Karl Kautsky

Die Sozialdemokratie
und die katholische Kirche

I. Religion und Klerus

Die Redaktion des Mouvement socialiste hat neben anderen Parteigenossen auch mich ersucht, ihren Lesern die Stellung der deutschen Sozialdemokratie bei einem Konflikt zwischen Staat und Kirche auseinanderzusetzen, da unter den französischen Sozialisten selbst darüber Meinungsverschiedenheiten bestehen und es für sie von Wichtigkeit wäre, angesichts des jetzigen Kampfes gegen die Kongregationen (Orden) in Frankreich die Anschauungen der deutschen Bruderpartei darüber kennen zu lernen.

Die Frage ist aber auch für uns in Deutschland selbst von Interesse, wie erst wieder die Verhandlungen des Münchener Parteitags über die Ausführungen Welckers bewiesen haben. Der Kampf gegen das Zentrum ist die wichtigste unserer nächsten politischen Aufgaben. Dieses wird versuchen, die Kirche gegen uns mobil zu machen, deren Einfluss auf die Massen für sich auszunutzen.

Und nicht bloß in Frankreich und Deutschland, sondern auch in Belgien, Holland, Österreich, Spanien ist der Einfluss der Kirche im Wachsen, und überall tritt sie dem kämpfenden Proletariat feindselig entgegen. Da ist eine erneute Untersuchung des Verhältnisses zwischen Sozialdemokratie und Kirche nicht überflüssig.

Diese Untersuchung wollen wir hier auf die katholische Kirche beschränken. Für die protestantischen Kirchen gestaltet sich das Problem etwas anders, wobei wieder ein Unterschied zu machen ist zwischen dem Staatskirchentum, wie es sich namentlich in Deutschland gestaltet hat, und den demokratischen Sekten, die sich am machtvollsten in den angelsächsischen Staaten entwickelt haben. Von alledem müssen wir hier absehen, wollen wir nicht die Untersuchung zu sehr komplizieren.

Man kann aber nicht über die Kirche sprechen, ohne sich klar zu sein darüber, was man unter Religion versteht. Das ist nicht so einfach. Der Begriff der Religion ist ein sehr unbestimmter und wechselnder, die Zahl ihrer Definitionen ist Legion. Es geht ihr da, wie jeder komplizierten gesellschaftlichen Erscheinung, zum Beispiel der Revolution.

Man kann indes alle die verschiedenen Definitionen der Religion auf zwei bestimmte Typen zurückführen, die beide nur zu oft miteinander verwechselt werden, von denen aber die eine die andere ausschließt. Schon Schiller hat diese beiden Typen gekennzeichnet in dem bekannten Verse:

„Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
Die du mir nennst. — Und warum keine? aus Religion.“

Auf der einen Seite bezeichnet man mit Religion einen individuellen Gemütszustand, eine Erhebung der Persönlichkeit über ihre Augenblicksinteressen hinaus; eine Art ethischen, überschwenglichen Idealismus. Auf der andern Seite versteht man unter Religion eine historische Massenerscheinung, ein Weltbild, zu dem die Massen nicht durch eigene Prüfung kommen, sondern das sie von einer über ihnen stehenden Autorität gläubig hinnehmen und zur Norm ihres Denkens und Treibens machen. Göhre meinte freilich jüngst in einem Artikel über „Christentum und materialistische Geschichtsauffassung“, die Religion in letzterem Sinne stehe in vollem Gegensatz „zu dem eigentlichen und wahren Wesen der Religion“, aber er weiß diese „uneigentliche“ und „unwahre“ Religion auch nicht anders zu nennen als „Religion“. Dass zwei so verschiedene Begriffe mit demselben Namen bezeichnet werden, rührt daher, dass der menschliche Geist sich gern einer List bedient, wenn er in die unangenehme Lage kommt, eine Anschauung oder Einrichtung nicht mehr als richtig anerkennen zu können, an der doch sein Gemütsleben mit allen Fasern hängt. Er beruhigt dann sein Gemüt dadurch, dass er auf die neue Anschauung oder Einrichtung, durch die er die alte verdrängt, den Namen dieser überträgt und sie nur als eine reinere und höhere Erscheinungsform ihrer Vorgängerin betrachtet. Das ist für das Gemüt sehr wohltuend, aber die wissenschaftliche Klarheit wird dabei nicht gefördert, denn unwillkürlich laufen die beiden ganz verschiedenen Begriffe durcheinander.

