist, dass, wo immer jener Dualismus sich zeigt, das Gerüst fallen muss, wenn das Gebäude zu seinem Rechte kommen soll. Im Letzteren und nicht im Ersteren liegt das, was Wert ist, von Marx fortzuleben.“ (Voraussetzungen etc., S. 177, 178.)

Hier tritt es deutlich zu Tage, dass nicht die Dialektik der Fallstrick ist, „der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liegt“, sondern „die Lösung der Utopisten“. Marx ist wissenschaftlich dort, wo nicht das „Endziel ernsthaft in Frage kommt“. „Denn die allgemeine Sympathie mit den Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Klasse“, wie sie jeder Kathedersozialist aufbringt, „steht an sich der Wissenschaftlichkeit nicht im Wege“. Aber wo das Endziel in Frage kommt, da wird Marx „unsicher und unzuverlässig“. Was Wert ist, von den Marxschen Leistungen fortzuleben, das sind seine Einzelbeobachtungen über die Arbeitsteilung, das Maschinenwesen, das Geldwesen u.dgl. Soll dies Gebäude zu seinem Rechte kommen, dann muss das Gerüst fallen, „die Lösung der Utopisten“, die vor der Konzipierung des Werkes „fertige These“.

Das sagen, mit etwas anderen Worten, die Herren Julius Wolf und Konsorten auch, und ich muss gestehen, wenn man die Anklage so formuliert, so steckt darin immer noch mehr Sinn, als wenn sie gegen die Dialektik erhoben wird.

Es ist gar nicht daran zu zweifeln, dass das Kapital noch unbefangener und wissenschaftlicher ausgefallen wäre, wenn der Verfasser mit seinem Genie, seiner Gründlichkeit, seiner Wahrheitsliebe die schöne Eigenschaft verbunden hätte, über allen Klassenkämpfen und Klassengegensätzen zu stehen, ohne seine enge Fühlung mit der ökonomischen Wirklichkeit aufzugeben. Den Wunsch nach einem solchen Forscher kann man wohl aussprechen, aber er muss in einer so sehr von Klassengegensätzen zerrissenen Gesellschaft ein frommer Wunsch bleiben.

Die Kraft der wissenschaftlichen Forschung ist eine so gewaltige, dass sie den Erforscher sozialer Verhältnisse unter Umständen über den überkommenen Standpunkt der eigenen Klasse erheben kann. Das war ja auch bei Marx und Engels der Fall. Aber die Ergebnisse der ökonomischen Forschung greifen so tief in die vitalsten Interessen der einzelnen gegensätzlichen Klassen ein, dass der Forscher, je tiefer er sich in das Studium der Wirklichkeit versenkt, je schärfer er sie erfasst, je leidenschaftlicher sein Drang nach Wahrheit, um so weniger gleichgültig bleiben kann in den großen Kämpfen, die unsere Gesellschaft durchtoben, dass er um so eher Partei ergreifen muss, was natürlich nicht notwendigerweise gleichbedeutend ist mit dem Anschluss an eine der bestehenden politischen Parteien. Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie heißt Forscher sein auch Kämpfer sein, wenn der Forscher nur einigermaßen ein Mann ist und kein Kastrat. Und selbst die Kastraten müssen auf diesem Gebiet mitkämpfen, freilich nicht immer für die eigene Überzeugung und nur dort, wo sie einer machtvollen Rückendeckung sicher sind.

Wollte Bernstein sagen, dass die Vereinigung der sozialen Forschung mit sozialem Kampf einer der Nachteile ist, mit denen die ökonomische Wissenschaft gegenüber der Naturforschung behaftet ist, so müsste man ihm zustimmen. Aber dann wäre es sonderbar, dass er diesen Nachteil nur bei Marx entdeckt. In diesem Sinne ist jedes ökonomische Werk ein „Tendenzwerk“; auch die Schriften etwa von Adam Smith und Ricardo.

Aber Bernstein hat offenbar etwas anderes im Auge, wenn er dem Kapital vorwirft, es sei ein Tendenzwerk, das eine These beweisen soll, „die lange fertig war, bevor Marx an die Untersuchung herantrat“, dass es also in wesentlichen Punkten nicht eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern eine advokatorische Leistung ist, die nicht das Recht ihres Klienten prüft, sondern dem Klienten zum Siege verhelfen will um jeden Preis.

Bernstein scheint nicht zu merken, dass dies der schwerste Vorwurf ist, den man gegen ein wissenschaftliches Werk überhaupt erheben kann. Nachdem er seine bisherigen Kameraden deswegen zu Apologeten und Fabulisten degradiert hat, weil sie fortfahren, dieselbe Sache zu vertreten, für die er mit ihnen zwei Jahrzehnte lang Schulter an Schulter gekämpft, kommt er nun dazu, auch seine Meister, als deren dankbarer Schüler er sich fühlt, in die Reihe der Apologeten und Rabulisten zu verweisen.

Nun, die Wahrheit über alles, und wenn das Bernsteins Überzeugung ist, hat niemand ein Recht, ihm ihr Aussprechen vorzuwerfen. Aber wir sind Fabulisten genug, für eine derartige Behauptung auch einen Beweis zu verlangen und uns diesen Beweis näher anzusehen.

Bernstein erklärt, in dem Kapitel über die Tendenz der kapitalistischen Akkumulation werde den Tatsachen Gewalt angetan, um sie in ein vorher dialektisch konstruiertes Schema einzupassen. „Diejenigen, die das bestreiten, seien darauf verwiesen, dass das genannte Schema keinen Gedanken enthält, der sich nicht schon im Kommunistischen Manifest – ja in der Heiligen Familie findet“. Da haben wir die These, die lange fertig war, ehe Marx an „die Untersuchung“ herantrat.