Die Religion als Herzenssache des Einzelnen und daher als Privatsache und die historisch gewordenen Massenreligionen, die ein gesellschaftliches Produkt darstellen, sind nicht bloß voneinander sehr verschieden, sie haben sich auch nur zu oft sehr schlecht vertragen, denn während die eine keine andre Richtschnur ihres ethischen und metaphysischen Empfindens anerkennt, als das eigene Gewissen, fordert die andre die Unterwerfung aller Gewissen unter eine gesellschaftliche Autorität, die übermenschlichen Ursprung für sich in Anspruch nimmt.

Die Bildung einer solchen Autorität, das ist die soziale Vorbedingung einer jeden Massenreligion — jener Art Religion, die hier allein für uns in Frage kommt. Bei den urwüchsigen Naturreligionen bildet diese Autorität die Gesamtheit. Der Einzelne war nichts außerhalb seiner Gens oder seiner Stammesgemeinschaft. Ihr Denken beherrschte ihn vollkommen, dieses gewohnheitsmäßige Denken bot ihm die festesten, unverbrüchlichsten Regeln und Anschauungen in der Sitte, im Gewohnheitsrecht, wie in der Gewohnheitsreligion.

Ganz anders sind die Religionen, die aus dem Zerfall, der alten Gesellschaft hervorgehen. Stamm, Gens, Gemeinde, alles, was dem Einzelnen Schutz geboten, zerfällt; er sieht sich allein in einer ungeheuren Gesellschaft, einer Gesellschaft voll Elend und Not, die mit raschen Schritten ihrer Auflösung entgegengeht. Angstvoll sucht er nach einem neuen Halt, nach einem Erlöser; kleinmütig und verzagt demütigt er sich vor jeder neuen Macht und ist geneigt, sie für übermenschlich, für göttlich zu halten, denn aus dem allgemeinen Verfall kann ihn gewöhnliche Menschenkraft nicht mehr retten. Ohne Zaudern erweist er den Cäsaren göttliche Ehren und glaubt er an den göttlichen Ursprung einer neuen Gemeinschaft, die selbstbewusst und unüberwindlich inmitten der, allgemeinen Dekadenz vorwärts schreitet. Ohne Prüfung nimmt er ihre Lehren als seinen Glauben an und unterwirft er sich ihren Lehrern.

Die alten Naturreligionen waren demokratisch; sie entsprangen dem allgemeinen Bewusstsein und hatten in ihren Anfängen keine besondere Priesterkaste; jedes einzelne Volksmitglied war selbst ein Stück der Autorität, die den religiösen Glauben erzeugte und verbreitete. Sie waren daher auch national. Jene Religionen dagegen, die aus dem Verfall der alten Gesellschaft hervorgehen, sind nur in ihren Anfängen demokratisch, solange sie außerhalb der Gesellschaft stehen und nicht auf sie wirken. Sie werden naturgemäß aristokratisch, sobald sie sich ausdehnen, sie spalten sich in zwei Klassen — Hilflose und Helfende, Schüler und Lehrer, Weltliche und Geistliche. Und sie sind international.

Aber neben diesen allgemeinen gesellschaftlichen Ursachen der Autorität des Klerus in der Kirche gibt es auch solche direkt ökonomischen Ursprungs. Die Zeit, in der das Christentum entstand, war nicht bloß eine Zeit des Verfalls aller überlieferten gesellschaftlichen Organisationen und Mächte, sondern auch eine Zeit weitverbreiteter und rasch fortschreitender Massenarmut. Die christlichen Gemeinden waren zunächst Organisationen, die ihr zu steuern suchten durch leihen Kommunismus, der allerdings ein anderer war als der der modernen Sozialdemokratie. Es ist ja schon oft darauf hingewiesen worden, dass das Proletariat der römischen Kaiserzeit kein Lohnproletariat, sondern ein Lumpenproletariat war, und dass Handwerk und Bauernwirtschaft noch die vorwiegenden Arten der Produktion bildeten; dementsprechend konnte der Kommunismus nicht einer des Produzierens, sondern nur einer des Genießens sein; er wirkte durch das Verteilen der Produkte, nicht durch das Zusammenfassen der Produktionsmittel. Es ist hier nicht der Ort, zu zeigen, dass der Kommunismus des Genießens als allgemeine dauernde Einrichtung der gesamten Gesellschaft unmöglich ist. Es handelt sich hier nur darum, die sozialen Tendenzen der Kirche kurz zu kennzeichnen.