An welche Untersuchung? Das ist die Frage. Will Bernstein behaupten, Marx sei zu seiner These ohne jede Untersuchung gekommen, er habe sie rein dialektisch aus den Begriffen konstruiert, es habe dazu genügt, die Formel der Negation der Negation auswendig gelernt zu haben?

Oder will Bernstein behaupten, Marx habe seine „These“ von anderen formuliert vorgefunden und unbesehen übernommen? Wir können nicht annehmen, dass Bernstein die eine oder die andere Behauptung hätte aufstellen wollen, es wäre jede gleich lächerlich. Dann bleibt aber nur die Annahme übrig, dass Marx zu seiner These auf keinem anderen Wege kam, als auf dem wissenschaftlicher Untersuchung.

Marx war schon lange Hegelianer, er spielte schon eine Rolle als Politiker, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was Bernstein sein dialektisch konstruiertes Schema nennt. Wie er zu seinen politisch-ökonomischen Anschauungen kam, beschrieb er selbst in dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie:

„Mein Fachstudium war das der Jurisprudenz, die ich jedoch nur als untergeordnete Disziplin neben Philosophie und Geschichte betrieb. Im Jahre 1842 bis 1843, als Redakteur der Rheinischen Zeitung, kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen ... Anderseits hatte zu jener Zeit, wo der gute Wille, ‚weiter zu gehen’, Sachkenntnis vielfach aufwog, ein schwach philosophisch gefärbtes Echo des französischen Sozialismus und Kommunismus sich in der Rheinischen Zeitung hörbar gemacht. Ich erklärte mich gegen diese Stümperei, erklärte aber zugleich in meiner Kontroverse mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung rund heraus, dass meine bisherigen Studien mir nicht erlaubten, irgendein Urteil über den Inhalt der französischen Richtungen selbst zu wagen. Ich ergriff vielmehr begierig die Illusion der Geranten der Rheinischen Zeitung, die durch schwächere Haltung das über es gefällte Todesurteil rückgängig machen zu können glaubten, um mich von der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehen.“

Das sieht ja sehr nach einer These aus, die fertig war, lange bevor die Untersuchung begann.

Marx begab sich zunächst nach Paris, dann, nach seiner Ausweisung von dort, nach Brüssel. An der Quelle studierte er die verschiedenen Richtungen des französischen Sozialismus, dann auch den englischen und die politische Autonomie, im Verein mit Engels, der ihm das Verständnis der englischen Verhältnisse vermittelte. Aus allen diesen Studien und nicht aus irgendeiner dialektischen Konstruktion erwuchs den beiden allmählich jene Anschauung, die ihren ersten zusammenfassenden Ausdruck im Kommunistischen Manifest fand.

Anderen Leuten hätte diese Grundlegung genügt; nicht so Marx und Engels. Die Revolution unterbrach ihre Studien. Marx nahm die seinen in London 1850 wieder auf, wie er in der schon oben (S. 8) zitierten Vorrede weiter mitteilt. Auch seine Erwerbstätigkeit als Mitarbeiter an der New York Tribune zwang ihn, die ökonomische Entwicklung Englands und des Kontinents zu studieren.

„Diese Skizze über den Gang meiner Studien im Gebiet der politischen Ökonomie soll nur beweisen, dass meine Absichten, wie man sie immer beurteilen mag und wie wenig sie mit den interessierten Vorurteilen der herrschenden Klassen übereinstimmen, das Ergebnis gewissenhafter und langjähriger Forschung sind.“

Hier sehen wir deutlich, welche Bewandtnis es mit „der Untersuchung“ hat, an die Marx erst herantrat, lange nachdem seine These schon fertig war. Tatsächlich haben wir es nicht mit einer Untersuchung zu tun, sondern mit zweien. Die erste endigte mit dem Kommunistischen Manifest. Damit hielt Marx seine These so wenig für fertig, dass er nach der Revolution nochmals mit neuem Material „von vorne anfing“. Er kam dabei im Wesentlichen zu demselben Resultat, wie das erste Mal. Diese Wiederholung der Untersuchung muss für jeden Unbefangenen von seltener und unübertroffener Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit zeugen. Bernstein dagegen streicht ganz einfach die erste Untersuchung aus der Geschichte, er spricht nur von jener Untersuchung, die zum Kapital führte und da diese zu demselben Resultat kommt, wie das Kommunistische Manifest, so hat er damit den Beweis dafür, dass dieses Resultat eine vor „der“ Untersuchung fertige These war, zu deren Stützung die Tatsachen der Wirklichkeit zurechtgehobelt wurden. Selten noch hat man sich für eine so schwere Beschuldigung den Beweis leichter gemacht. Wenn ein Rechner eine Aufgabe zweimal nach einander ausrechnet und jedesmal zu dem gleichen Resultat kommt, so kann man ihm auch nach Bernsteinscher Logik vorwerfen, er habe sich das Ergebnis willkürlich konstruiert, lange bevor er an seine Rechnung ging, und diese dann so eingerichtet, dass das gewünschte Resultat herauskommen musste. Man braucht nur ebenso die zweite Rechnung als „die“ Rechnung zu bezeichnen, wie Bernstein die zweite Untersuchung als „die“ Untersuchung bezeichnet.

Um auf diese famose Manier den Marxismus zu reinigen und auf eine höhere Stufe zu erheben, war es aber notwendig, nicht nur, dass Bernstein von den Forschungen „abstrahierte“, die zum Kommunistischen Manifest führten, sondern auch, dass er nicht näher angab, welches die These sei, die so lange vor der Untersuchung schon fertig gewesen.

Mit dieser These kann kaum etwas anderes gemeint sein, als der Satz, dass die kapitalistische Produktionsweise selbst die Mittel ihrer eigenen Überwindung erzeuge durch die Konzentration des Kapitals, das Wachstum der Masse und Kampffähigkeit des Proletariats und die Verschärfung des Gegensatzes zwischen den beiden Elementen. Diese These lässt sich allerdings von der Heiligen Familie an durch alle grundlegenden Schriften von Marx und Engels verfolgen, sie liegt den modernen sozialistischen Programmen zu Grunde; sie ist das, was den Marxismus als sozialistische Theorie charakterisiert. Man braucht aber diese „These“ nur zu nennen, um sofort zu erkennen, dass es ein Unding ist, sie für ein aus hegelianischen Begriffen konstruiertes Schema zu erklären. Man mag sie für falsch halten – damit haben wir es hier noch nicht zu tun, wo es sich um die Methode, nicht um die Resultate handelt. Aber niemand wird es für möglich halten, dass man zu einem solchen Satze auf anderem Wege als durch Erforschung der tatsächlichen Verhältnisse, durch Eindringen in „das konkrete Detail des Empirischen“ gelangen kann. Am Ende wird Bernstein auch noch erklären, Engels’ Lage der arbeitenden Klassen in England, die 1845 erschien, sei ein Produkt dialektischer Konstruktion. Tatsächlich gewährt diese Schrift einen vortrefflichen Einblick in das Gedankenleben, dem jene These entspross, die Marx nach Bernstein ins Blaue hinein konstruiert hat, um es zu seiner Lebensaufgabe zu machen, hinterdrein nach Argumenten für sie herum zu suchen.

Sollte aber Bernstein mit der Marxschen „These“ etwas anderes meinen, als den fraglichen Satz? Er spricht auch davon, Marx habe die „Lösung der Utopisten“ im Wesentlichen akzeptiert, aber ihre Begründung unzureichend gefunden, sich daher daran gemacht, bessere Argumente für dies „Beweisschema“ herbeizuholen. Dies vorgefundene Schema wird bei Bernstein mit dem dialektisch konstruierten durcheinandergeworfen, ist aber etwas von diesem Verschiedenes, schon deswegen, weil die Utopisten keine Hegelianer waren, aber noch vielmehr deswegen, weil wir bei Marx wie bei Engels vergeblich nach dieser Lösung suchen. Bernstein schreibt von einer „Lösung der Utopisten“.

Aber die Utopisten hatten nicht eine Lösung, sondern jeder eine andere. Jeder der Vorgänger von Marx und Engels hatte seine besondere Lösung, Louis Blanc und Proudhon ebenso wie Cabet oder Weitling. Der Marxismus dagegen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er keine fertige Lösung hat. Und gerade das haben Marx und Engels von Anfang an verkündet, sobald sie zu einem festen Standpunkt gelangt waren. Schon in der Heiligen Familie erklärten sie:

„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen, bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“

Von diesem Standpunkt ausgehend haben Marx und Engels es stets abgelehnt, Rezepte für die Garküche der Zukunft zu verfertigen. Ihre praktischen Forderungen lassen sich in den Satz zusammenfassen: Organisierung und Schulung des Proletariats zum Zwecke der Eroberung der Machtmittel der kapitalistischen Gesellschaft. Wo steckt da die „Lösung der Utopisten?“ Bei der Erforschung des Zieles, das sich aus der Lebenssituation des Proletariats und der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft ergibt, kamen sie gewiss vielfach zu Resultaten, die sich mit manchen Idealen der Utopisten begegneten, gewiss haben sie von ihren Vorgängern gelernt, gerade deswegen gelernt, weil sie ihre These nicht dialektisch aus den Begriffen konstruierten, sondern aus dem Studium der Wirklichkeit und jener Anschauungen gewannen, welche die größten Geister ihrer Zeit von der Wirklichkeit hegten. Aber nie hatten sie eine fertige „Lösung“ in der Tasche und stets verfochten sie eine Anschauung, die eine solche geradezu ausschloss.

Und was für die Meister gilt, gilt auch für die Schüler. Wenn es eine Lehre gibt, die das Schwören auf die Worte des Meisters ausschließt, ist es die Marxsche. Ihre dialektisch-materialistische Geschichtsauffassung lehrt uns, die Gesellschaft nicht als fertiges Ding, sondern als einen Komplex von Prozessen betrachten, die sich mit Notwendigkeit nach bestimmten Gesetzen vollziehen. Sie lehrt uns, in der Ökonomie den letzten Grund unserer neuen gesellschaftlichen Ideen suchen, in ihr die Triebkraft unserer Bewegung, die Bedingungen, aber auch die Grenzen unserer Erfolge erforschen. Von diesem Standpunkt aus kann nichts törichter sein, als die jeweiligen Aufgaben der sozialistischen Bewegung aus den Begriffen konstruieren zu wollen. Keine Lehre verlangt mehr das „Eindringen in das konkrete Detail des Empirischen“, als gerade die Marxsche, keine erkennt weniger endgültige Wahrheiten an als sie.