Der Kommunismus des Genießens bedeutet, streng durchgeführt, die Gemeinsamkeit des Haushaltes, die Verwandlung der Gesellschaft in eine Familie. Die urchristlichen Gemeinden mögen diesem Ideal nachgekommen sein, sie mussten sich um so mehr davon entfernen, je größer sie wurden.

Ein gemeinsamer Haushalt für alle Mitglieder der Kirche wurde unmöglich, sobald diese eine gewisse Ausdehnung erlangt hatte. Nur in zwei Formen konnte sich die Tendenz des urchristlichen Kommunismus in der Praxis behaupten: Man machte Ernst mit dem kommunistischen Haushalt, führte ihn streng durch, unter Aufhebung von Ehe und Einzelfamilie, aber nur für einen kleinen Kreis von Auserwählten, die als besonders Heilige der Masse der am Privateigentum hängenden Bevölkerung gegenüber traten. Solche kommunistische Haushaltungen waren die Klöster. Sie schlossen das Privateigentum für ihre einzelnen Mitglieder aus, das hinderte aber nicht, dass jede derartige Gesellschaft gesellschaftliches Eigentum erwarb, das um so rascher anwuchs, als es nicht dem Lose des Privateigentums verfiel, das vermöge des Erbrechts von Zeit zu Zeit immer wieder zerstückelt wird.

So wurde der klösterliche Kommunismus gerade ein Mittel, neue Zentren zur Aufsaugung und Anhäufung von Reichtümern zu bilden. Der christliche Kommunismus wurde in dieser Form eine Grundlage neuer Ungleichheit.

Daneben entwickelte sich eine zweite, allgemeinere Abänderung des urchristlichen Kommunismus. Ursprünglich hatte man von jedem Angehörigen der Gemeinde verlangt, er solle alles verkaufen, was er hatte und es den Gemeindevorstehern bringen, die es den Bedürftigen zukommen ließen oder für Gemeindezwecke verwendeten. Aber die allgemeine Durchführung dieser Forderung hätte die gesamte Gesellschaft ruiniert, denn das hätte geheißen alle Produktionsmittel in Konsummittel verwandeln, den Fortgang der Produktion, damit aber die Gesellschaft, unmöglich machen. Es drängte sich daher in der Praxis von selbst bald die Milderung auf, dass der Besitzende nicht seinen ganzen Besitz, sondern nur den Überschuss seines Einkommens über seine eigenen Bedürfnisse hinaus ablieferte. Die Vorsteher der christlichen Gemeinden aber sahen nun bald ihre Aufgabe nicht mehr bloß darin, die Reichen anzutreiben, ihr Gut den Armen zu spenden und jeden für einen Dieb zu erklären, der damit zurück hielt, sondern auch darin, das Verlangen der Armen nach dem Gute der Reichen zu zähmen und ihre sündhafte Begehrlichkeit einzudämmen. Das Recht der Armen auf das Gut der Reichen wurde zu einem Almosen; die Organisation der christlichen Gemeinde, die Kirche, war es aber, die dieses Almosen vermittelte, die den Armenfonds verwaltete.