Man wirft den Marxisten gern vor, sie bildeten eine Kirche, die nichts anderes zu tun wisse, als ihr Evangelium zu kommentieren. Erst jüngst wieder hat Herr Dr. Schitlowsky diesen Vorwurf erhoben in einem Artikel, in dem er die philosophischen Anschauungen von Marx und Engels – kommentiert. In dieser letzteren Tatsache haben wir den Grund, warum ein so großer Teil unserer Arbeitskraft durch das Kommentieren unserer Meister absorbiert wird: Wir wüssten auch Besseres zu tun, aber gegenüber den unzähligen Angriffen, Missverständnissen und Verdrehungen unserer Gegner müssen wir doch wenigstens hie und da uns zu einer Richtigstellung verstehen. Man vergleiche die Flut von Marxkommentaren, die von gegnerischer Seite auf den Bücher- und Zeitschriftenmarkt geschleudert werden, mit der geringen Zahl der Erwiderungen von marxistischer Seite, und man wird finden, dass die Kommentare der „Kirche“ relativ einen äußerst bescheidenen Raum einnehmen. Aber die Zahl der Sozialdemokraten, die Gelegenheit haben, sich der Theorie zu widmen, ist gering, dagegen ist die Zahl der Studenten, Doktoren, Privatdozenten, Professoren Legion, die den Beruf oder den inneren Drang in sich fühlen und Zeit und Mittel im Überfluss zur Verfügung haben, um in Marxvernichtung zu machen. Da kommt bei aller Zurückhaltung auf jeden Einzelnen von uns immer noch mehr Arbeit der Abwehr, oder wie Herr Schitlowsky sagt, der Kommentierung, als uns lieb ist. Auch dies ist einer der Gründe, die Zeit und Gelegenheit der Marxisten zur Fortentwicklung der Theorie beengen.

Bisher hat Bernstein uns bei dieser Tätigkeit geholfen. Nun hat er sich dem großen Schwarm derjenigen zugesellt, die uns zwingen, unsere Zeit damit totzuschlagen, dass wir zum x-ten Male auseinandersetzen, was Marx eigentlich gesagt und gewollt hat, und er hat leider auch schon die schlechten Manieren dieser Leute angenommen, die, demütig an die Brust klopfend, Gott danken, dass sie nicht sind wie jene Marxisten, die Apologeten und Rabulisten, die da nur die Worte des Meisters zu wiederholen wissen und ihre Thesen lange fertig in der Tasche haben, ehe sie an die wissenschaftliche Untersuchung gehen.

Das ist, bei Lichte besehen, der ganze Kern von Bernsteins Kritik der Dialektik.
 

c) Der Wert

Nach der Philosophie die Ökonomie. Deren Schlüssel ist die Werttheorie, mit ihr beschäftigt sich auch Bernstein. Hier war jene „zaghafte, schwerfällige Form der ersten Kapitel“, deren er sich selbst anklagt, am wenigsten am Platze. Auf diesem so schwierigen und so wichtigen Gebiet gilt es vorallem klar und entschieden zu sein und nicht den mindesten Zweifel aufkommen zu lassen.

Daran hat es Bernstein hier leider sehr fehlen lassen. Seine Schrift hat die Aufgabe, seine jüngsten, so vielen Missverständnissen ausgesetzten Anschauungen unzweideutig zum Ausdruck zu bringen. Was er uns aber über die Werttheorie gibt, ist ein Referat über die Marxsche Werttheorie, unter Beifügung gelegentlicher Bedenken, aber ohne irgendwie erkennen zu lassen, welches sein eigener Standpunkt in der Frage. Das Dunkel wird vermehrt dadurch, dass er der Marxschen Theorie die Grenznutzentheorie als ebenbürtig gegenüber stellt, aber auch, ohne sich entschieden über sie auszusprechen. Der Marxsche Wert ist ihm „eine rein gedankliche Tatsache, nicht anders wie der Grenznutzenwert der Gossen-Jevons-Böhmschen Schule“. „Von Hause aus ist es Marx ebenso erlaubt, von den Eigenschaften der Ware soweit abzusehen, dass sie schließlich nur noch Verkörperungen von Mengen einfacher menschlicher Arbeit bleiben, wie es der Böhm-Jevonsschen Schule freisteht, von allen Eigenschaften der Waren außer ihrer Nützlichkeit zu abstrahieren.“ Dann zitiert er einen Satz aus dem Kapital, der „allein es unmöglich macht, sich über die Gossen-Böhmsche Theorie mit einigen überlegenen Redensarten hinwegzusetzen“. In einer Note aber weist Bernstein auf eine dritte Werttheorie hin, die des Herrn v. Buch, die uns nicht näher bekannt geworden ist, und erklärt sie für „das Produkt nicht geringer Schärfe der Analyse und einen bemerkenswerten Beitrag zu einem keineswegs völlig aufgeklärten Problem“.

Aus alledem aber ergibt sich als völlig unaufgeklärtes Problem die Bernsteinsche Werttheorie. Wir erfahren nicht, welche es ist, die Marxsche, die Jevonische, die Buchsche, oder eine eigene, die Synthese der drei genannten. Das Problem bleibt in dem Buche Bernsteins ungelöst.

Meine Kritik erwiderte er mit einem Artikel in der Neuen Zeit (Arbeitswert oder Nutzwert, XVII, 2, S. 548 ff.), in dem er mir nicht weniger vorwirft, als ich verstände ihn nicht oder wolle ihn nicht verstehen. Dergleichen Insinuationen gehören zu den Schönheiten Bernsteinscher Polemik. Er hält es für unmöglich, dass die Schuld an dem Nichtverstehen auf seiner Seite liegen könne. Die Sache ist doch so einfach und handgreiflich:

„Peter und Paul stehen vor einem Mineralienkasten. ‚Das hier sind parallelflächig-hemiëdrische Kristalle’, sagt Peter. ‚Es ist Schwefelkies’, sagt Paul.

„Wer von beiden hat Recht?

„‚Beide haben Recht’, antwortet der Mineraloge. ‚Was Peter sagt, bezieht sich auf die Form, Pauls Bemerkung auf die Substanz’.

„Die Richtigkeit der Entscheidung leuchtet in diesem Falle sofort ein, weil wir es mit einem konkreten Gegenstand zu tun haben, wo die Unterscheidung von Form und Substanz eine einfache Sache ist. Zwischen normal veranlagten Menschen kann ein Streit darüber, ob das Material zu einer Decke aus Wolle oder Plüsch besteht, nicht stattfinden, sondern nur darüber, ob das Material Wolle oder nicht, das Gewebe Plüsch oder nicht sei. Nun kann es aber zwei ganz vernünftigen Leuten einfallen, darüber zu streiten, welches für das besagte Stück Stoff die charakteristische Eigenschaft sei, das Material, aus dem es besteht oder die Fabrikation, in der es sich darstellt. Und da sie die Sache gründlich betreiben, konnten sie schließlich dahin gelangen, dass der Eine auf die Fasereigenschaft des Wollstoffs, der andere auf die Gewebseigenschaft des Plüschfabrikats zurückgreift und der Streit sich prinzipiell nur noch um die Frage dreht, ob die Fasersubstanz oder das Webprodukt den Charakter bestimmt.

„Das ist, auf ein anderes Gebiet übertragen, der Streit um den Wert, wie er seit Generationen in der politischen Autonomie tobt. Die Gegensätze: Faserstoff – Webprodukt heißen da: Arbeitswert – Nützlichkeit. Und wie unsere beiden theoretisierenden Freunde sehr gut wissen, dass man ohne Faserstoff nicht weben kann und dass die unverarbeitete ununterschiedene Faser im Leben keine richtige Decke abgibt, so wissen die Ökonomen beider Lager sehr gut, dass der ökonomische Wert eines Gegenstandes, dessen Beschaffung keine Arbeit kostet, null ist, ob seine Nützlichkeit noch so groß sei, und dass alle in ihn gesteckte Arbeit einem Gegenstand keinen Wert verleihen kann, so lange er keinerlei menschlichem Bedürfnis oder Verlangen entspricht.

„... Der ökonomische Wert hat ... einen zwieschlächtigen Charakter: er enthält das Moment der Nützlichkeit (Gebrauchswert, Bedarf) und das der Herstellungskosten (Arbeitswert).“

Beide Momente, meint Bernstein weiter, sind bestimmend für die Wertgröße. Um aber zur Kategorie des Mehrwerts gelangen zu können, unterstellte Marx, dass die Waren sich zu ihrem Arbeitswert veräußern und abstrahierte von dem anderen wertbestimmenden Faktor, der Nützlichkeit. Die Grenznutzentheoretiker machen es zu anderen Zwecken umgekehrt.

Je nach dem Zwecke der Untersuchung hat die eine oder die andere Art der Auffassung ihre Berechtigung.

Mit anderen Worten, die Marxsche Theorie ist richtig, aber ebenso auch die der Grenznutzentheoretiker; beide sind nur zwei Seiten derselben Sache, Man muss sich nur wundern, dass so außerordentlich scharfsinnige Leute, wie die Männer des Grenznutzens, noch nicht darauf gekommen sind. Dass Marx und seine Anhänger nicht merkten, wie der seit Generationen geführte Streit um den Wert in so einfacher Weise sich lösen lasse, ist weniger zu verwundern. Bei diesen verbohrten Köpfen ist Einseitigkeit selbstverständlich. Aber wie dem auch sei, nun hat Bernstein seine überraschende Entdeckung gemacht und nun muss für die Werttheorie eine neue Epoche anbrechen. Nur eine Kleinigkeit fehlt noch, Bernstein weist darauf hin, dass die Grenznutzentheorie „für gewisse Zwecke der Untersuchung in der Tat ihre Berechtigung“ hat, indes für andere Zwecke die Marxsche Theorie vorzuziehen ist. Leider hat er vergessen, zusagen, für welche Zwecke die eine, für welche die andere berechtigt ist. Und das beeinträchtigt einigermaßen den Wert seiner Entdeckung angesichts des Umstandes, dass die Theoretiker der einen wie die der anderen Richtung ihre Theorie unterschiedslos überall da anwenden, wo es einer Werttheorie eben bedarf. Es ist uns in der ganzen ökonomischen Literatur kein Fall bekannt, wo ein Forscher das eine Mal von der Marxschen und ein andermal, zu einem anderen Zwecke, von der Grenznutzentheorie ausginge oder ein solches Verfahren auch nur für möglich hielte. Wo und wie das möglich ist, das hätte uns doch Bernstein zeigen sollen.

Und auch die Moral seines Schwefelkieseksempels hätte er ziehen sollen: die Kristalle sind die Form, der Schwefelkies die Substanz des Körpers. Bildet nun die Nützlichkeit die Wertform und die Arbeit die Wertsubstanz oder umgekehrt?

Welches ist der Zweck, dem eine Werttheorie zu dienen hat? Dieser ist kein anderer als der, den Schlüssel zu bieten zum Verständnis unserer Produktionsweise.

Diese ist Warenproduktion, in ihr wird nicht direkt zum Verbrauch produziert, sondern zum Verkauf. Kaufen und Verkaufen sind die grundlegenden Vorgänge des heutigen ökonomischen Getriebes, wer es begreifen will, muss vorallem die Gesetze begreifen, nach denen Kaufen und Verkaufen vor sich gehen.