Den Gegensatz zwischen arm und reich konnte also die Kirche nicht aufheben, wohl aber entwickelte sie selbst einen neuen gesellschaftlichen Gegensatz. Ursprünglich war die Kirche demokratisch organisiert; ihre Beamten wurden von den Gemeindemitgliedern gewählt. Aber in dem Maße, wie die Ausdehnung der Kirche und ihr Vermögen wuchs, wuchs auch die Unabhängigkeit der Kirchenbeamten, der Kleriker, von der Gemeinde. Die auf Almosen angewiesenen Lumpenproletarier wurden ihnen immer untertäniger, durch diese konnte man aber auch die besitzenden Gemeindemitglieder in Schach halten. Die einen wurden gegen die andern ausgespielt, die Gewinner waren stets die Kleriker. Neben dem Vermögen der Klöster wuchs das Vermögen der Kirche, und die Organisation der Weltgeistlichkeit wurde eine Herrschaftsorganisation. Vergeblich suchten die römischen Kaiser sie zu vernichten; sie war gesellschaftlich notwendig als das einzige, wenn auch sehr unvollkommene und sehr kostspielige Mittel, dem ungeheuren Pauperismus zu steuern und die Gesellschaft vor dem Verfall zu bewahren; die römischen Kaiser hatten der Kirche keine Organisation entgegenzusetzen, die deren Funktionen übernommen hätte, sie mussten vor ihr die Waffen strecken und hatten bald nur noch die Wahl, von ihr weggefegt zu werden oder die Herrschaft mit ihr zu teilen. Es war nicht die Erhabenheit der christlichen Lehre, die Konstantin zum Christen machte, sondern die Verwendbarkeit der Kirche als Herrschaftsorganisation.

In eine neue soziale Atmosphäre gelangte die Christenheit durch die Völkerwanderung, den Einbruch der germanischen Völker. Denen war jede Dekadenz und jede Servilität fremd. Auch die Massenarmut war bei ihnen nicht entwickelt. Sie bedurften weder eines sittlichen, noch eines ökonomischen Halts außerhalb ihrer demokratisch-kommunistischen Organisationen, der Sippen und Markgenossenschaften. Trotzig und kühn, verlangten sie nicht nach einem Erlöser, sondern fühlten sie die Kraft in sich, den Erlöser zu erlösen. Als ein germanischer Fürst vom Kreuzestod Christi hörte, rief er aus: „ Wär' ich nur mit meinen Kriegern dabei gewesen! Wir hätten seine Peiniger schön zugerichtet!“

Trotzdem mussten auch sie sich, wenn auch mit vielem Widerstreben, der Herrschaft der christlichen Priester beugen. Wohl bedeutete die Kultur des Christentums, da es einem Zustand des Verkommens entsprang, einen gewaltigen Rückschritt gegenüber der Blütezeit der Antike; seine Wissenschaft, seine Kunst, seine Wirtschaft waren gleich dürftig im Verhältnis zu der des überwundenen romanisch-hellenischen Heidentums. Aber sie standen immer noch hoch über der germanischen Barbarei. Deren rohe Kraft musste sich vor der überlegenen Kultur des römischen Glaubens und seiner Priester beugen. Diese herrschten über das Germanentum dank seiner Unwissenheit, wie sie über die Masse des romanischen Kulturkreises dank seiner sittlichen Verkommenheit und ökonomischen Armut geherrscht hatten. In den gewaltigen Kämpfen der Völkerwanderung und ihrer Ausläufer konnten nur jene germanischen Stämme sich behaupten, die sich vor der römischen Kirche beugten, durch sie kultiviert und zu festen staatlichen Gebilden zusammengeschweißt wurden. Die der römischen Kirche feindlichen Stämme wurden zerrieben, überwunden, aufgesogen. Sie alle wurden überragt von den Franken, die, unter den Germanen jene Rolle spielten, welche Konstantin unter den Cäsaren gespielt: Sie waren die Ersten, die die sieghafte Macht der Kirche des Römertums erkannten und sich zunutze machten.

Dies also sind die hauptsächlichsten Wurzeln der Macht des Klerus; neben seinen ökonomischen Funktionen als Wohltäter der Armen, neben dem daraus erwachsenden Reichtum und seiner ökonomischen Macht ist es die Haltlosigkeit der Massen hier, ihre Unwissenheit dort, die ihm seine Kraft verleiht.