Wer den Markt beobachtet, findet leicht, dass trotz aller Schwankungen, welche der Wechsel von Zufuhr und Nachfrage hervorruft, dennoch der Preis jeder einzelnen Warengattung kein willkürlicher ist, sondern die Tendenz hat, einen bestimmten Höhepunkt einzunehmen Diese bestimmte Tendenz ist ihr Wert, sie kommt nur zur Erscheinung im Austausch oder Verkauf, als Tauschwert. Der Wert ist also keine „rein gedankliche Tatsache“, sondern eine Tatsache der Wirklichkeit, es gibt keinen Marxschen und keinen Jevonsschen Wert, sondern nur einen Warenwert, den man beobachtet und untersucht hat, lange bevor es einen Marx und Jevons gab.

Was „rein gedanklich“ und Marx, respektive Jevons eigentümlich ist, das ist nicht die Tatsache des Wertes, sondern die Theorie des Wertes, das heißt, der Versuch, herauszufinden, in welchem Zusammenhange diese anscheinend mystische Tatsache mit wohlbekannten Tatsachen des ökonomischen Lebens steht und sie so zu erklären.

„Von Hause aus“ ist es freilich Marx ebenso erlaubt, von allen Eigenschaften der Ware abzusehen, außer der, dass sie Verkörperungen menschlicher Arbeit sind, wie es Jevons freisteht, von allen ihren Eigenschaften außer ihrer Nützlichkeit zu abstrahieren, aber es handelt sich hier nicht darum, was „von Hause aus“, sondern was zu dem bestimmten Zwecke erlaubt ist, den Wert der Ware zu erforschen, der als ihr Tauschwert auftritt.

Dieser bestimmte Zweck hat gar nichts mit den weiteren Zwecken zu tun, die der Forscher an die Untersuchung der Werttheorie anknüpft. Wie immer diese ferneren Zwecke sich gestalten mögen, der Zweck der Werttheorie bleibt derselbe: Aufdeckung des Grundgesetzes, das den Prozess des Tauschens beziehungsweise Kaufens und Verkaufens reguliert.

Hat aber jede Werttheorie denselben Zweck, dann ist es absurd, anzunehmen, es könnten für verschiedene Untersuchungszwecke verschiedene Werttheorien nebeneinander als richtig gelten.

Bernstein verweist uns zur Erläuterung seines Standpunkts aus einen Artikel in der Neuen Zeit (XV, 1, S. 50 ff.), in dem er sich ausführlicher über die Grenznutzentheorie ausgesprochen. Aber was er dort sagt, stimmt nicht völlig mit seinem jetzigen Standpunkt. Dort erklärt er, dass für die Grenznutzentheorie „der Wert und der Preis ein und dasselbe sind“, also ist sie „keine Werttheorie, sondern eine Preistheorie“ ... Für Detailuntersuchungen hinsichtlich der Gesetze des Marktes kann der Begriff des Grenznutzens als eine „fruchtbare Bereicherung der ökonomischen Begriffe betrachtet werden“.

Das heißt nichts anderes, als dass Bernstein die Grenznutzentheorie für unfähig erklärt, als Werttheorie zu dienen. Aber auch als Preistheorie kann sie nur für Detailuntersuchungen nützliche Anregungen geben, denn wie ist eine umfassende Preistheorie ohne eine Werttheorie denkbar, die ihr Fundament bildet? Nur aus einer Werttheorie, nie aus einer Preistheorie kann zum Beispiel das Wesen des Geldes erklärt werden. Das bildet in der Tat einen der schwächsten Punkte der Grenznutzentheorie. Sie sieht sich außer Stande, die Funktion des Geldes als Maß der Werte zu erklären.

Heute spricht Bernstein von ihr als einer der Marxschen ebenbürtigen Werttheorie. Um das zu können, führt er ganz unvermerkt eine neue ökonomische Kategorie ein, den „ökonomischen Wert“. „Der ökonomische Wert“, sagt er, „hat einen zwieschlächtigen Charakter: er enthält das Moment der Nützlichkeit (Gebrauchswert, Bedarf) und das der Herstellungskosten (Arbeitswert).“

Der ökonomische Wert? Was ist das für eine Sorte von Wert?

Marx weist im Kapital auf den zwieschlächtigen Charakter der Ware hin, die gleichzeitig Gebrauchswert ist und Wert (Tauschwert), und auf den zwieschlächtigen Charakter der die Ware produzierenden Arbeit. Der zwieschlächtige Charakter des „ökonomischen Wertes“ findet in dieser Auffassung keinen Platz. Hat Bernstein also nicht seine eigene, uns noch verborgen gehaltene Theorie des ökonomischen Wertes, dann fällt es uns schwer, diesen irgendwo unterzubringen.

In seinem Buche hat Bernstein noch den zwieschlächtigen Charakter der Ware im Auge. In einer der im Eingang dieses Kapitels erwähnten Stellen spricht er davon, dass es Marx ebenso erlaubt sei, von allen anderen Eigenschaften der Ware, als ihrer Verkörperung von Arbeit abzusehen, wie den Grenznutzentheoretikern von allen, ausgenommen der Nützlichkeit. Jetzt sagt er dasselbe vom „ökonomischen Werte“, was er noch vor ein paar Monaten von der Ware gesagt. Sein Standpunkt gegenüber der Werttheorie erweist sich als sehr fruchtbar.