Diesen Charakter hat der Klerus seitdem weiter entwickelt. Er musste zumeist seine Herrschaft mit anderen Klassen teilen, aber im Zeitalter der Kreuzzüge entwickelte sich die im Papsttum zentralisierte katholische Kirche zum Beherrscher der Herrscher Europas, zum höchsten der Herrscher in der abendländischen Christenheit.

Seitdem sind dem Klerus die Flügel, von der Reformation an, erheblich beschnitten worden, aber sein Charakter ist der gleiche geblieben. In einem, allerdings sehr wesentlichen Punkte hat er sich freilich geändert: Der Höhepunkt seiner Macht und seines Reichtums liegt in der Vergangenheit, dort liegen daher auch seine Ideale; war sein Streben von der Zeit des Untergangs des römischen Reiches bis in die Zeit der Kreuzzüge hinein ein fortschrittliches, die gesellschaftliche Entwicklung förderndes, so wird es in den letzten Jahrhunderten immer mehr reaktionär. Wohl weiß er sich zur Not mit modernen Zuständen abzufinden, aber jedes Streben nach Wiederbelebung mittelalterlicher Zustände, jede Klasse, die ökonomisch überholt ist und sich der sozialen Entwicklung widersetzt, sie alle finden die energische Unterstützung der katholischen Geistlichkeit — womit keineswegs ein Loblied auf die protestantischen Landeskirchen gesungen werden soll.

Sie ist der abgesagte Feind jeder revolutionären Bewegung; wohl macht sie auch vor der siegreichen Revolution ihre Verbeugung, aber für eine aufstrebende, kämpfende revolutionäre Klasse hat sie nichts bereit, als alle Mittel der Bekämpfung. Jedes Streben nach Aufhebung der Ausbeutung und der Klassenunterschiede ist ihr aufs Tiefste verhasst. Die Überbleibsel des eigenartigen Kommunismus ihrer Anfänge, die verschiedenen Formen von Armen- und Krankenpflege und Jugenderziehung, dienen ihr nur dazu, breite Massen der Besitzlosen ihrer Klassenbewegung abwendig zu machen.

Dieser Gegensatz zwischen Kirche und Sozialdemokratie besagt keineswegs, dass es unmöglich sei, gleichzeitig gläubiger Christ und Sozialdemokrat zu sein. Das Christentum ist ein Produkt so zahlreicher Faktoren, es hat so viele gesellschaftliche Wandlungen durchgemacht und sich ihnen angepasst, dass der Begriff eines Christen ein höchst vager geworden ist und ebenso wie der Begriff der Religion die gegensätzlichsten Auffassungen verträgt. Man kann ihn also auch in dem Sinne nehmen, in dem er dem sozialistischen Streben entspricht. Ja, dem Urchristentum steht die sozialistische Bewegung näher als irgendeine andere moderne Bewegung, denn es ist wie sie proletarischen Ursprungs; freilich war es das hilflose, bettelnde, nicht das trotzige, kämpfende Proletariat, das ihm seinen ersten Stempel aufprägte, aber immerhin, das proletarische Streben nach Aufhebung der Klassenunterschiede ist mit der christlichen Lehre der Evangelien wohl vereinbar.

Man kann also sich als ein guter Christ fühlen und doch die wärmste Teilnahme für den Klassenkampf des Proletariats empfinden. Noch mehr gilt das für die Millionen derjenigen, die, wie heute die Masse der Christen überhaupt, nur gewohnheitsmäßig Mitglieder ihrer Kirche sind, ohne viel über sie nachgedacht zu haben. Die Organisation des kämpfenden Proletariats, die Sozialdemokratie, hat nicht die geringste Ursache, solche Elemente von sich fernzuhalten, wenn sie imstande und gewillt sind, den Klassenkampf in unserer Weise für uns zu kämpfen.

Unsere französischen Genossen werden dieser Auffassung opponieren. In Frankreich herrscht in der Tat zwischen dem katholischen Klerus und den aufstrebenden revolutionären Schichten seit dem achtzehnten Jahrhundert eine so grimmige Fehde, dass es dort unmöglich sein dürfte, christlich zu empfinden und gleichzeitig Sozialist zu sein. Aber das gilt nicht für alle Länder.