Sollte Bernstein ökonomischen Wert mit dem Tauschwert verwechseln? Es gibt Leute, die annehmen, dass der Tauschwert einer Ware abhänge von der in ihr steckenden Arbeit und von dem Grade ihrer Nützlichkeit. Meint das Bernstein mit seinem Salze über den zwieschlächtigen Charakter des ökonomischen Wertes? Aber was soll dann das Wort „Arbeitswert“? Die Bezeichnung „Arbeitswert“ kann nur besagen, dass der Wert einer Ware ausschließlich bestimmt wird durch die in ihr enthaltene Arbeit. Wer der Ansicht ist, dass der Wert nicht ausschließlich durch die Arbeit, sondern noch durch einen anderen Faktor, etwa die Nützlichkeit, bestimmt wird, kann von einem „Arbeitswert“ nicht reden. Will aber Bernstein sagen, der ökonomische Wert als Tauschwert sei gleichzeitig Gebrauchswert und ausschließlich durch die Arbeit bestimmter Tauschwert?

So klar und unzweideutig der zwieschlächtige Charakter der Ware ist, ebenso unklar und verworren ist der zwieschlächtige Charakter des „ökonomischen Wertes“. Dass mit einem derartigen Wertbegriff die Grenznutzentheorie ebenso vereinbar ist wie die Marxsche und noch ein halb Dutzend andere, will ich nicht bestreiten. In der Nacht dieses Begriffs sind alle Werttheorien gleich grau.

So bringt es denn auch Bernstein fertig, mit der Marxschen und der Böhm-Bawerkschen Werttheorie die des Herrn Leopold von Buch zu vereinbaren.

Bernstein hat in der Marxschen Werttheorie eine Lücke gefunden. Nach dieser Theorie ist es die zur Produktion einer Ware gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die ihre Wertgröße bestimmt. Aber es gibt verschiedene Arten von Arbeit. Jede derselben muss auf die gleiche Art Arbeit, einfache Arbeit, reduziert werden, soll das Quantum der einen mit dem der anderen vergleichbar sein. „Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so dass ein kleines Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit. Dass diese Reduktion beständig vorgeht, zeigt die Erfahrung ... Die verschiedenen Proportionen, worin verschiedene Arbeitsarten auf einfache Arbeit als ihre Maßeinheit reduziert sind, werden durch einen gesellschaftlichen Prozess hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt und scheinen ihnen daher durch das Herkommen gegeben. (Kapital, I, 4. Aufl., S. 11)

Welcher Art dieser gesellschaftliche Prozess, das hat Marx nicht näher erklärt. In der Kritik der politischen Ökonomie (2. Aufl., S. 6) bemerkt er: „Die Gesetze, die diese Reduktion regeln, gehören noch nicht hierher.“ Leider ist er nicht mehr dazu gekommen, diese Gesetze zu entwickeln, die er jedenfalls selbst schon erkannt hatte, sonst wiese er nicht auf sie hin. Hier ist also die Marxsche Theorie unvollständig. Darin müssen wir Bernstein zustimmen. Nicht aber der Art und Weise, wie er die Lücke auszufüllen sucht.

„Buch nun“, sagt er, „sucht den gordischen Knoten dadurch zu lösen, dass er streng die zwei Arten von Wert auseinanderhält, die bei Marx ineinander laufen: Wert schlechthin und relativer Wert. Die Erstere ist bei ihm der Arbeitswert, den er direkt durch Arbeitslohn und Arbeitszeit bestimmen lässt, indem er aus Grund der Physiologie den Begriff „der Grenzdichtigkeit der Arbeit“ bildet (je kürzer der Arbeitstag und je größer der Anteil des Arbeiters an seinem Produkt, um so höher die Grenzdichtigkeit der Arbeit). Durchaus verschieden von diesem Arbeitswert sei der Schätzungswert des Produkts, den es aus dem Markte hat oder erzielt. Beide müssen begrifflich streng auseinander gehalten werden. Nicht aus dem Arbeitswert, sondern aus dem Verhältnis; desselben zum Schätzungswert sei die Ausbeutung des Arbeiters zu ermitteln.

„Ich halte die Buchsche Theorie nicht für einwandsfrei, aber für einen, von scharfer Analyse zeugenden Schritt auf dem rechten Wege, die vorerwähnte Lücke zu überbrücken, und jedenfalls scheint es mir zweckmäßiger, mit zwei Wertbegriffen zu operieren, als einem und demselben Begriff eine Definition zu geben, die zwei einander neutralisierende Prinzipien einschließt, wie dies bei der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“ der Fall. Da mir von der Buchschen Arbeit erst der erste Teil vorliegt, vermag ich indes noch nicht, mich endgültig über sie zu äußern.“

Mir ist auch der erste Teil des Buchschen Buches nicht bekannt, aber Bernsteins Hinweise lassen ihn mir als nichts weniger denn einen „von scharfer Analyse zeugenden Schritt auf dem rechten Wege“ erkennen.

Dass der Wert „schlechthin“ und der „relative Wert“ bei Marx ineinander laufen, davon ist mir nichts bekannt. Der Wert „schlechthin“, der „Arbeitswert“, der „individuelle Wert“, wie Marx im 3. Bande ihn nennt, wird bei ihm streng auseinandergehalten vom Marktwert und dem Marktpreis (vergl. z. B. Kapital, III, 1, S. 157–158). Dagegen scheinen bei Herrn v. Buch manche Begriffe ganz sonderbar ineinanderzulaufen, wenn er den Wert durch den Arbeitslohn bestimmt werden lässt.

Der Wert ist eine ökonomische Kategorie, die bereits vor dem Auftreten der Lohnarbeit besteht. Man muss blind sein für den Unterschied zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion, man muss diese für die einzige Form der Warenproduktion halten, will man den Wert durch den Arbeitslohn bestimmen. Was wird dann aus dem Werte von Waren, die nicht durch Lohnarbeiter hergestellt worden sind, sondern etwa durch selbständige Handwerker? Was ist aber der Arbeitslohn anderes, als eine Summe von Warenwerten, die ausgetauscht werden gegen die gleichwertige Arbeitskraft? Zuerst wird also der Wert durch den Arbeitslohn bestimmt, und dann der Arbeitslohn durch den Wert!

Wird der Wert der Arbeitskraft auch durch den Arbeitslohn bestimmt?

Es ist sehr verdienstvoll, Lücken in einer Theorie herauszufinden, aber dies Verdienst wird in sein Gegenteil verwandelt, wenn man die Lücke in völlig verkehrter Weise auszufüllen sucht.

Was können wir aber mit einem „ökonomischen Wert“ anfangen, der gleichzeitig Gebrauchswert und Tauschwert, gleichzeitig durch den Arbeitsaufwand wie durch den Arbeitslohn bestimmter „Arbeitswert“ ist? Wie eine Geschichtsauffassung hat sich eine Werttheorie in der Praxis zu erproben, in ihrer Anwendung. Die Bernsteinsche Werttheorie, was immer sie sein mag, tritt auf als eine Abänderung oder Erweiterung der Marxschen. Aber mit dieser hängt auf das innigste die ganze Auffassung der modernen Produktionsweise zusammen, die Marx entwickelt hat: Diese ganze Auffassung wird in ihrer bisherigen Form hinfällig und bedarf der Korrektur, wenn die Marxsche Werttheorie eine Abänderung erfährt. Die Lehre vom Mehrwert und Profit, die Auffassung des Kapitals und seines Verhältnisses zum Proletariat, alles muss sich total ändern, wenn die grundlegende Werttheorie sich ändert. Das sieht Bernstein jedoch nicht an. Er macht noch einige Bemerkungen über Mehrwert und Mehrprodukt, lässt aber alles beim Alten, hantiert mit den alten marxistischen Auffassungen vom Kapital weiter, als ob seine Bedenken gegen die Werttheorie gar nicht geäußert worden wären. Er spricht der Böhm-Bawerkschen Werttheorie eine gewisse Berechtigung zu. Hält er auch die Böhm-Bawerksche Theorie des Kapitals und des Kapitalzinses für berechtigt, oder mit der Marxschen Theorie vereinbar?

Darüber erfahren wir nichts. Seine weiteren ökonomischen Auseinandersetzungen stehen in gar keiner Beziehung zu seiner Kritik der Werttheorie, an der wir deshalb auch ganz ruhig hätten vorbeigehen können, wenn nicht das ganze Rudel Anti-Marxisten in ein Freudengeheul darüber ausgebrochen wäre, dass ein Marxist selbst den Bankrott der Marxschen Werttheorie proklamiert.

Das hat Bernstein nun nicht getan. Er hat bloß gezeigt, dass er nicht mehr recht weiß, was er mit ihr anfangen soll. Er findet sie unfertig und des Ausbaus bedürftig; er sucht sie aber nicht im Geiste ihres Begründers weiter zu entwickeln, sondern will ihre Lücken schließen durch Einfügung von Anschauungen, die dem Wesen der Theorie fremd, ja feindlich gegenüberstehen, die ersonnen wurden zur Überwindung der Theorie und die mit ihr in einen organischen Zusammenhang nicht gebracht werden können. Mit diesen Versuchen wird Bernstein bei den Grenznutzentheoretikern ebenso wenig Anklang finden wie bei den Marxisten. Nicht der Theoretiker, der Zweifler ist es, den sie in ihm begrüßen.

Etwas Positives hat Bernstein als Kritiker der Werttheorie ebenso wenig zu Tage gefördert wie als Kritiker der materialistischen Geschichtsauffassung. Sein „Fortschritt“ über Marx hinaus besteht darin, dass er an Stelle der Einheitlichkeit der Auffassung den Eklektizismus setzt, den er selbst preist als die „Rebellion des nüchternen Verstandes gegen die jeder Doktrin innewohnende Neigung, den Gedanken in spanische Stiefel einzuschnüren“.

Wenn Bernstein die Geschichte der geistigen Entwicklung sich vergegenwärtigt, dann wird er finden, dass alle die großen Rebellen gegen die Einschnürung des Geistes in spanische Stiefel nichts weniger waren als Eklektiker, dass das Streben nach Einheitlichkeit bei ihnen ebenso groß war wie das nach Selbständigkeit. Der Eklektiker dagegen ist viel zu nüchtern, um ein Rebell zu sein. Er ärgert sich wohl mitunter und kann ganz fuchsteufelswild werden über die Unbequemlichkeiten, die das Streben nach einheitlicher Auffassung der Dinge mit sich bringt. Aber man zeige uns den Eklektiker in der Republik der Geister, der den Namen eines Rebellen verdient. Wenn ich eine höfliche Verbeugung vor Marx ausgleiche durch eine höfliche Verbeugung vor Böhm-Bawerk, so ist das noch lange keine Rebellion!

Dabei aber bezeichnet es Bernstein als die Ausgabe der Nachfolger von Marx und Engels, „wieder Einheit in die Theorie zu bringen“.

Es lebe die eklektische Einheit!

Ich will gerne zugeben, dass dieser Stiefel des Gedankens kein spanischer ist.



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012