In den Vereinigten Staaten zum Beispiel gehören augenblicklich zwei katholische Geistliche, die Patres McGrady und Hagerty, zu den eifrigsten Agitatoren der Sozialdemokratie. Sie hatten einen Vorgänger in McGlynn, der als katholischer Geistlicher 1887 mit Henry George und den New Yorker Sozialisten zusammen für eine Arbeiterpartei agitierte, ohne seinem Glauben untreu zu werden.

Aber der katholische Klerus, als Massenorganisation im Gegensatz zum Einzelnen, denkt darüber anders. Wo es unmöglich gemacht ist, gleichzeitig ein guter Christ und ein guter Sozialdemokrat zu sein, da liegt die Schuld daran nicht an der Sozialdemokratie, sondern an der Geistlichkeit. Mag diese zeitweise Gründe haben, ein Auge zuzudrücken, wenn einzelne ihrer Schäflein oder sogar mancher ihrer Hirten sich am Klassenkampf des Proletariats beteiligen, die klerikalen Interessen und Traditionen stehen in zu schroffem Widerspruch zur Emanzipation des Proletariats, als dass nicht die kirchliche Organisation früher oder später jedem ernsthaften Versuch ihrer Mitglieder, am Klassenkampf des Proletariats; teilzunehmen, kraftvoll entgegenträte, auch wenn diese Teilnahme; außerhalb der Sozialdemokratie unter völliger Anpassung an die kirchlichen Formen selbst geschieht. Auch wo der sogenannte christliche Sozialismus ernst gemeint, kein demagogischer Schwindel ist, kann er nie eine wirksame Kraft zur Befreiung des Proletariats werden.

Das gilt selbst dort, wo ihm die Verhältnisse am günstigsten, in den Vereinigten Staaten, wie der Fall McGlynns bewiesen hat. Seine Agitation bracht ihm die Exkommunizierung durch den Papst. McGrady und Hagerty sind noch nicht so weit, aber die heftigen Angriffe der katholischen Presse Amerikas auf sie lassen nichts besseres erwarten. Auch sie werden bald zu wählen haben zwischen der Kirche und dem Sozialismus.

Trotzdem also die Sozialdemokratie jede religiöse Überzeugung achtet und für die Privatsache jedes Einzelnen erklärt, und trotzdem die Lehren des Christentums der Evangelien mit unseren Zielen vereinbar sind, stößt sie doch in ihrem Kampfe stets auf die Gegnerschaff jener Autorität, die die katholische Religion als Massenreligion beherrscht, des Klerus.

In dem gleichen Gegensatz steht aber dieser zu der liberalem Bourgeoisie. Und gerade jetzt leben wir in einer Zeit, in der die. Macht des Klerus im Wachsen ist. Liegt darin nicht ein zwingender Grund, uns aufs engste an die liberale Bourgeoisie, anzuschließen, um gemeinsam mit ihr das Vordringen der klerikalen Herrschaft abzuwehren, wie es jüngst ein Teil der französischen Sozialisten getan? Bietet nicht die Kirchenpolitik einen der wichtigsten jener Berührungspunkte von Liberalismus und Sozialismus, nach denen einige von uns so sehnsüchtig auslugen?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht schon damit gegeben, dass man die Gemeinsamkeit eines Gegensatzes konstatiert. Ein Gegensatz kann durch die verschiedensten Ursachen hervorgerufen werden und kann daher die verschiedensten Richtungen der Bestrebungen nach seiner Überwindung hervorrufen. Haben wir nicht mit den feudalen Agrariern den Gegensatz gegen das industrielle Kapital gemein? Die Disraeli und Rodbertus konnten aus der Gemeinsamkeit dieses Gegensatzes die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen die Kapitalistenklasse ableiten. Die Wirklichkeit ist über diese Illusion längst zur Tagesordnung übergegangen.

Es genügt also nicht, die Tatsache unseres gemeinsamen Gegensatzes zur Herrschaft des Klerikalismus festzustellen. Wir müssen uns auch klar werden über die Gründe, die den Liberalismus zum Gegner des Klerus machen, und die Methoden, durch die er ihn bekämpft.



Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012